Instrumentale Musikpraxis im Lebensbereich Augustin Schubingers (ca. 1460–1531/32)
Instrumentale Musikpraxis: Vorbemerkung
Der Essay H. Instrumentale Musikpraxis von Markus Grassl bildet zusammen mit » G. Augustin Schubinger (Markus Grassl) eine erweiterte Künstlerbiografie dieses bedeutenden Musikers, der jahrzehntelang in habsburgischen Diensten stand. Der Essay ergänzt sich ferner mit » I. Instrumentalkünstler am Hof Maximilians I. (Martin Kirnbauer) sowie » H. Minstrels und Instrument-Makers in Maximilians Realm (Helen Coffey) zu einer umfassenderen Darstellung der Instrumentalmusik Zentraleuropas um 1500.
„mit Pusaunen vnd andern Instrumenten Musicalien der Ich dan yezo jn vbung bin“
Wie für einen professionellen Instrumentalisten seiner Zeit typisch, beherrschte Augustin Schubinger mehrere Instrumente. Das bestätigt er selbst mit seiner Bemerkung „mit Pusaunen vnd andern Instrumenten Musicalien der Ich dan yezo jn vbung bin“[1]. Dass dazu Zink und Laute zählten, steht dank einer Reihe von Quellen unzweifelhaft fest. Erinnert sei an Kaiser Maximilians Triumphzug, an Lalaings Reisebericht, die Dokumente vom burgundischen Hof und die Rechnungsbücher deutscher Städte, die von Schubinger als „joueur de lut et de cornet“, „lutinist“ oder „Zinkenblaser“ sprechen und die sich damit spezifischer, das betreffende Instrument eindeutig bezeichnender Begriffe bedienen (» G. Augustin Schubinger). Hingegen ist man bei anderen Titulierungen, die für Schubinger in den Quellen begegnen, mit dem notorischen Problem der zu dieser Zeit oft mehrdeutigen oder inkonsistenten Instrumententerminologie konfrontiert. So können sich die Ausdrücke „Pfeifer“ und „Trompeter“, die gelegentlich für Schubinger Verwendung finden,[2] auf jedwedes Instrument der Alta capella bzw. auf verschiedene Blechblasinstrumente, also nicht nur die Feld-, sondern auch die Zugtrompete oder die Posaune, beziehen. Beim Terminus „Posauner“ ist hingegen insofern zu unterscheiden, als diesem je nach Ort, Institution oder Quelle mal eine generische, mal eine spezifische Bedeutung zukommen kann. Insbesondere die Quellen der maximilianeischen Hofadministration meinen damit nicht immer nur die eigentliche Posaune, sondern alle zur Bläser-Alta gehörigen Instrumente einschließlich des Zinks.[3] Anders hingegen die Augsburger Baumeisterbücher. Hier wird seit 1487 regelmäßig einer der vier städtischen Musiker mit dem Zusatz „busaner“ hervor- und von den übrigen „Pfeifern“ abgehoben. Dies gilt für Schubinger[4] ebenso wie für seinen Nachfolger Baltasar Diettel[5] (1488, im ersten Jahr nach Schubingers Abgang, ist sogar explizit vom „neue[n] Busaner“ die Rede[6]). Auch die Florentiner Quellen tendieren zu einem präziseren Sprachgebrauch, indem üblicherweise zwischen dem (zum Teil etwas besser bezahlten) „trombone“ und den anderen „piffari“ unterschieden wird.[7] Folglich ist davon auszugehen, dass Schubinger sowohl im Augsburger Stadtpfeiferensemble als auch in der Florentiner Alta als Posaunist fungierte.
Ob Schubinger etwa im Zuge seiner Ausbildung außerdem die anderen zu einer Bläser-Alta gehörigen Instrumente, namentlich Schalmei und Pommer, erlernte bzw. spielte, ist direkt nicht nachweisbar, mit Blick auf den zeitgenössischen Standard professioneller Blasinstrumentalisten allerdings durchaus wahrscheinlich. (» Hörbsp. ♫ Missa La Spagna, Agnus Dei 1; Missa La Spagna, Agnus Dei 2; Missa La Spagna, Agnus Dei 3.)
Zudem deuten Indizien darauf hin, dass Schubingers Vater und sein Bruder Michel den Pommer spielten: Von Ulrich dem Älteren ist bekannt, dass er im Augsburger Stadtpfeiferensemble 1457 dem ausscheidenden „Scharpffhanns Bomharter“ nachfolgte, vermutlich also dessen Funktion als Pommerspieler übernahm.[8] Dasselbe dürfte für Michel gegolten haben, sollte dieser seine Tätigkeit als Augsburger Stadtpfeifer zwischen 1472 und 1476 in Vertretung seines Vaters ausgeübt haben.
Schubinger und der Zink
Von Schubinger als Zinkenist ist ausdrücklich erst in den Quellen nach seiner Zeit in Florenz die Rede. Daraus und aus der Tatsache, dass Giovanni Cellini, ein Florentiner piffaro zwischen 1480 und 1514, u. a. den Zink spielte und seinen (weitaus berühmteren) Sohn Benvenuto darin unterwies,[9] hat Keith Polk geschlossen, Schubinger könnte die Meisterschaft auf diesem Instrument während seines Italien-Aufenthalts erworben haben.[10] Zwar kann dies nicht definitiv ausgeschlossen werden, doch fasst man über die punktuelle Information zu den Cellinis hinaus die Gesamtheit der Nachweise für das frühe Auftreten des Zinks ins Auge, so zeichnet sich ab, dass das Instrument im deutschen Sprachraum bereits im ausgehenden Drittel des 15. Jahrhunderts Fuß fasste, während es in Italien anscheinend erst nach der Jahrhundertwende weitere Verbreitung zu finden begann.[11] ( » Instrumentenmuseum Zink). Vor diesem Hintergrund ist ebenso vorstellbar, dass Schubinger mit dem Zink schon in Augsburg in Berührung gekommen war (wenngleich dafür ein direktes Zeugnis fehlt).
