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Positive Indizien zur Herkunft des Cantionarius Cod. 457/II

Reinhard Strohm

Die eingehende Inventarisierung der Handschrift Iu 457 erlaubt keine eindeutige Lokalisierung und Datierung“ (Jürg Stenzl).[96] Trotzdem belegt Stenzls Inventar die vorrangige Bedeutung von Konkordanzen mit böhmischen Quellen (» Kap. Konkordanzen). Die Zusammenstellung des Cantionarius scheint so erfolgt zu sein, dass man einer Sammlung lokal eingebürgerter Gesänge eine Gruppe neuer und auswärtiger Lieder hinzufügte, wofür man neue Quellen heranziehen konnte, vor allem die Prager Sammlung CZ-Pu V H 11 – falls nicht diese der Herstellung von Cod. 457/II sogar nachfolgte und das neuere Repertoire aus anderen böhmischen Quellen stammte.

Sieht man von den vermutlich böhmischen Stücken des Cantionarius ab, dann bleibt ein Grundstock von meist älterem Material, dessen hauptsächliche geographische Verbreitungszone – nach den heute erhaltenen Quellen zu urteilen – in der Steiermark (Seckau, St. Lambrecht, Neuberg), Ober- und Niederösterreich (Reichersberg, St. Florian; Göttweig, Gaming) und Wien liegt. Die seit Stenzls Inventar hinzugekommenen Konkordanzen ergeben vor allem Verbindungen zu den österreichisch-steirischen Territorien. Die Sequenz Nr. 30 „Salve proles Davidis“, die nur in Quellen des deutschsprachigen Raums vorkommt, soll in St. Florian () entstanden sein.[97] Mit St. Florian und Reichersberg sind – außer dem Domstift Seckau – zwei weitere Augustiner-Chorherrenstifte mit Verbindungen nach Böhmen genannt. Die Ordensherkunft des Cantionarius ist jedoch nicht einfach zu bestimmen. Mindestens eine wichtige Konkordanzhandschrift, LoD (GB-Lbl add. 27630), entstand in einem Kloster der Augustiner-Eremiten.[98] 

Mit dem benediktinischen Antiphonar aus St. Lambrecht (A-Gu Cod. 29) besteht vielleicht ein Zusammenhang, da „Constantes estote“ (Nr. 1) dort in deutschen Neumen und einer ähnlichen Fassung nachgetragen ist (» Notenbsp. Constantes estote).[99] Kann das Stück in dieser Notation und Fassung auf Cod. 457/II selbst beruhen? Auch die Konkordanzen mit der Seckauer Quelle A-Gu Cod. 756 legen einen Zusammenhang mit der Steiermark nahe. Der Cantionarius ist die älteste erhaltene Quelle für die Melodie der lateinisch-deutschen Marienklage „O filii ecclesie – O liben kint der cristenheit“ (» Kap. Überlieferung); die hier gewählten sprachlichen Formen, z.B. „nicht“ statt „nit“ in der letzten Zeile, passen besser zum östlichen Teil der Region Österreich als zu Tirol.

Nachträge in einem Seckauer Psalterium und Hymnar, A-Gu Cod. 392, fol. 260r-261v (1. Hälfte 15. Jh.), zeigen den charakteristischen Notationsstil von Cod. 457/II mit leicht nach rechts oben geschwungenen oberen Enden der Virga und Flexa und vielen schrägen Haarstrichen an beiden Seiten des Punctum (» Abb. Seckauer Psalterium).

Die Textschrift ist ganz verschieden. Dies ist freilich keine definitive Notationskonkordanz. Entfernter vergleichbar scheint auch die böhmisch beeinflusste Choralnotation in Nachträgen zu LoD, fol. 106v-109v.[100] Schon erwähnt (» Kap. Cod. 457/II: Die Nachträge) wurde die besondere Form der Kustoden auf fol. 91v, die auch in Wiener Quellen des frühen 15. Jahrhunderts vorkommt.

Die angegebenen Indizien führen zu dem Schluss, dass der Innsbrucker Cantionarius vermutlich im östlichen Teil der Region Österreich (am wahrscheinlichsten in der Steiermark) entstanden ist und von dort spätestens im mittleren 15. Jahrhundert nach Neustift/Novacella gebracht wurde, wo man ihn mit der Predigtsammlung Cod. 457/I zusammengebunden hat. Dass der Codex sich dort im 15. Jahrhundert befand, ist aufgrund des Einbands und der darin eingetragenen Erinnerungsnotiz (» Kap. Die Einbandnotizen) hochwahrscheinlich. In die Kartause Schnals dürfte er erst später gekommen sein, vielleicht im 16. Jahrhundert. Bei Annahme dieser Hypothese wäre der Innsbrucker Cantionarius nach MüC und LoD bereits die dritte Tropensammlung, die aus einem anderem Entstehungsort im 15. Jahrhundert in ein Augustiner-Chorherrenstift gelangt wäre. Zumindest würde das Schicksal des Cantionarius mit anderen derartigen Reiserouten „von Ost nach West“ zusammenpassen.

[96] Stenzl 2000, 183. Vgl. die Konkordanzentafel ebda., 191-194.

[97] Dreves-Blume-Bannister (AH) 1886 -1922, Nr. 54, 224, 356.

[98] Einflussreiche Augustiner-Eremitenklöster befanden sich in München und Wien.

[99] Die Konkordanz in A-Gu Cod. 29 für Nr. 1 bleibt bei Stenzl 2000 unberücksichtigt.

[100] Dömling 1972 (Faksimile); nicht ediert sind Nr. 80: „Pater noster/ Ave Maria“ mit Spottvers „Non est fides in boemo“ (fol. 109r) und Nr. 81 „Ave Maria gracia plena“ (fol. 109v).