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Die Freuden der Seligen und die Imagination des Unerhörten

Björn R. Tammen

Eine bemerkenswerte Aussage, die uns durchaus als zeitgenössisches Korrektiv zum Verständnis bildgewordener Engelsmusik dienen kann, ist im Complexus effectuum musices des Johannes Tinctoris enthalten – der wohl umfangreichsten mittelalterlichen Abhandlung über das Wesen der Musik und ihre unterschiedlichen Wirkungen, welche dieser um 1475 für seine Schülerin, die Prinzessin Beatrice von Aragon, am Königshof in Neapel verfasst hat. Im Abschnitt über den dritten „effectus“ räsonniert Tinctoris über die Beweggründe der „pictores“, musizierende Engel darzustellen: „Wenn die Maler die Freuden der Seligen zum Ausdruck bringen wollen, dann malen sie Engel, die auf verschiedenen Musikinstrumenten musizieren. Dies hätte die Kirche nicht gebilligt, würde sie nicht glauben, dass die Freuden der Seligen durch Musik verstärkt würden.“[7] Aufschlussreich daran ist sowohl der den Malern (bzw. Künstlern im weiteren Sinne) zugestandene Gestaltungsspielraum, der sie – es sei nebenbei bemerkt – auch am Zeichenbegriff teilhaben lässt („designare volunt“), als auch die Fragwürdigkeit eines Bildmotivs, das Tinctoris kirchlicherseits indes legitimiert sieht.

Will man sich dieses „period eye“ zu eigen machen, dann können Bedenken ob einer vielleicht allzu starken Horizontverschiebung von einem bereits „humanistisch“ geprägten Italien zu einem noch „spätmittelalterlichen“ Österreich getrost beiseitegeschoben werden, nicht hingegen ein prinzipieller Einwand gegen den propädeutischen Charakter dieses Traktats. Was Tinctoris hier formuliert, ja sogar zu einem lateinischen Merkvers kondensiert („Musica gaudia beatorum amplificat“[8]), dient zuallererst der Unterweisung im Musikunterricht und nimmt damit möglicherweise eine Bedeutungsverengung im Dienste der Didaxe bewusst in Kauf.

Eine Antwort auf die naheliegende Frage, was man sich überhaupt unter den „Freuden der Seligen“ vorzustellen hat und inwiefern Engelsmusik hierzu beitragen kann, bleibt Tinctoris übrigens schuldig – vielleicht aus gutem Grund, wo doch selbst eines der am weitesten verbreiteten Erbauungsbücher des Spätmittelalters, das Speculum humanae salvationis, dessen Kapitel 42 den „beatorum gaudia“ gilt,[9] mit einem nicht unproblematischen Unsagbarkeitstopos operiert:
„So zahlreich sind die Freuden der Seligen, dass man sie nicht aufzählen kann, so ungeheuerlich und so groß, dass man sie nicht ermessen kann, so unvergleichlich, dass man hiervon nicht erzählen kann, so dauerhaft, dass sie kein Ende finden. Die Freuden, die Gott den ihn Liebenden bereitet hat, vermag das Auge nicht zu schauen, das Ohr nicht zu hören noch das Herz zu erwägen.“[10]
In einem geradezu rauschhaften Zustand werden alle fünf Sinne angesprochen:
„Hier ist alle Schönheit und dem Auge zugänglicher Liebreiz, hier ist alle dem Ohr erklingende Harmonie und Melodie, hier ist alle dem Geruch sich darbietende Ergötzlichkeit, hier ist alle dem Tastsinn Freude gewährende Weichheit, hier ist alle auf den Geschmack einströmende Süße […].“[11]
Gegen Ende dieser – jeweils mit einem affirmativen „Ibi est“ anhebenden – Aufzählung verkehrt sich die Perspektive in das Paradox als der wohl letzten Steigerungsmöglichkeit, wenn der Philosophie jegliche Bedeutung für das Jenseits abgesprochen wird („Ibi scientia Aristotelis et philosophorum esset rusticitas“), ja selbst die Harfe König Davids und das Wissen Jubals, des biblischen Erfinders der Musik, in einem Atemzug zur „absurditas“ (Unfug) erklärt werden.[12]

Eigentlich verweigert sich ein solcher Text jeglicher Bebilderung – selbst dann, wenn ein Teil der Sinnesreize in eine typologische Station des Alten Testaments (z. B. das Festmahl des Königs Ahasver als „secunda figura“ der „gaudia beatorum“) gleichsam ausgelagert wird. Ein auf 1425 datiertes, möglicherweise in Salzburg entstandenes Exemplar des Speculum humanae salvationis,[13] dessen Schreiber (eventuell auch Urheber der lavierten braunen Federzeichnungen) sich im Kolophon als „Nikolaus Weiss“ bezeichnet, sieht lediglich zwei musizierende Engel zu beiden Seiten einer Darstellung des thronenden Christus vor.