Allem Anschein nach war der Zink aber dasjenige Instrument, auf dem Schubinger seit etwa 1500 in erster Linie brillierte (worauf noch heute sein Ruf als „the first truly famous virtuoso on the instrument [i.e. dem Zink]“[12] gründet). Dass sich ein Berufsmusiker vorrangig auf eines unter den von ihm beherrschten Instrumenten konzentrierte, ist im 15. Jahrhundert des öfteren zu beobachten. So liegen u. a. Hinweise dafür vor, dass innerhalb von Alta-Ensembles die einzelnen Spieler jeweils auf ein bestimmtes Instrument und damit auf eine bestimmte Stimmlage spezialisiert waren (so wie das auch bei Schubinger als dem Posaunisten der Augsburger und der Florentiner Bläsertruppe der Fall war). Zugleich ist freilich zu bedenken, dass der Eindruck, Schubingers bevorzugtes Instrument sei in späterer Zeit allein der Zink gewesen, auf markanten Quellen wie Lalaings Reisebeschreibung oder dem Triumphzug beruht, und damit auf Quellen, die sich auf das Musizieren in repräsentativen und öffentlichkeitswirksamen Zusammenhängen beziehen. Indes sprechen Zahlungsbelege aus Mecheln, Konstanz und Nürnberg aus den Jahren 1508 bis 1517 mehrfach von Schubinger als „lutinista domini Cesaris“, „luytslager vanden keyser“ etc.[13] Dass er offenbar weiterhin als Lautenspieler wahrgenommen wurde, legt eine anhaltende Aktivität auf diesem Instrument nahe. Möglicherweise hat er diese aber primär im informellen Rahmen entfaltet, sodass sie keinen Niederschlag in prominenten, sozusagen nach außen gerichteten Quellen fand.
Schubinger und die Laute
Dass ein Bläser auch Saiteninstrumente und dabei insbesondere die Laute beherrschte, war um 1500 durchaus nicht ungewöhnlich (und spiegelt eine allgemeine Entwicklung dieser Zeit wider, nämlich die tendenzielle Auflösung der Grenze zwischen dem Bereich der „lauten“ und jenem der „leisen“ Instrumente). Von einer Reihe von Musikern, darunter Schubingers Brüdern Michel und Ulrich dem Jüngeren oder Giovanni Cellini, ist bekannt, dass sie neben Blasinstrumenten auch Laute, Harfe und/oder „Viola“ spielten.[14]
Schubingers Lebenszeit deckt sich mit einer Phase, in der die Lautentechnik einem fundamentalen Wandel unterworfen war: dem Übergang vom Spiel mit einem Plektron hin zum Anreißen der Saiten mit den Fingerkuppen. Diese Neuerung beförderte die Etablierung der Laute als Soloinstrument, auf dem ein Einzelner mehrstimmige Sätze wiedergeben konnte.[15]. Bis dahin wurde die Laute typischerweise im Ensemble gespielt, seit ca. 1450 besonders in Kombination mit einem anderen „leisen“ Seiteninstrument, bevorzugt mit einer zweiten Laute. Klarerweise verdrängte die neue Praxis die ältere nicht schlagartig, sondern ist eine längere Übergangsperiode anzunehmen, während der beide Varianten nebeneinander bestanden. Indizien sprechen dafür, dass Schubinger (zumindest auch) die ältere Form des Lautenspiels pflegte. So zählte er unter Maximilians Lautenisten zusammen mit dem ebenfalls um 1460 geborenen Albrecht Morhanns zu einer älteren Generation. Von Morhanns ist bekannt, dass er noch im Ensemble auftrat, während die Lautenintavolierungen des um 1480 geborenen und seit 1503 bei Maximilian beschäftigten Adolf Blindhamer dann das neue, solistische Musizieren mehrstimmiger Sätze bezeugen.[16] Hinzu kommt, dass während der 1480er und 1490er Jahre immer wieder, nach 1500 noch gelegentlich, Lautenduos im Dienst Maximilians belegt sind.[17] So zeigt die „Musica süeß Meledey“ betitelte Darstellung des Triumphzugs die typische Kombination von kleiner und großer Laute (» I. Kap. „Musica süeß Meledey“: Instrumentalensembles). Auf ein Lautenduo, und zwar unter Beteiligung Schubingers, könnte nicht zuletzt hindeuten, wenn 1508 nicht nur er – wie erwähnt als „luytslager vanden keysere“ (Lautenist des Kaisers) apostrophiert – eine Zahlung der Stadt Mecheln empfing, sondern etwa gleichzeitig auch der mehrfach im Gefolge Maximilians und später am Hof Philipps des Schönen und Margaretes von Österreichs nachweisbare „Lenaert luytslager“.[18]
„Posaun vnd Zinckhen han wir gestelt zu dem Gesang“
Seit dem späteren 15. Jahrhundert erweiterten sich die höfischen und städtischen Alta-Ensembles um Instrumente wie Krummhörner, Blockflöten und Zinken.[19] Dass auch die Hofmusik Maximilians I. von diesem Trend erfasst wurde, ist allein schon am Triumphzug abzulesen, in dem auf den Musikwägen u. a. Krummhörner und Rauschpfeifen dargestellt werden, mit der Devise „Posaun vnd Zinckhen han wir gestelt zu dem Gesang“ (» Abb. Triumphzug Bläser).[20] Zu den bedeutendsten, weil nachhaltigsten Entwicklungen in der Ensemblebildung um 1500 zählt freilich die Formierung eines neuen Ensembletyps: der Kombination von Zinken und Posaunen. (» Hörbsp ♫Optime pastor.) Neu war nicht nur die Zusammenstellung an sich, sondern diesen Instrumenten wuchs auch eine neue Funktion zu, indem sie zur Kantorei, insbesondere bei der Realisierung von geistlicher Vokalpolyphonie bzw. im Rahmen der Liturgie, hinzutraten.
Die Frühgeschichte des Zinks und des Zink-Posaunenensembles lässt sich nicht lückenlos rekonstruieren. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass fast alle der frühesten Quellen, welche die Verbindung von Sängern mit Zink und Posaune bzw. deren Einsatz in der Liturgie bezeugen, von den habsburgischen Höfen oder aus deren Umfeld stammen.[21] Dazu zählen nicht nur die Darstellung der „Musica Canterey“ im Triumphzug, Antoine Lalaings Reisebeschreibung, die zitierten Nachrichten über Messen während Reichstagen und städtische Zahlungsbelege[22], sondern z. B. auch eine Äußerung über den Nürnberger Posaunisten Johannes Neuschl, der zwischen 1502 und 1517 wiederholt für Maximilian I. tätig war, und der dafür gerühmt wurde, dass er „humano concentui tube sonoritatem permiscet“[23] (dem Zusammenklingen der menschlichen Stimmen den Klang der ‚tuba‘ beimengt). Dass die habsburgischen Höfe, und damit auch Schubinger, eine führende, wenn nicht die führende Rolle bei der Entwicklung der neuen Praxis spielten, ist daher mehr als nur wahrscheinlich.
