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Kirchenmusik und „Reformikonographie“

Björn R. Tammen

Im Lichte der hier beispielhaft beschriebenen Optionen einer Visualisierung von Engelsmusik in der Region Österreich – liturgische Rückkoppelung, Imagination des Unerhörten, ästhetisch oder auch hierarchisch bestimmte Inszenierung, (proto-)nationale Kodierungen von Musikinstrumenten in Engelshand – trägt die Marienkrönungstafel aus Maria am Gestade in Wien, Fragment des monumentalen Hochaltarretabels dieser Kirche aus der Zeit um 1460, durchaus Züge eines Kompromisses.[38] Der Faszination eines großen „Engelsorchesters“ und seiner Oberflächenreize, von denen einige teils vor, teils hinter der den Thronbaldachin flankierenden Balustrade ausgebreitet werden, können sich Künstler bzw. Auftraggeber nicht entziehen; aber mit den dezidiert kirchenmusikalischen Komponenten zu beiden Seiten der zentralen Marienkrönungsgruppe ergibt sich doch ein starker Gegenakzent: links eine vierköpfige Gruppe singender Engel, angeordnet vor einem großem hölzernen Pult mit aufliegendem Chorbuch, die an den Vortrag polyphoner Kunstmusik denken lässt;[39] rechts ein prächtiges Orgelpositiv, dessen Spieler im verlorenen Profil wiedergegeben ist, so dass der Blick des Betrachters auf eine zeitgemäße Tastatur mit angedeuteten schwarzen Obertasten fällt;[40] und schließlich vorne rechts eine weitere Gruppe dreier aus einem kleineren Buch (singender?) Engel.

 

 

Ein derartiges Arrangement mutet wie eine implizite Antwort auf die „Fragwürdigkeit“ spätmittelalterlicher Engelskonzerte an (» Kap. Liturgische Bodenhaftung); es ist indes keine Besonderheit, die so erstmalig in Maria am Gestade Gestalt angenommen hätte.[41] Die „Repräsentation“ musizierender Engel gerät hier vielmehr zu einer „(Wieder‑)Vergegenwärtigung“ dessen, was drei Jahrzehnte zuvor die Gebrüder van Eyck an den beiden Engelstafeln des Genter Altares (vollendet 1432) unter „reformerischen“ Vorzeichen[42] geschaffen hatten: Auf dem linken inneren Seitenflügel (Festtagsseite, oberes Register) bekanntlich ein Kantoreibild avant‑la‑lettre, das hinsichtlich der physiognomischen Differenzierung sängerischer Individuen Maßstäbe setzt; auf dem rechten Flügel eine subtile Bildfindung, die prima vista ein „Engelskonzert“ zu suggerieren scheint, de facto aber nur den Engelsorganisten als aktiv musizierend wiedergibt (der Fingerstellung nach zu urteilen vermutlich ein Dreiklang F‑c‑a oder, weniger wahrscheinlich, C‑g‑e‘), Fidel und Harfe schweigen. Die beiden letztgenannten Instrumente werden zwar als kostbare Preziosen regelrecht inszeniert, aber über ein in den Bildrahmen eingelassenes Psalmzitat (Ps 150,4: „laudate eum in cordis et organo“) als Reminiszenzen einer fernen alttestamentarischen Vergangenheit – der davidischen Tempelmusik – ausgewiesen und gehören damit einer anderen Realitätsebene als die Repräsentanten „moderner“ Kirchenmusik zu Beginn der 1430er Jahre an.[43]

Mit der produktiven künstlerischen Aneignung des Genter Altares und seiner kirchenmusikalischen Prärogative in Maria am Gestade ergibt sich eine weitere, wichtige Facette im Spektrum der „Repräsentationsleistungen“ spätmittelalterlicher Engelskonzerte; zugleich wird jenes für das Musikleben in der Region Österreich insgesamt in Anschlag zu bringende Koordinatensystem neben jenen bereits gewürdigten böhmischen oder auch italienischen Einflüssen um wesentliche Impulse aus dem frankoflämischen Raum bereichert.

[38] Vgl. Perger/Ziegler 1988Tammen 2007, 116–118 (mit Abb. 1).

[39] Vgl. Tammen 2014, 232–235.

[40] Vgl. Jakob/Hering-Mitgau/Knoepfli/Cadorin 1991, 240 (Abb. 167).

[41] Durchaus spielerisch koexistieren beide Modi im berühmten Stundenbuch der Maria von Burgund (oder Margarethe von York?): Als Marginalillustrationen zu dem als „laus angelorum“ rubrizierten Gloria sind für die verso-Seite gleichsam die Realien der Kirchenmusik vorgesehen (zwei Engel mit Orgelportativ bzw. Rotulus mit angedeuteter mehrstimmiger Notation), für das gegenüberliegende recto hingegen ein Modus höfischer Imagination mit zwei auf Harfe und Laute musizierenden Engeln (» A-Wn Cod. 1857, fol. 37v bzw. 38r; hierzu vgl. Tammen 2006, 67 u. 82, mit Abb. 11). Eine Kenntnis des Genter Altares liegt bei dieser von führenden flämischen Meistern in den späten 1470er Jahren geschaffenen Zimelie durchaus im Rahmen des Möglichen, ist aber nicht zwingend vorauszusetzen.

[42] Von Schneider 1997 als „Vorschläge für eine Reform der Kirche“ (Untertitel) gedeutet. Der Reformbegriff lässt sich aber ohne Weiteres auch auf die Behandlung des Bildmotivs musizierender Engel übertragen; zu den „Tendenzen einer ‚Reformikonographie‘“ siehe bereits Tammen 2000, 328–333.

[43] Vgl. Seebass 1983, 30–33; Tammen 2014, 230–232.