 

 

Souverän werden hier mit wenigen Federstrichen zwei vor allem im zentraleuropäischen Raum beheimatete Instrumentensonderformen skizziert, die dem Konzeptor des Zwickenberger Engelskonzerts (vgl. Kap. Liturgische Bodenhaftung) wohl reichlich „böhmisch“ vorgekommen sein dürften, aber für Nikolaus Weiss offenbar im Bereich des Vorstellungs- und damit des Darstellungsmöglichen lagen: die Harfe mit zwei Resonatoren[14] und das schlanke, gegenüber der regulären Form um 90° gedrehte Harfenpsalterium, bei dem die Saiten nicht in der Horizontalen, sondern – wie bei der Harfe – in der Vertikalen verlaufen.[15]

Dass dieses klanglich homogene Ensemble der basse musique dem Thema der Inkommensurabilität menschlicher Sinnesleistungen, des „Unsagbaren“, ja des „Unerhörten“ kaum gerecht werden kann, steht dabei auf einem anderen Blatt; viel eher hätte sich hier ein heterogen zusammengesetztes Engelskonzert mittlerer Größe angeboten – etwa nach Art jener in der älteren Literatur gerne für ein mittelalterliches „Spaltklangideal“[16] reklamierten, aber doch wohl eher praxisfernen Figurationen musizierender Engel, für die stellvertretend die Stamser Marienkrönungstafel angeführt werden kann (» Abb. Marienkrönung Stams).

[7] „Pictores quando beatorum gaudia designare volunt, angelos diversa instrumenta musica concrepantes depingunt. Quod ecclesia non permitteret nisi gaudia beatorum musica amplificari crederet.“ (Seay 1975, 168; Neuedition mit Kommentar und englischer Übersetzung bei Cullington/Strohm 1996, 69f.; vgl. auch Kirnbauer 2001 und Tammen 2007, 111–116).

[8] Seay 1975, 168.

[9] Lutz/Perdrizet 1907/1909, Bd. 1, Kap. 42, „De beatorum gaudia et eorum gloria“.

[10] „Gaudia beatorum tam multa sunt quod nequeunt numerari, / tam immensa et tam magna sunt quod nequeunt mensurari, / tam ineffabilia sunt quod nequeunt enarrari, / tam durabilia sunt quod nequeuntur terminari. / Gaudia que deus diligentibus se preparavit / oculus non vidit, aures non audiunt nec cor cogitat“ (Lutz/Perdrizet 1907/1909, Bd. 1, 86).

[11] „Ibi est omnis pulchritudo et amenitas obiecta visui, / ibi est omnis harmonia et melodia resonans auditum. / Ibi est omne delectamentum sufficiens olfactui, / ibi est omnis suavitas delicias prebens tactui. / Ibi est omnis dulcedo influens gustui…“ (Lutz/Perdrizet 1907/1909, Bd. 1, 86).

[12] „Ibi cithara David et musica Jubal essent absurditas“ (Lutz/Perdrizet 1907/1909, Bd. 1, 86).

[13] Ob in Abhängigkeit von einer entsprechenden älteren Vorlage böhmischer Provenienz konnte bis dato nicht geklärt werden, vgl. Roland (i. V.).

[14] Vgl. Kurfürst 1985; Rekonstruktionsversuch bei Goerge 2000 (unter irreführender Bezeichnung).

[15] Zu dieser Besonderheit vgl. Matoušek 1994, 209: „The practice of holding the psaltery upright was a practice indigenous to the Czech region.“ Siehe künftig auch Tammen (i. Dr.), Abschnitt V.2.

[16] Der Begriff dürfte auf Schneider 1931, 22–30 sowie Schering 1931, 11f. („Verschmelzung“ vs. „Zerspaltenheit“) zurückgehen.