Wie die Quellen eindeutig erkennen lassen, musizierten Zinkenisten und Posaunisten simultan mit den Sängern, begleiteten diese also colla parte oder ersetzten fallweise vielleicht auch einzelne Vokalisten, sodass die betreffende Stimme dann rein instrumental erklang. (» Hörbsp. ♫ Mater digna Dei.) Darüberhinaus erlauben verschiedene Nachrichten – die nicht nur aus dem habsburgischen Kontext stammen – den Schluss, dass Bläserensembles um 1500 auch andere Aufgaben in der Liturgie übernahmen. So konnten sie zum Alternatim-Vortrag liturgischer Gesänge herangezogen werden, spielten also instrumentale, vermutlich auf der jeweiligen Choralmelodie beruhende Sätze im versweisen Wechsel mit den Sängern, oder sie steuerten Prä- und Postludien bei, die einzelne Gesänge oder längere Abschnitte des liturgischen Ablaufs einleiteten bzw. abschlossen.[24]
Auch wenn seit etwa 1500 am maximilianeischen Hof immer wieder eine Gruppe von vier bis fünf Posaunern nachgewiesen werden kann,[25] ist nicht davon auszugehen, dass aus Zinken und Posaunen stets ein ‚vollstimmiges‘ Ensemble gebildet wurde. Vielmehr ist auch mit ,reduzierten‘ Besetzungen von bloß ein oder zwei Bläsern zu rechnen, wie nicht zuletzt so bekannte Abbildungen zeigen wie die Darstellung der Kantorei ‚nur‘ mit Schubinger und Steudl im Triumphzug oder die Illustration im Musik-Kapitel des Weißkunig (» Abb. Weißkunig Blatt 33, in: » I. Instrumentalkünstler am Hof Maximilians I.), auf der links oben eine Gruppe von Sängern mit einem Zinkenspieler zu sehen ist.
Die im Triumphzug abgebildete Konstellation dürfte insofern nicht untypisch sein, als eine Reihe von Zeugnissen den Schluss nahelegt, dass Bläser-Duos in verschiedener – liturgischer, vor allem aber weltlicher – Verwendung verbreiteter waren, als es der um 1500 gegebene Standard von vierköpfigen Alta-Ensembles erscheinen lässt. Dies gilt für das Musikleben in Städten, von denen manche ohnehin nur über zwei Stadtpfeifer verfügten,[26] aber ebenso für die höfische Musikpraxis. Neben einer Zahlungen an Bläserpaare (und dabei gelegentlich auch an Schubinger[27]) deuten vor allem Bildquellen auf solche Duos hin. Dazu zählen u. a. die Darstellungen von Tanzszenen in dem von Maximilian I. beauftragten Turnierbuch Freydal. Zwar dominiert darin die Kombination von Flöte (bzw. Schwegel) und Trommel, je einmal werden die Tanzenden aber von Schalmei (oder Zink?) und Posaune, von Flöte und Posaune sowie von zwei Flöten begleitet.[28]
Musizieren im Instrumentalensemble
Zu Schubingers Zeit entsprang das auf Instrumenten Gespielte nach wie vor zu einem erheblichen Teil einer „schriftlosen Praxis“. Die Forschung hat mittlerweile recht genau rekonstruieren können, mittels welcher Verfahren Instrumentalensembles mehrstimmige Sätze aus dem Stegreif hervorbrachten.[29] Grundlage waren präexistente, den Musikern vertraute Melodien, und zwar je nach Anlass ein liturgischer Choralgesang, eine Liedmelodie, einer der für die Tanzmusik zur Verfügung stehenden sog. Tenores oder auch eine einzelne, aus einer mehrstimmigen Vokalkomposition extrahierte Stimme. Dieser cantus prius factus wurde in der Tenorlage, seit ca. 1500 vermehrt auch im Diskant, gespielt; dazu führten die anderen Instrumente Außen- bzw. Unterstimmen aus, wobei die Musiker standardisierten, die kontrapunktische Korrektheit des Satzes garantierenden Intervallfortschreitungen folgten und gleichzeitig die melodischen Linien mehr oder weniger mit oft ebenfalls formelhaften Wendungen figurativ bzw. ornamental anreicherten. Im hohen Maße war diese Art von „Improvisation“ also an Vorgaben, Modelle und Muster gebunden. Darüberhinaus wird man sich vorzustellen haben, dass das Musizierte gerade bei aufeinander eingespielten Ensembles durch Routine und Wiederholung zu einer gewissen Fixierung tendierte, ja unter Umständen in mehr oder weniger festgelegten Stücken bestand, die aus dem Gedächtnis reproduziert wurden. Insofern ist zumindest missverständlich, wenn – wie so oft in der Literatur – die instrumentale Praxis undifferenziert mit „Improvisation“ gleichgesetzt wird. Hinzu kommt, dass das schriftlose Ensemblespiel auf denselben satztechnischen Grundlagen beruhte wie die komponierte bzw. schriftlich fixierte Vokalmusik und besonders bei professionellen Instrumentalisten zu elaborierten Ergebnissen führen konnte, die sich nicht prinzipiell von komponierter Polyphonie unterschieden.
