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Böhmische Sonderformen und ihre (proto-)nationale Kodierung

Björn R. Tammen

In Anbetracht übersteigerter Konzepte von nationaler Identität, wie sie speziell das 19. Jahrhundert entwickelt hat, könnte der Versuch, für das Spätmittelalter von der Vorstellung eines gleichsam pan-europäischen Instrumentariums abzurücken und stattdessen regionale oder sogar (proto-)nationale Tendenzen in den Bildquellen aufzuspüren, zunächst einmal das berechtigte Misstrauen auf den Plan rufen, hier würden viel spätere Vorstellungen unzulässigerweise auf eine frühere Epoche zurückprojiziert, zumal auf einen so „überirdischen“ Bildgegenstand wie die Engelsmusik. Doch selbst ein so umfassend anmutendes Engelskonzert wie jenes neununddreißigköpfige im „persönlichen Sanctissimum“[32] Kaiser Karls IV. auf Burg Karlstein bei Prag (vor 1363), das dem Universalismus gerade dieses Herrschers so wunderbar zu korrespondieren scheint, bietet Nischen für partikulare Erscheinungen wie gleich zwei besonders detaillierte Darstellungen einer Ala („bohemica“)[33] – im Kontext eines Zyklus von Wandmalereien zu Leben und Passion der beiden böhmischen Nationalheiligen Wenzel und Ludmilla, welche im Stiegenhaus des Großen Turms den Aufstieg zur Heilig-Kreuz-Kapelle flankieren.

 

 

Anstelle der Karlsteiner Engelsmalereien sei im Folgenden kurz auf die ganzseitige Initialzierseite zum Matthäus-Evangelium in dem für Herzog Albrecht III. von Österreich angefertigten, 1368 vollendeten Evangeliar des Schreibers und Malers Johannes von Troppau eingegangen. Kalkuliert mutet hier insbesondere die im Buchstabenschaft des kapitalen „L“ vorgenommene Zusammenstellung mit drei zitherartigen Zupfinstrumenten im Wechsel mit zwei Streichchordophonen an: die Harfe mit zwei Resonatoren, eine ovale Fidel, das gegenüber dem regulären Psalterium in Trapezform um 90° gedrehte Harfenpsalterium, eine kleine Fidel mit eher hexagonalem Korpus sowie die Ala (von oben nach unten). Über jeden Zweifel erhaben ist die Spitzenstellung der Harfe mit zwei Resonatoren – allein ihr Spieler ist durch drei im Kontext der Ahnenreihe Christi (Liber generationis!) sinnvolle Reminiszenzen an die traditionelle Davids-Ikonographie (Thronmotiv, Krone und Stimmvorgang mit gut sichtbarem, metallisch blauem Stimmschlüssel (in T‑Form)) nobilitiert. Ihm korrespondiert am unteren Schaftende, gleichfalls thronend, jedoch ohne Kronreif, der Spieler einer Ala, dessen Instrument dadurch ein ähnlich starkes Gewicht zufallen dürfte.[34] Dies gilt erst recht im Lichte der künstlerischen Tätigkeit Johannes‘ von Troppau „in Prag im Umkreis des Hofes und der kaiserlichen Kanzlei“ und seiner Vertrautheit mit den Wandmalereien auf Burg Karlstein.[35] Als Pfarrer von Landskron unterstand er übrigens dem Bischof von Olmütz und Kanzler Karls IV., Johann von Neumarkt, in dessen Urkunden die einzige zeitnahe Begriffsprägung, welche den „Flügel“ als böhmisch deklariert („ala bohemica“), überliefert ist.[36] Wie und unter welchen Rahmenbedingungen derartige Sonderformen außerhalb Böhmens und seines unmittelbaren Einflussgebietes rezipiert wurden, gehört zu den großen ungeklärten, im Detail vielfach wohl überhaupt nicht mehr zu klärenden Fragestellungen an ein Musikleben in der Region Österreich. Dies gilt sowohl für die sozusagen „handwerkliche“ Ebene des Motivtransfers im Rahmen einer durch ausgesprochene Internationalisierung gekennzeichneten Kunstproduktion, als auch für ein womöglich bereits auftraggeberseitig vorauszusetzendes, nicht notwendigerweise an (proto-)nationale Kodierungen gebundenes, mit dem Reiz des Besonderen spielendes Visualisierungsbedürfnis.[37]

[32] Homolka 1978, 611.

[33] Vgl. Buchner 1967Matoušek 1985, 61 (Abb. 3) und 64 (Abb. 4); Matoušek 1994, 207; Tammen 2000, 466. Zu organologischen und terminologischen Aspekten der Ala siehe Anm. 34 bzw. Anm. 36. – In einer gerade in den letzten Jahren schier überbordenden, hier nicht zu referierenden Literatur zu Kunst und Herrschaftsrepräsentation unter den Luxemburgern spielt dieser Engelszyklus erstaunlicherweise keine Rolle, was möglicherweise seiner vollständigen Erneuerung im 19. Jahrhundert geschuldet sein könnte. Pausen der vor Beginn der Restaurierungen (1897/99) vorgefundenen mittelalterlichen Reste der Malereien vermitteln gleichwohl eine sehr gute Vorstellung des ursprünglichen Zustands.

[34] Zur Ala, einem großen zitherartigen, durch zwei getrennte Saitensysteme (Darmsaiten für das tiefere, Metallsaiten für das höher Register) charakterisierten Zupfinstrument vgl. Kurfürst 1985Matoušek 1985Tammen 2000, 223f. und 280f.

[35] Vgl. Jenni 2004, 81.

[36] Tadra 1886, 103f. (Nr. 128); vgl. Matoušek 1985, 64, Anm. 7. Als Fachterminus hat sich „Ala“ (ohne adjektivischen Zusatz) etabliert.

[37] Vorläufige Überlegungen hierzu bietet Tammen (i. Dr.).