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Musikinstrumente und die Ästhetik ihrer Inszenierung

Björn R. Tammen

Auch im Falle einer monumentalen Marienkrönungstafel (ca. 1390) aus dem traditionsreichen Zisterzienserkloster Stift Stams in Tirol, die ungeachtet ihres ausgesprochen trecentesken Erscheinungsbildes das Werk eines einheimischen Künstlers sein dürfte – vermutlich des aus Meran stammenden Konrad im Tiergarten[25] – liegt eine Darstellung der Neun Chöre der Engel vor. Im Unterschied zu Thörl (vgl. Kap. Himmlische Hierarchie und irdisches Instrumentarium) sind dabei die Engelsränge lediglich implizit, durch Verschiedenfärbigkeit der zu beiden Seiten der Marienkrönungsgruppe angeordneten Teilchöre, kenntlich gemacht. Musikinstrumente entfallen auf die beiden unteren Register der blau und weiß gewandeten Engel sowie die offenbar als neunter Chor begriffenen Engelsmusikanten zwischen den Fialen des Giebelaufsatzes, die skulptiert und damit als gedachte Bestandteile der Architekturkulisse wiedergegeben sind.[26] Die beiden oberen Register mit ihren Trägern von Buch und Spruchband sind demgegenüber in geheimnisvoll anmutendem grünem bzw. rotem Camaïeu (Ton-in-Ton-Malerei) gehalten, deren Färbung Körper, Gewand und Attribute dieser Engel einschließt.

 

Abb. Marienkrönung Stams

Abb. Marienkrönung Stams

Marienkrönungstafel (ca. 1390) von Konrad im Tiergarten (?) aus dem Zisterzienserkloster Stift Stams (Tirol).

 

Hinsichtlich Auswahl und Präsentation der Instrumente verrät sich in Stams weniger eine Prärogative hierarchischer, denn ästhetischer Überlegungen,[27] die geradezu in den Dienst eines „distanzierten ‚Bühnenschauspiels‘“ gestellt werden.[28] Den Anfang macht vorne links, auf gleicher Höhe mit den Zentralfiguren Christi und Mariens, die speziell für den böhmisch-zentraleuropäischen Raum charakteristische Harfe mit Doppelresonator (» Abb. Marienkrönung Stams Detail links; vgl. Kap. Die Freuden der Seligen und die Imagination des Unerhörten), deren Wiedergabe mit Details wie der kleinen, körperseitigen Verbindungssäule zwischen keulenförmigem (Harfen-)Resonator und Stimmstock oder auch dem schlüssigen Übergang zum (psalterienartigen) Resonanzbrett von einer sehr präzisen Sachvorstellung geleitet zu sein scheint.[29] Es folgt das Platerspiel, ein in den Engelskonzerten eher selten dargestellter, vergleichsweise primitiver Vorläufer der späteren Familie der Windkapselinstrumente, bei dem das Rohrblatt in einer unter den aufgeblasenen Backen seines Spielers sich aufwölbenden Tierblase eingeschlossen ist. Im konkreten Falle mag der visuelle Reiz, den Instrument wie Spieler bieten, den Ausschlag gegeben haben, hier ein eher „rustikal“ anmutendes Instrument gleichberechtigt neben der Harfe in den Vordergrund zu rücken.[30] Die korrespondierenden Positionen auf der rechten Seite nehmen eine kleine Guiterne (halb verdeckt) sowie die unter italienischem Einfluss stehende Form des Halbpsalteriums ein (» Abb. Marienkrönung Stams Detail rechts), das übrigens mit seiner gerade geschnittenen rechten und der einschwingenden linken Flanke genau hier am besten zur Geltung kommt – was auf einen Primat formaler Überlegungen vor anderen möglichen Dispositionskriterien schließen lässt.