Diese Verbindung zwischen instrumentaler Praxis und Vokalkomposition ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines zweiten Bereichs instrumentalen Musizierens zu sehen: Seit etwa der Mitte des 15. Jahrhunderts wanderten mit ständig wachsender Intensität original vokale Stücke, besonders Chansons und Liedsätze, aber auch Motetten und Messensätze, in das Repertoire von Saiten- und Blasinstrumentalisten ein. Dabei war eine notengetreue Wiedergabe wohl eher die Ausnahme. Vielmehr ist mit Anpassungen an die technischen und klanglichen Bedingungen der Instrumente zu rechnen, weiterhin konnten Diminutionen, also Verzierungen, angebracht oder der originale Satz um neue Stimmen erweitert werden (wobei dieselben oder ähnliche Verfahren zur Anwendung kamen wie bei der Stegreifproduktion instrumentaler Sätze).[30]
Die Übernahme von Vokalpolyphonie in das Repertoire von Instrumentalensembles schuf die Voraussetzung für die erwähnte aufführungspraktische Innovation der Zeit um 1500 (und fand darin zugleich eine Fortsetzung): die Begleitung der Kantorei durch Zinken und Posaunen. Inwieweit die Bläser auch dabei jenen flexiblen Umgang mit den Werken pflegten wie bei rein instrumentalen Realisierungen, also etwa Verzierungen oder zusätzliche Stimmen ergänzten, ist nicht direkt belegt, aber durchaus vorstellbar (und eine in der heutigen Aufführungspraxis noch wenig genutzte Möglichkeit).
Textlose Kompositionen
Aus dem späteren 15. und frühen 16. Jahrhundert sind Quellen insbesondere aus Norditalien, teilweise aber auch aus dem deutschsprachigen Raum erhalten, die ein umfangreiches Korpus von Stücken in Mensuralnotation, aber ohne Text überliefern. Die ältere Forschung hat dazu geneigt, darin pauschal „Instrumentalmusik“ zu erblicken. Mittlerweile sind jedoch viele dieser Sätze als bloß textlos aufgezeichnete Chansons, Lieder, Motetten oder auch Ausschnitte aus Ordinariumsvertonungen identifiziert worden. Weiterhin wurde immer deutlicher, dass eine Aufzeichnung ohne Text nicht unbedingt eine instrumentale Ausführung bedeutet. Vielmehr liegen zahlreiche Zeugnisse für die Praxis des Singens textlos notierter Stücke vor, sei es mit (den originalen oder kontrafazierten, anderweitig überlieferten oder aus dem Gedächtnis reproduzierten) Worten, sei es ohne Worte (durch Vokalisieren oder Solmisieren).[31]
Dank differenzierter Untersuchungen von Kontext, Überlieferung, Form und Stil hat sich jedoch ein Kern von Werken herausgeschält, die mit hoher Wahrscheinlichkeit unabhängig von einem Sprachtext geschrieben wurden und für Instrumentalensembles gedacht waren (was andere Formen der Wiedergabe wie textloses Singen oder Intavolierung und Darbietung auf Laute oder Tasteninstrument nicht ausschloss).
Bei diesen drei- oder vierstimmigen Sätzen, die u. a. von den namhaftesten franko-flämischen Komponisten der Zeit wie Josquin, Obrecht und Isaac stammen, lassen sich zwei Arten unterscheiden: zum einen sog. „cantus firmus-Arrangements“, in denen präexistentes melodisches Material – ,populäre‘ Lied- oder Tanzmelodien oder einzelne aus mehrstimmigen Chansons entnommene Stimmen – verarbeitet wird, zum zweiten c.f.-freie sog. „Instrumentalfantasien“, zu denen u. a. so beliebte, in zahlreichen Quellen überlieferte Stücke wie Johannes Martinis La martinella und Heinrich Isaacs La Morra zählen:.[32]
Isaacs Komposition ist in mehr als 20 Quellen überliefert, darunter Petruccis epochemachendem Druck von 1501. Titel, die sich auf Personen oder ,außermusikalische‘ Gegenstände beziehen, aus Solmisationssilben gebildet sind oder abstrakte musikalische Bezeichnungen (wie z.B. „carmen“) verwenden, sind bei Instrumentalfantasien nicht ungewöhnlich, stand doch ein Text oder ein cantus firmus zur Benennung nicht zur Verfügung. Worauf „La Morra“ anspielt, ist ungewiss. Vorgeschlagen wurden der Mailänder Herzog Ludovico Maria Sforza, gen. „Il moro“, das in Italien beliebte Morra-Spiel und der spanische Sieg über die Mauren bei Granada 1492.
Das Komponieren textloser bzw. für Instrumentalensemble bestimmter Sätze dürfte bereits nach der Mitte des 15. Jahrhunderts im zentraleuropäischen Raum in Gang gekommen sein, ehe es etwas später in Italien Fuß fasste. Seit ca. 1470 traten einzelne Komponisten geradezu als ,Spezialisten‘ für diese Art von Musik hervor, vor allem Johannes Martini, Alexander Agricola und Heinrich Isaac. Auffällig ist, dass diese Musiker in norditalienischen Städten wie Ferrara und Florenz wirkten, also an Orten, die auch für ihre hoch entwickelte Instrumentalmusikkultur bekannt sind. Von daher liegt die Annahme nahe, dass die Produktion von solchen mehrstimmigen, mensural notierten Instrumentalstücken nicht zuletzt durch die Begegnung mit den herausragenden, auch zur Wiedergabe komponierter (Vokal-)Polyphonie befähigten Instrumentalvirtuosen dieser Zeit stimuliert wurde – eine Begegnung, die im Fall Heinrich Isaacs und Augustin Schubingers direkt belegt ist (» G. Kap. Schubinger, Lorenzo de’ Medici und Isaac).
Eine süddeutsche Humanistenkorrespondenz
Am 8. Juni 1506 sandte Lorenz Beheim, ein humanistischer Gelehrter und Geistlicher, der nach einer langen Zeit im päpstlichen Dienst ab 1505 ein Kanonikat an St. Stefan in Bamberg bekleidete, eine Reihe von Musikstücken an den bekannten Humanisten und Nürnberger Patrizier Willibald Pirckheimer, der seinerseits viele Jahre in Italien zu Studienzwecken verbracht hatte, anschließend 1496 Mitglied des Stadtrats seiner Heimatstadt wurde und seit 1500 dem Kreis der Berater und Vertrauten Maximilians I. angehörte.[33]
Die Korrespondenz der beiden Freunde gewährt einen Einblick in den intensiven Repertoireaustausch, der um 1500 zwischen den europäischen Regionen, zwischen Hof und Stadt, aber auch zwischen Berufs- und Amateurmusikern wie Pirckheimer und Beheim stattfand.
