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Konkordanzen zu Cod. 457/II: Die drei Hauptquellen und Böhmen

Reinhard Strohm

Dass der Innsbrucker Cantionarius schon in seinem von Hand 1 geschriebenen Hauptteil eine Anthologie aus verschiedenen Quellen ist und nicht eine glatte Abschrift einer einzigen Vorlage, wird unter anderem durch graphische Variationen in der Musiknotation nahegelegt, z.B. in der Behandlung der Virga und Apostropha.[30] In vielen Fällen von „Konkordanz“ (» Abb. Inhaltsverzeichnis) variieren die Fassungen verschiedener Quellen erheblich. Hand 1 dürfte die Fassungen der Vorlagen zum Teil verändert oder neue Versionen eingeführt haben. Oftmals sind ohnedies nur die Texte konkordant. Eigeninitiative der Musiker von Cod. 457/II ist besonders wahrscheinlich bei den 16 Stücken des Cantionarius ohne Konkordanzen (» Kap. Überlieferung).        

Die Quelle mit den meisten Konkordanzen zu Cod. 457/II ist die Sammlung CZ-Pu V H 11; wie der Hauptteil von Cod. 457/II gehört sie dem späten 14. Jahrhundert an. Sie stammt aus einem Kollegium der Universität Prag, offenbar mit Verbindung zu Augustiner-Chorherren.[31] In beiden Handschriften erscheinen die zweistimmigen Lesungen Nr. 6-8 und die Serien der Lamentationen (Nr. 44) in derselben Reihenfolge direkt hintereinander, und einige Antiphontropen (Nr. 55-58) stehen ebenfalls als geschlossene Gruppe in beiden Quellen beisammen. Nr. 44, 50, 56, 57 und 65 sind in der Konkordanzquelle V H 11 zweimal notiert. Unikale Konkordanzen sind Nr. 27, 44 und 65. Offenbar besteht ein enger Zusammenhang zwischen den beiden Quellen. Besuchte ein Prager Kleriker den Entstehungsort von Cod. 457/II oder war umgekehrt jemand von dort nach Prag gereist? Es wäre so ungewöhnlich nicht, denn auch der Mönch von Salzburg verbrachte vielleicht einige Zeit in der kaiserlichen Residenzstadt.[32]

Von den anderen Quellen steht der Seckauer Cantionarius A-Gu Cod. 756 (1345; Augustiner-Chorherren) dem Innsbrucker nach Zahl der Konkordanzen am nächsten.[33] Viele gemeinsame Stücke sind textlich schon vor dem 14. Jahrhundert belegt. Die anderen musikalischen Quellen sind meist jünger als die beiden Cantionarien. Ein musikalischer Zusammenhang zwischen diesen würde mündlich vermittelt sein, da Seckau in linienlosen Neumen notiert ist; auch kann es gemeinsame (lokale?) Präferenzen für bestimmte Texte gegeben haben.

Die Konkordanzenmenge zwischen den genannten drei Quellen übertrifft alle anderen Verbindungen bei weitem (» Abb. Troparien).[34] Die seltensten Stücke und unikalen Konkordanzen (Stücke, die in nur einer anderen Quelle vorhanden sind) führen besonders oft zu böhmischen Quellen, z.B. bei Nr. 3, 5, 9, 12, 27, 31, 44, 45, 50, 56, 57, 58. Eine der vielen Musikhandschriften, die im 14.-15. Jahrhundert von Böhmen nach Österreich gelangten, ist Reichersberg Cod. 60,[35] der mit Cod. 457/II die Serie Nr. 6-9 und darin die unikale Konkordanz Nr. 9 gemeinsam hat. Ferner gibt es fünf Konkordanzen mit der böhmischen Zisterzienser-Handschrift CZ-VB Ms. 42 („Hohenfurter Cantionale“, 1410), die gerade wegen der verschiedenen Ordensherkunft beachtenswert sind.[36]

Stenzl zufolge sind die marianischen Antiphon-Tropen wegen ihrer frühen breiten Streuung in der Mehrzahl nicht „böhmische Lieder“.[37] Dies betrifft wohl die Nrn. 49, 51, 53, 55, 59 und 60, sowie vielleicht Nr. 48, 52, 54 und 61 (Unikate in Cod. 457). Ausschließlich in böhmischen Quellen vor 1400 stehen jedoch Nr. 50, 56, 57, 58 und 65.

[30] Zingerle 1925, 33-37.

[31] Von Fischer-Lütolf 1972 (RISM B IV.3), 239. Zum Verhältnis der beiden Quellen vgl. Ciglbauer 2017, 70-84. „A-Iu 457 scheint … die süddeutsche augustinische Tradition vor Záviš widerzuspiegeln” (S. 71); „1378” passt als mutmaßliche Datierung von CZ-Pu V H 11 (S. 75); in V H 11 wurde vermutlich süddeutsches Material weiter bearbeitet. Ich bin Dr. Ciglbauer für Einsicht in seine Dissertation und weitere Hinweise dankbar.

[33] Stenzl 2000, 177, sieht „kein besonderes Nahverhältnis“ mit dem Seckauer Cantionarius. „Nicolai solemnia“ (Nr. 24) ist jedoch keine unikale Konkordanz, sondern war damals weit überliefert, z.B. in GB-Ob lat.liturg.d.5 aus Hauterive, Schweiz (13. Jahrhundert): vgl. Reaney 1966, 539-540, Nr. 1. 

[34] Vgl. Stenzl 2000, 174f. Die Konkordanzliste ist nicht vollständig, z.B. werden Fragmente des 14. Jahrhunderts und manche späte Quellen übergangen.

[35] Celestini 1995. Die böhmische Herkunft der Quelle wird bei Stenzl 2000, 185, nicht erwähnt (d.h. bezweifelt?).

[36] Stenzl 2000, 183, betont die Überlieferungsunterschiede. In der Tat bietet CZ-VB 42 spätere, z.T. mensural notierte Abwandlungen.

[37] Stenzl 2000, 178.