You are here

Mehrstimmigkeit im Innsbrucker Cantionarius

Reinhard Strohm

Die Feststellung, Cod. 457/II sei ein besonders altes und umfangreiches Zeugnis des Tropengesangs in der Region Österreich, erschöpft noch keineswegs dessen historische Bedeutung. Die Handschrift ist der Forschung wohlbekannt.[7] Doch fast die Hälfte der bisher erschienenen 87 Beiträge betreffen die 17 Stücke, die ganz oder teilweise mehrstimmig aufgezeichnet sind. Es handelt sich (mit einer Ausnahme) um nichtmensurale, zweistimmige Gesänge, die in „Partitur“, d.h. auf übereinanderstehenden Systemen mit vertikalen Abteilungsstrichen, notiert sind (» Abb. Iudea et Ierusalem).[8]

Abb. Iudea et Ierusalem

Abb. Iudea et Ierusalem

Responsorium zu Weihnachten Iudea et Ierusalem, und Beginn des Benedicamus-Tropus Procedentem sponsum, in » A-Iu Cod. 457 (Österreich, Ende 14. Jh.), fol. 72r. © Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, Innsbruck.

Öfters wechselt die Musik innerhalb eines Stücks von Einstimmigkeit zu Mehrstimmigkeit und zurück, wobei eine einzige Gruppe von Sängern alles ausführen konnte. Die zweistimmigen liturgischen Lesungen erklangen großenteils in klanglicher Rezitation, unterbrochen von melismatischen Abschnitten (» A. Kap. Lesungen). Abschnitte mit Melismen (Vokalisen) können spezialisierten Solisten überlassen worden sein: Eine solche Arbeitsteilung war jedoch ohnehin in der kirchlichen Choraltradition üblich und wurde nicht etwa zum Zweck der Mehrstimmigkeit eingeführt. Die Aufführung war derselben Musikergruppe zugedacht wie das traditionelle einstimmige Choralrepertoire (» A. Kap. Zweistimmiges Singen).

Im Seckauer Cantionarius sind die einzelnen Gesänge häufig als “Tropus” oder “Versus” bezeichnet. Der Innsbrucker Codex enthält fast keine Rubriken (Überschriften) für einzelne Gesänge; Begriffe wie “Tropus”, “Versus”, “Conductus” oder “Organum” kommen nicht vor.[9] Der Name “Organum” hat in Quellen des 14.-15. Jahrhunderts normalerweise nicht die Bedeutung eines einzelnen Stücks.[10] Der Gattungsbegriff für mehrstimmige Motetten ist in GB-Lbl add. 27630 “mutetus”, in D-Mbs Clm 5539 jedoch “tropus”.

Der Seckauer Cantionarius von 1345 enthält nur vier mehrstimmige Gesänge, der spätere Innsbrucker dagegen siebzehn, weshalb man vermuten könnte, dass Mehrstimmigkeit im 14. Jahrhundert in der Region allmählich eingeführt wurde. Dem scheinen mehrere Quellen zu widersprechen: Z.B. enthält ein Antiphonar des Benediktinerstifts St. Lambrecht (Steiermark) aus dem mittleren 14. Jahrhundert (A-Gu Cod. 29/30) nicht weniger als 31 Gesänge in nichtmensuraler Mehrstimmigkeit.[11] Diese Stücke, in gut lesbarer Quadratnotation, sind ein wichtiges Zeugnis für mehrstimmiges Singen in der Region. Jedoch sind sie meist keine Tropen und stehen nicht für sich in einem Cantionarius oder Tropar, sondern sind im Antiphonar an der jeweiligen liturgischen Stelle des Stundengebets notiert. Es scheint, dass Mehrstimmigkeit hier einen etwas anderen Stellenwert für die Ausführenden (und Hörer?) hatte als in den Cantionarien von Seckau und Innsbruck, wo sie den Tropen und den ad libitum-Gesängen zugeordnet wurde. Wahrscheinlich entsprachen solche Unterschiede der Praxis auch den Gepflogenheiten verschiedener Ordensgemeinschaften.

Die mehrstimmige Praxis der Cantionarien ist zu unterscheiden von einigen nichtmensural-mehrstimmigen Sätzen des Mönchs von Salzburg und Oswalds von Wolkenstein (» B. Non-mensural polyphony). Diese sind weltlich und deutsch textiert; sie repräsentieren die individuelle Kunst namentlich genannter Autoren, die sich an verschiedene mehrstimmige Techniken anlehnten, wie sie innerhalb und außerhalb der Region bekannt waren. Darunter waren auch einige aus den Cantionarien geläufige Stilarten; doch eine klösterliche Gemeinschaft, die an solche Stilarten gewohnt war, wäre von den individuell geformten mehrstimmigen Autorenliedern des Mönchs oder gar Oswalds sehr überfordert gewesen.

[7] Literaturverzeichnisse in Neuhauser 2008; Stenzl 2000; Reaney 1969 (RISM B IV.2), 333-335.

[9] Stenzl 2000, 148. Stenzl ergänzt „Versus super …“ mit Angabe des Trägerstücks als Rubriken für Tropen.

[10] Vgl. Handschin 1952. Andere Forscher bezeichnen auch ein einzelnes Stück als „organum“. Zur Abgrenzung gegenüber „Orgel“ bzw. „Orgelstück“ vgl. Göllner 1961, 111-114. Ein zweistimmiger Responsoriumsvers in A-Gu Cod. 29, fol. 303r-v, heißt „versus per discantum“; GB-Lbl add. 27630 (LoD) identifiziert zweistimmige Stücke mehrmals als „cum biscantu“. Die Bezeichnung „biscantus“ war im 14. Jahrhundert besonders in Italien gebräuchlich.

[11] Inhaltsverzeichnisse: Flotzinger 1989, Reaney 1969 (RISM B IV.2), 327-333. Vgl. » A. Kap. Zweistimmiges Singen (Alexander Rausch); » Abb. Conserva domine.