Lorenz Beheims Schreiben an Willibald Pirckheimer. 1506. Junii 8. Babenbergae
Salve. Hodie lectis litteris tuis statim perquisivi libellos meos musicae et reperi, et ecce tibi mitto in uno quinternione II bassadanzas de Johann Maria et I zelor [sic] amoris Boruni. La prima bassa è una cosa troppo forte, perchè e doppia, et la 2a è simpia. In alio autem quinternione, cuius prima suprascriptio est “Alla bataglia“, è una bona cosa. Reperies caecus et ellas. Deinde la bassadanza de Augustino Trombone, qui est in curia regis Romani, et est satis bona e ligiera. Deinde est alia simplex bassa, quae potest pulsari in organis. Ex his omnibus colligas tibi unam, quae placeat. Et remitte mihi hos quinterniones omnino et expedias. Ego autem pulsavi aliam bassam et tibi etiam eam misissem, nisi tempus fuisset mihi nimis breve ad copiandum; mittam tamen.[34]
(Bamberg, 8. 6. 1506
Sei mir gegrüßt. Nachdem ich heute deinen Brief gelesen hatte, habe ich gleich meine Musikbücher gesucht und gefunden. Ich schicke dir hier in einem Heft aus fünf Blättern zwei Bassedanze von Johann Maria und ein „zelor amoris“ [Je loe amours] des Boruni. Die erste Bassadanza ist eine recht schwere Sache, weil sie doppelt ist, die zweite ist einfach.[35] In einem zweiten Heft aus fünf Blättern [befindet sich] ein erstes Stück, „Alla bataglia“ betitelt, das schön ist. Du wirst [darin auch] „caecus“ [non iudicat de coloribus] und „ellas“ [Hélas …] finden; dann eine Bassadanza von Augustin dem Posauner, der am Hof des römischen Königs [tätig] ist, und diese ist recht gut und einfach; dann eine andere einfache Bassadanza, die man auf der Orgel spielen kann. Suche dir daraus ein Stück aus, das dir gefällt. Und sende mir die Hefte zur Gänze zurück und beeile Dich. Ich habe auch eine andere Bassadanza gespielt, die ich dir ebenfalls geschickt hätte, wenn mir nicht zu wenig Zeit zum Kopieren geblieben wäre. Ich werde sie aber noch senden.)
Drei Wochen später löste Beheim sein Versprechen ein und übersandte weitere Bassedanze. Aus dem Hinweis, dass diese „ad XIII cordas“ (für 13 Saiten) angelegt, aber leicht „ad XI cordas“ (für 11 Saiten) zu adaptieren seien,[36] ergibt sich, dass Beheims Sendungen aus Lautenstücken bzw. Einrichtungen von Stücken für (sieben- respektive sechschörige) Laute bestanden.
Erhalten sind nur die Briefe Beheims, nicht hingegen die beiliegenden Notenhefte. Allerdings ist die Mehrzahl der genannten Werke dank einer zum Teil reichen Überlieferung in Musikhandschriften und -drucken bekannt: „Zelor amoris“ ist zweifellos die berühmte und auch in instrumentalen Einrichtungen weit verbreitete Chanson Je loe amours von Gilles Binchois,[37] „caecus“ die ebenfalls häufig überlieferte ,Instrumentalfantasie‘ Cecus non iudicat de coloribus von Alexander Agricola, „A la battaglia“ wohl der gleichnamige, in Florenz entstandene Liedsatz Heinrich Isaacs (» Hörbsp.♫ A la battaglia) und „Ellas“ eine der zahlreichen franko-flämischen Chansons, deren Text mit „Hélas“ beginnt, mit größter Wahrscheinlichkeit das in vielen Quellen erhaltene und oft bearbeitete Hélas, que pourra von Firminus Caron.
Die von Beheim übersandten Bassedanze kennen wir nicht. Sofern sie nicht verloren sind, könnten sie sich zwar unter den vielen Tänze befinden, die nicht zuletzt in Lautenmusiksammlungen des 16. Jahrhunderts anonym enthalten sind, doch ist eine genaue Zuordnung hier unmöglich. Immerhin lassen sich die ,Urheber‘ der Bassedanze identifizieren: „Augustino Trombone“, also Schubinger, und „Johann Maria“, ein Lautenist, der auch als „Johannes Maria Dominici“, „Giovanni Maria Hebreo“ etc. bekannt und zwischen 1492 und 1526 in Florenz, Rom und Urbino belegt ist,[38] sowie mit Ulrich und Augustin Schubinger in Kontakt stand.[39]
Grantley McDonald hat die Möglichkeit erwogen, dass Beheim die Stücke Agricolas, Schubingers und Isaacs von Eberhardt Senft bezogen hat, einem Angehörigen der maximilianeischen Kapelle und (wie Beheim) Kleriker an St. Jakob in Bamberg.[40] Auffällig ist freilich, dass Beheim Schubinger als „Augustino Trombone“, also mit dessen in Italien gebräuchlichem Namen anspricht (und auch an anderer Stelle vom Lateinischen ins Italienische verfällt). Vor allem aber waren alle Stücke entweder in Italien verbreitet (dies gilt für die französischen Chansons ebenso wie für Cecus) und/oder stammen von dort tätigen Komponisten oder sind überhaupt dort entstanden. Ebenso gut vorstellbar ist daher, dass Beheim, der erst wenige Jahre zuvor, 1503, aus Rom in seine deutsche Heimat zurückgekehrt war, die Sammlung selbst aus Italien mitgebracht hatte. Davon unabhängig kann aber Beheims Sendung mit ihrer Mischung von Chansons, einer Instrumentalfantasie und Tänzen als durchaus typisch für das Repertoire angesehen werden, wie es auch von einem professionellen Lautenisten wie Schubinger um 1500 gepflegt wurde.
Vor dem Hintergrund von Beheims Erwähnung der „bassadanza de Augustino Trombone“ wird Schubinger in der Literatur manchmal auch als „Komponist“ apostrophiert. Allerdings wäre es eine grobe Verkürzung, imaginierte man sich den „Komponisten“ Schubinger gemäß einer landläufigen modernen Vorstellung als jemanden, der ein Stück Musik gleichsam am Schreibtisch konzipierte und notierte, ehe dieses erst in einem zweiten Schritt zur Aufführung gelangte. Mit Blick auf eine Instrumentalmusikkultur, die wie geschildert in vielfältigen Übergängen und Überschneidungen zwischen Schriftlosigkeit und Schriftlichkeit, zwischen dem Rückgriff auf Präexistentes und dem flexiblen Umgang mit vorgegebenem Material angesiedelt war, sind auch andere Konstellationen vorstellbar und sogar wahrscheinlicher. So könnte der Ausgangspunkt ein von Schubinger ursprünglich aus dem Stegreif gespielter Satz gewesen sein, der später, gar nicht notwendigerweise von ihm selbst, aufgezeichnet wurde. Möglich wäre zudem, dass sich Schubinger auf eine Vorlage (von wem und in welcher Gestalt auch immer) stützte, es aber seine Version war, die in der Folge Verbreitung fand und schließlich unter seinem Namen zirkulierte.
