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Cod. 457: Anlage, Ausstattung, Schrift, Datierung

Reinhard Strohm

Cod. 457 der Innsbrucker Bibliothek besteht aus zwei voneinander unabhängigen Teilen, die zusammen 107 Pergamentblätter umfassen. Diese sind modern foliiert als fol. 1-71 bzw. fol. 72-107. Das Pergament des ersten Teils ist dünn und von hoher Qualität, dasjenige des zweiten Teils gröber. Beide Teile wurden beim Binden (im 15. Jahrhundert) auf ein Quartformat von 239 x 171 mm beschnitten. Der zweite Teil – der Cantionarius – ist in drei Lagen (Sexternen) angeordnet: fol. 72-83, 84-95, 96-107.[12] Der Plan der Handschrift war offenbar auf diese drei Lagen begrenzt; es wurde nichts später an- oder eingebunden. Auf fol. 72r-73r findet sich besonderer Buchschmuck (Flechtbandinitialen mit Fleuronnée oder Froschlaichmotivik): » Abb. Iudea et Ierusalem.[13] Fol. 72r ist somit der ursprünglich geplante Beginn des Cantionarius.

Weitere Seiten sind nur mit einfachen roten, blauen und schwarzen Initialen verziert (z.B. fol. 79v-80r), die auf den nicht von der Haupthand beschriebenen Seiten fehlen, ebenso auf fol. 95r-v (Nr. 43). Auf fol. 85v, 90r, 92v-94v, 96r und 106r wurden vorgesehene Initialen nicht ausgeführt. Alle Seiten sind mit je acht Fünfliniensystemen in roter Tinte rastriert; fol. 86r enthält keine Notation. Die Texte von Folgestrophen sind meistens ohne Noten zwischen und über die Notensysteme geschrieben. Die vorwiegende Notationsart von Cod. 457/II sind „deutsche“ gotische Neumen auf Linien, die damals in der gesamten Region noch weit verbreitet waren.[14] In vielen von Hand 1 geschriebenen Stücken wird bei syllabischer Deklamation die Notationsform der Virga (Punkt mit Hals) weitgehend – jedoch nicht konsequent – vermieden: Dies könnte daran liegen, dass aus böhmischen Vorlagen kopiert wurde, denn die damalige böhmische („Metzer“) Notation verwendete keine Virgen.

Noten und Text des Cantionarius wurden größtenteils (fol. 72r-89v, 90v-92r, 95r-105v) von einer einzigen Hand geschrieben. Die Textschrift dieser Hand 1 ist eine auf die letzten drei Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts datierbare textualis cursiva. Hand 1 verwendet gelegentlich auch das offene „a“ der textualis (z.B. fol. 72r, fol. 104v). Charakteristisch sind die dreieckig abgewinkelten Schleifen der nach rechts gezogenen Oberlängen „l“, „b“ und „h“, während nach links gezogene Schleifen („d“) rund sind. Unterlängen, vor allem „m“ und „n“ am Wortende, sind oft weit nach links und rechts geschweift. Zweitbuchstaben und Initialen 2. Klasse sind sorgfältig hervorgehoben; typisch sind vertikale Mittelstriche bei „O“, „S“ usw.

Der Anteil von Hand 1 reicht bis zum vorletzten Blatt (fol. 106r, Zeile 5). Andere Hände füllten dazwischenliegende Seiten (fol. 90r, fol. 92v-94v) und zwei Blätter am Ende (fol. 106r-107v).[15] Eine so ungleiche Arbeitsverteilung ist in frühen Musikhandschriften häufig. Sie entspricht der sozialen Gruppierung „Meister – Gesellen“; im kirchlichen Kontext bedeutet sie vermutlich Zusammenarbeit zwischen einem Kantor und seinen Assistenten (Junkmeister, Sanggesellen, Astanten). Einige von Assistenten geschriebene Stücke verwenden Mensuralnotation, die einer moderneren Musikart entspricht: vgl. die mensural-einstimmigen Sanctus- und Agnus Dei-Vertonungen auf fol. 93v-94v (» Abb. Zwei Sanctus - Agnus Dei).

[12] Stenzl 2000, 147.

[13] Detaillierte Beschreibung bei Neuhauser 2008, 367.

[14] Weiteres zur Notation bei Zingerle 1925, 33-38.

[15] Die Bestimmung der Schreiberhände bei Neuhauser 2008, 367, wird hier generell bestätigt, jedoch z.T. modifiziert. Stenzl 2000, 147 und 161, nimmt auf fol. 86v-95v weitere Schreiberhände an. M.E. ist auf fol. 86v-89v, 90v-91r, 91v-92r (nur Text) und 95r-v trotz geringer Varianten der Musiknotation die Haupthand am Werk.