Der Eindruck nicht allein einer die Internationalität und höfische Verfeinerung des „Schönen Stils“ der Zeit um 1400 reflektierenden Behandlung des Bildthemas, sondern auch der Synthetisierung durchaus heterogener Tendenzen in jenem für die Region Österreich zu veranschlagenden Instrumentarium verstärkt sich noch, bezieht man die übrigen Engelsdarstellungen in diesen Überblick mit ein. Das Stamser Engelskonzert kennt nicht allein die Harfe mit Doppelresonator und das Halbpsalterium, sondern ebenso die westeuropäische Form der Rahmenharfe, die im zweiten Engelsrang gleich zweimal vertreten ist: rechts, neben der in dunklem Rot abschattierten Seitenwange der Thronarchitektur – dort Seite an Seite mit einem Orgelportativ (» Hörbsp. ♫ Portativ) –, und links, wenngleich dort von den lichteren, hellrosa gehaltenen Arkadenöffnungen zu einem Gutteil verdeckt. (Übrigens teilen dieses Schicksal drei weitere im Hintergrund dargestellte Instrumente: ein parallel-gedoppeltes Blasinstrument, Sackpfeife und Fidel, die den Betrachter förmlich zur Vervollständigung im Geiste anregen. Gut sichtbar sind dann wieder die Fidel und eine kleine, mit Plektrum gezupfte birnenförmige Guiterne mit ihrem charakteristischen Sichelhals am linken Rand des zweiten Registers dargestellt.)

 

 

Eine Hierarchiezone eigenen Rechts bilden im Hintergrund die zwischen schlanke Fialtürmchen eingefügten Engelsmusikanten – figürliche Aufsätze der Giebelarchitektur, für die der Straßburger Fassadenriss Pate gestanden haben könnte.[31] Hierbei fällt den Geradtrompeten eine hervorgehobene Rolle links und rechts außen auf den untersten, etwas größeren Giebelflächen zu, von wo aus sie symmetrisch nach innen gerichtet sind. Es folgen Laute, Orgelportativ und Fidel (rechte Hälfte) sowie Guiterne, Psalterium und Harfe mit zwei Resonatoren (linke Hälfte, jeweils von außen nach innen), womit wiederum eine gewisse Sonderstellung dieser Harfenform deutlich wird.

[25] Vgl. Trattner 1999Kofler Engl 2007, 333f. In der älteren Literatur nach dem im Vordergrund knienden Zisterzienserabt auch als „Grussittafel“ bezeichnet.

[26] Zu dieser Möglichkeit vgl. Trattner 1999, 303.

[27] Dies gilt auch für den Reichtum an Details wie die Krönchen der musizierenden Engel, von denen zwei als Blattkränze ausgebildet sind, oder die souverän beherrschte Farbpalette, die Licht und Schatten der Thronarchitektur auf einer differenzierten Skala zwischen Hellrosa und Dunkelrot vermittelt.

[28] Vgl. Trattner 1999, 305 (in Hinblick auf die Farbregie).

[29] An Genauigkeit kann es der Künstler ohne weiteres mit entsprechenden Wiedergaben durch Meister Kuthner in der etwa zur selben Zeit in Prag für König Wenzel IV. angefertigten Prachtbibel aufnehmen; vgl. Tammen 2003b, 26f. (mit Abb. 10), 34 (mit Abb. 13), 36f. (mit Abb. 14) u. ä.

[30] Zum Platerspiel und seinen „rustic connections“ vgl. Brown 1980, 132. Das vor 1363 entstandene Karlsteiner Engelskonzert (vgl. Kap. Böhmische Sonderformen und ihre (proto‑)nationale Kodierung) bietet gleich zwei Wiedergaben dieses Instruments in unterschiedlichen Größen. Im Falle des ehemaligen Hochaltarretabels des Mindener Domes gehören beide Instrumente unterschiedlichen Hierarchiezonen an, vgl. Tammen 2012, 16f. (mit Abb. 2) und 26f. (mit Abb. 10).

[31] Vgl. Recht 1978Gutknecht 1978.