Schubinger und das Augsburger Liederbuch
Einen Eindruck von Schubingers Repertoire vermittelt eine Quelle, der für die Rekonstruktion der am Hof Maximilians I. vorhandenen Musik insgesamt große Bedeutung zukommt: das sog. Augsburger Liederbuch (D-As Cod. 2° 142a).[41]
Die in den Jahren um 1513 in Augsburg oder Innsbruck angelegte Handschrift dürfte zur Sicherung der darin aufgezeichneten Musik gedient haben (als Musiziervorlage ist sie aufgrund einer Reihe von Eigenschaften der Notate ungeeignet). Einer Randnotiz zufolge stand einer der Schreiber (die durchaus unter den Mitgliedern der kaiserlichen Kapelle zu vermuten sind) mit Jakob Hurlacher, einem Augsburger Stadtpfeifer, in Verbindung[42] – ein insoweit nicht überraschender Umstand, als Augsburg ja als ein Hauptstützpunkt der Musiker Maximilians fungierte (» G. Augustin Schubinger Kap. Augsburg).
Die Handschrift enthält in einer bunten Mischung deutsche Lieder, französische Chansons, lateinische Motetten, aber auch eine kleine Gruppe von Tänzen. Die insgesamt sechs Sätze zu drei und vier Stimmen sind alle italienischer Provenienz und eignen sich für ein Ensemble aus Schalmei, Pommer, Krummhorn bzw. Posaunen in verschiedener Kombination.[43] Stilistisch repräsentieren sie durch den Aufbau aus kurzen, kadenziell geschlossenen Phrasen einen um 1500 neu aufkommenden Typ von Tanzmusik
Mit ihrer ,übersichtlichen‘, repetitiven Struktur und ihrer relativ schlichten, von ausgedehnten Parallelführungen zwischen Diskant und Tenor geprägten Satztechnik stellen sie eine Art Musik dar, die zumal von professionellen Instrumentalisten ohne Weiteres memorierbar war (Tanzmusikensembles spielten dem Ausweis der Bildquellen zufolge damals stets ohne Noten). Dieser Einbettung in die „schriftlose Praxis“ entspricht, wenn bestimmte notationelle Eigenheiten darauf hindeuten, dass die Tänze im Augsburger Liederbuch nicht nach einer geschriebenen Vorlage, sondern nach dem Gehör aufgezeichnet wurden.[44]
In Unkenntnis der Verbindung des Augsburger Liederbuchs mit der Kapelle Maximilians und aufgrund einer Fehlinterpretation der auf Jakob Hurlacher bezogenen Randnotiz wurde in der Literatur vermutet, die Tänze wären von Ulrich Schubinger an Hurlacher und von diesem an den Schreiber der Quelle vermittelt worden.[45] Mindestens so wahrscheinlich ist freilich ein ,Direktimport‘ an den kaiserlichen Hof durch Augustin Schubinger selbst. Dieser verfügte durch seine Florentiner Vergangenheit zweifellos über ein großes Repertoire italienischer Tänze. Mehr noch: Auch für den Transfer der Werke Alexander Agricolas, die sich im Augsburger Liederbuch in größerer Zahl finden, könnte Schubinger, zu dessen Kollegen an der Kapelle Philipps des Schönen Agricola zählte, (mit)verantwortlich gewesen sein.[46]
Schubinger und die „musica maximilianea“
Auf welchen musikalischen Qualitäten die offensichtlich hohe Wertschätzung, die Schubinger entgegengebracht wurde, im Einzelnen beruhte – ob auf technischer Perfektion, virtuoser Brillanz, musikalischem Erfindungsreichtum, einer bestimmten Klanggebung etc.pp. – lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Zu pauschal sind die zeitgenössischen Nachrichten über ihn und zu wenig wissen wir letztendlich über die Kriterien damaliger musikalisch-ästhetischer Urteilsbildung. Aber es existieren einige Anhaltspunkte um zu klären, worin der ,Wert‘ Schubingers für Maximilian I. und die Musik an dessen Hof lag.
Soweit ihre Herkunft eruierbar ist, stammten die Musiker, die Maximilians seit der Mitte der 1490er Jahre rekrutierte, von Ausnahmen wie insbesondere Heinrich Isaac abgesehen, aus den österreichischen Erblanden bzw. dem südlichen deutschen Sprachraum. Insofern fügt sich das Engagement Schubingers gleichsam in das Gesamtbild. Eine Eigenschaft (die er mit dem Flamen Isaac teilte) unterschied ihn allerdings vom Gros seiner Kollegen: der internationale ,background‘, den er seiner jahrelangen Tätigkeit in Italien und Burgund und daneben wohl auch den Reisen nach Spanien, durch Frankreich oder Savoyen usw. verdankte.
Man kann folglich davon ausgehen, dass Schubinger über ausgedehnte Kenntnisse von musikalischen Repertoires und Praktiken aus weiten Teilen Europas verfügte und in transregionale personale Netzwerke eingebunden war. Dass dies der Musik am Hof Maximilians I. zugute kam, ist nicht nur prinzipiell zu vermuten, sondern kann teilweise auch konkret nachvollzogen werden. Wie erwähnt dürfte es Schubinger gewesen sein, der Isaac an die kaiserliche Kapelle vermittelte (» G. Kap. Schubinger, Lorenzo de’ Medici und Isaac) und der die Quelle für die Tänze und für die Stücke Agricolas im Augsburger Liederbuch war (» Kap. Schubinger und das Augsburger Liederbuch). Dasselbe könnte für die Werke Pierre de La Rues, eines weiteren Kollegen aus der Zeit bei Philipp dem Schönen, gegolten haben, welche sich in Quellen mit maximilianeischem Repertoire finden (A-Wn Mus.Hs. 18810 und D-Mu, 8°Cod. ms. 328–331).[47] Außerdem ist vorstellbar, dass Schubinger eine Rolle bei der Rezeption der Lira da braccio (» Instrumentenmuseum. Lira da braccio) am Hof Maximilians gespielt hat.[48]
Vielleicht brachte Schubingers Vertrautheit mit italienischer Musik und Kultur noch einen weiteren Vorteil mit sich: Bianca Maria Sforza, Maximilians zweite Ehefrau seit 1493, versuchte auch in Österreich die Beziehung zu ihrer Heimat aufrechtzuerhalten. So umgab sie sich mit zahlreichen italienischen Hofdamen und -bediensteten, engagierte einen italienischen Solosänger, pflegte italienische Tänze und ließ sich aus Mantua ein Clavichord schicken.[49] Schubingers Erfahrungen aus seiner Florentiner Zeit könnten auch in dieser Hinsicht willkommen gewesen sein.
Über solche Einzelaspekte hinaus ist Schubingers Bedeutung freilich auf einer allgemeinen Ebene, nämlich in Relation zum generellen Profil der maximilianeischen Musik zu sehen. Offenkundig wurde der Instrumentalmusik am Hof Maximilians ein hoher Stellenwert beigemessen.[50] Bemerkenswert ist allein schon die hohe Dichte erstrangiger Spieler (neben Schubinger u. a. Paul Hofhaimer, Hans Steudl oder Hans Neuschl). Nicht minder markant ist die Integration von Instrumentalem in die Praxis der Vokalkapelle, welche sich in der Einbindung der Bläser in die Kantorei, aber auch in der Pflege der sog. missae ad organum manifestiert, d. h. von Alternatimmessen, in denen abschnittsweise Vokalpolyphonie und Orgelsätze abwechseln (» D. Kap. Isaac als Schlüsselfigur: choralbasierte Propriums- und Ordinariumszyklen). Dass die Instrumentalmusik zu den besonderen Glanzstücken der Hofmusik Maximilians zählte, ist nicht zuletzt am Triumphzug ablesbar (» I. Instrumentalkünstler am Hof Maximilians I.). Vier der fünf Musikerwagen sind allein mit Instrumentalisten bzw. Instrumentalensembles besetzt und auch beim fünften, dem Kantorei-Wagen, wird durch die Darstellung Schubingers und Steudls und deutlicher noch im Textprogramm der instrumentale Anteil akzentuiert. Hinzu kommt, dass alle im Triumphzug namentlich genannten Musiker Instrumentalisten sind.[51] All dies läuft auf die Folgerung hinaus, dass Schubinger als einer der brillantesten Instrumentalisten seiner Zeit eine Schlüsselrolle für die Musikkultur am Hof Maximilians gespielt hat.
[1] Aus Schubingers Dienstrevers von 1514 ( » Abb. Schubingers Dienstrevers 1514).
[2] Siehe etwa D-Asa Baumeisterbücher, Bd. 89 (1495), fol. 17r; Bd. 90 (1496), fol. 17r; Bd. 93 (1499), fol. 22v.
[3] Grassl 1999, 208, unter Bezugnahme auf Wessely 1956, 130–134. Siehe auch die Dokumente von 1514, denen zufolge Schubinger als „Posaunist“ angestellt wurde, wiewohl er zu dieser Zeit auch, wenn nicht in erster Linie, als Zinkenist hervortrat.
[4] D-Asa Baumeisterbücher, Bd. 80 (1487), fol. 65r.
[5] D-Asa Baumeisterbücher, Bd. 82 (1489), fol. 66r; Bd. 84 (1490), fol. 68r; Bd. 89 (1495) [o. fol.]; Bd. 90 (1496), fol. 90r. Diettel setzt sich auch insofern von den anderen Stadtpfeifern ab, als er zeitweise ein etwas höheres Gehalt bezog (40 oder 44 fl. statt der sonst üblichen 36 fl.).
[6] D-Asa Baumeisterbücher, Bd. 81 (1488), fol. 16r.
[7] Vgl. McGee 1999, 731–732; McGee 2008, 166–168.
[8] D-Asa Baumeisterbücher, Bd. 55 (1457), fol. 112v, online: https://lod.academy/bmb/id/bmb-bm-03uw/1.
[9] McGee 2000, 215–216.
[11] Grassl 2019, 223 und 231–234.
[12] Polk 1994a, 210.
[13] B-Baeb Algemeen Rijksarchief / Archives générales du Royaume, V132–41287 (Stads Rekeningen Mechelen 1507/1508), fol. 211r; V132–41291, (Stads Rekeningen Mechelen 1511/1512) fol. 209v; Protokoll des Konstanzer Domkapitels 1510: „ex parte Augustini lutiniste domini Cesaris“ (siehe Krebs 1956, S. 24, Nr. 4091); D-Nsa Reichsstadt Nürnberg, Losungsamt, Stadtrechnungen 181, fol. 617v: „Item ij gulden dem Augustin K mt lautenisst zu Juliane anno 1517“.
[14] Siehe Polk 1989a, 496, 500 und 502; McGee 2000, 215; Prizer 1981, 163; weitere Beispiele bei Polk 1989c, 526–527, 542–543; Polk 1990, 196–197; McGee 2005, 149–150; McGee 2008, 210–212.
[15] Wenngleich mehrstimmiges Lautenspiel bis zu einem gewissen Grad auch mit der Plektrontechnik möglich war. Siehe Lewon 2007. Vgl. » Instrumentenmuseum Laute.
[17] » I. Kap. „Musica Lauten und Rybeben“; Nedden 1932/1933, 26–27; Ernst 1945, 222–223; Polk 1992b, 86; Polk 1994b, 407; Schwindt 2018c, 275–276.
[18] B-Baeb Algemeen Rijksarchief / Archives générales du Royaume, V132–41287 (Stads Rekeningen Mechelen 1507/1508), fol. 211r. Zu Lenaert (bzw. „Lionhardt“) siehe die Nachweise bei Polk 1992b, 86–87; Polk 2001a, 93–94; Polk 2005a, 64 und 66.
[19] Polk 1992a, 73–75; Polk 1987, 180; speziell für Nürnberg vgl. Green 2005, 13.
[20] Darstellung des Kantoreiwagens im Triumphzug (» Abb. Triumphzug Kantorei.).
[21] Siehe die Zusammenstellung der Belege bei Grassl 2019, 230–246.
[22] Siehe neben den in » G. Augustin Schubinger, Anm. 57, 58, 61 erwähnten Belegen auch das Protokoll des Konstanzer Domkapitels 1510: „ex parte Augustini lutiniste domini Cesaris. Als derselb Augustini etlich tag im chor zur orgel vnd den sengern uff dem zingken geblausen hat, ist capitulariter conclusum, im zu erunge 2 fl. zeschencken“ (siehe Krebs 1956, S. 24, Nr. 4091).
[23] Cochlaeus 1512, 90–91.
[24] Grassl 2017, 347–349 und 357–358; Grassl 2019, 217–221 und 227–228.
[25] Nedden 1932/1933, 28; Wessely 1956, 85, 88, 101–103 und 108–111; Polk 1992b, 86. Vgl. insbesondere auch die „Kollektiv“- bzw. „Gruppeneinträge“ in: D-Asa Baumeisterbücher, Bd. 97 (1503), fol. 28r: „Item x guldin Ko mayt. Busanern dero fünffe“; Bd. 98 (1504), fol. 26r: „It. viij gulden Jörigen Holland, Jorigen Eyselin, Hannsen Stevdlin vnd Vlrich Vellen Kö. mayt. Busaunern“.
[26] Polk 1992a, 109; Green 2011, 20.
[27] Siehe die Einträge in den Nördlinger Rechnungsbüchern 1506 und 1507 (» Abb. Zahlung der Stadt Nördlingen an Schubinger, 8. Juni 1506), sowie » G. Augustin Schubinger, Anm. 67.
[28] Henning 1987, 87 (Tafel 183), 90 (Tafel 211), 94 (Tafel 255).
[29] Grundlegend Polk 1992a, 169–213; siehe u. a. auch Gilbert 2005; Neumeier 2015, 273–290.
[30] Für einen Gesamtüberblick zum instrumentalen Musizieren um 1500 siehe Coelho/Polk 2016, insb. 189–225; Grassl 2013.
[32] Vgl. von der umfangreichen Literatur zu diesem Repertoire nur Polk 1997; Strohm 1992; Jickeli 1996; Banks 2006.
[33] Zur Biographie Pirkheimers siehe: http://www.pirckheimer-gesellschaft.de/html/will_car.html.
[34] Edition in: Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, hrsg. von Emil Reicke (Veröffentlichungen der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Reformation und Gegenreformation. Humanistenbriefe 4), München 1940, S. 371.
[35] Dies könnte sich auf die Unterscheidung zwischen zwei- und einteiligen bassedanze beziehen (in der Terminologie des zeitgenössischen französischen Tanzschrifttums basses danses mineurs und majeurs).
[36] Brief vom 29. Juni 1506, ediert in: Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, hrsg. von Emil Reicke (Veröffentlichungen der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Reformation und Gegenreformation. Humanistenbriefe 4), München 1940, S. 380. Siehe zu dieser Korrespondenz auch Meyer 1981, 62–64.
[37] Zu „Boruni“, dem Bearbeiter, d. h. wohl Intavolator von Binchois’ Komposition, lässt sich indes nichts Genaueres feststellen. Vielleicht handelt es sich um einen älteren Verwandten des ca. 1490 geborenen, um die Mitte des 16. Jahrhunderts renommierten Mailänder Lautenisten Pietro Paolo Borrono.
[38] Slim 1971, 563–568.
[39] Dies geht aus einer Bemerkung im Schreiben Ulrichs an Lorenzo de’ Medici hervor (» G. Kap. Schubinger, Lorenzo de’ Medici und Isaac), wonach Ulrich in Ferrara vergeblich auf seinen Bruder und „Zoani Maria che suona el liuto“ gewartet habe.
[40] McDonald 2019, 13–14.
[41] Siehe dazu insb. Birkendorf 1994, Bd. 1, 97–101; Schwindt 2018c, 542–545; vgl. auch Brinzing 1998, Bd. 1, 137–150; » B. Kap. Aufschwung der Liedkunst; » D. Zur musikalischen Quellenlage.
[42] Dies war entweder Jakob Hurlacher der Ältere, der von 1495 bis 1530 als Augsburger Stadtpfeifer tätig war (also nicht erst ab 1508, wie in der Literatur regelmäßig behauptet wird; siehe die Einträge in D-Asa Baumeisterbücher), oder Jakob Hurlacher der Jüngere, der dem Augsburger Bläserensemble von 1502 bis 1506 und von 1509 bis 1517 angehörte.
[43] Siehe im Detail Brinzing 1998, Bd. 1, 151–154; Neumeier 2015, 252–254.
[44] Brinzing 1998, Bd. 1, 150.
[45] Polk 1991, 158; siehe auch Filocamo 2009. Rein spekulativ ist folglich auch Polks Mutmaßung, der Mantüane[r] dantz könnte mit einem der von Beheim übersandten bassedanze (vgl. » Kap. Eine süddeutsche Humanistenkorrespondenz) identisch und daher Schubinger oder Giovanni Maria Ebreo dessen „Komponist“ sein.
[46] Schwindt 2018c, 280.
[47] Schwindt 2018c, 280; vgl. auch Birkendort 1994, Bd. 1, 184.
[48] Schwindt 2018c, 120–124.
[49] Unterholzner 2015, insbes. 79–89, 96–98; Schwindt 2018c, 73–76.
[50] Vgl. Lütteken 2010 LIT, 20–21; Polk 2001b; Schwindt 2018c, 20–24.
[51] Neben Schubinger sind dies der Organist Paul Hofhaimer, der Lautenist Albrecht Morhanns, die Posaunisten Hans Neuschel und Hans Steudl sowie der Pfeifer Anton Dornstetter. Siehe die betreffenden Bildprogrammtexte bei Schestag 1883, 155 und 158–160.
Empfohlene Zitierweise:
Markus Grassl: „Instrumentale Musikpraxis im Lebensbereich Augustin Schubingers (ca. 1460–1531/32)“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/instrumentale-musikpraxis-im-lebensbereich-augustin-schubingers-ca-1460-153132> (2023).