Handschriftliche Quellen zur Missa Salve diva parens
Ein repräsentatives Chorbuch wie » A-Wn Mus.Hs. 15495 (» D. Kap. Ein Geschenk für den frischgebackenen Kaiser: Das Alamire-Chorbuch A-Wn Mus.Hs. 15495) ist meist auf kostbarem Pergament geschrieben und diente nicht selten als Herrschergeschenk. Ob daraus in der Tat musiziert wurde, ist fraglich. Eher darf man annehmen, dass das Repertoire zum Singen noch einmal in andere Handschriften kopiert wurde, in sogenannte „Gebrauchshandschriften“. Auch diese können, wenn sie für eine Institution wie eine Hofkapelle bestimmt waren, als Chorbuch (mit allen Stimmen auf einer Doppelseite verteilt) angelegt sein, sind aber in der Ausgestaltung schlichter: So finden sich in ihnen z. B. kalligraphische anstatt von kunstvoll gemalten Initialen, Papier statt Pergament, einfacher gestaltete – und dadurch rascher zu schreibende – Text- und Notenzeichen.
Für die späte Aufnahme in den Prachtcodex A-Wn Mus.Hs. 15495 über 20 Jahre nach ihrem Entstehen wurde Obrechts Missa Salve diva parens eigens bearbeitet: So wurden etwa am Ende des „Sanctus“ zehn rhythmisch intrikate Mensuren einfach weggelassen; zudem wurden während der Kopiatur Stimmführungen verändert und altmodisch anmutende Unterterzklauseln oder Fauxbourdonwendungen getilgt (die Rasuren sind noch sichtbar!).[4]
Die sogenannten „Linzer Fragmente“ (» A-LIb Hs. 529; » Abb. Missa Salve diva parens, Linzer Fragmente) sind Überreste eines ganz anderen Handschriftentyps: Sie wurden sicher nicht zur Repräsentation gefertigt, sondern haben eher als Gebrauchs- bzw. Repertoirehandschrift fungiert. Einzelne Seiten legen sogar die Verwendung für instrumentale Aufführungen nahe (» Abb. Ein tagweiss). Die Handschrift ist um 1490–1492 entstanden, und zwar im (weiteren) Kontext der Hofkapelle Kaiser Friedrichs III., der die letzten Lebensjahre in Linz residierte.[5] Aufgezeichnet sind in den Fragmenten unter anderem zwei Messen von Obrecht, Heinrich Isaacs Motette Argentum et aurum (» Hörbsp. ♫ Argentum et aurum), aber auch anonyme Ordinariums- und Propriumsvertonungen, Hymnen, Magnificatvertonungen, Cantiones, deutsche Lieder und französische Chansons.[6] Die Missa Salve diva parens war in dieser Handschrift einst sicherlich vollständig notiert, heute ist nurmehr ein kurzer Abschnitt der Messe erhalten.[7]
Auf dieser Seite der Linzer Fragmente ist von der Missa Salve diva parens oben die Altus-Stimme (erstes „Osanna“) und darunter (im C4-Schlüssel) die Bassus-Stimme („Pleni sunt“ und erstes „Osanna“) zu sehen. Oben sind drei Systeme abgeschnitten (Beginn des „Pleni sunt“ im Altus); ganz unten fehlt ein Teil des Systems. Auf der gegenüberliegenden linken Seite wären die Discantus- und die Tenor-Stimme dieser Messabschnitte notiert gewesen.
Solche Überlieferungsfragmente (spät-)mittelalterlicher Musik existieren heute, da Buchbinder makuliertes Pergament bzw. Papier als Bindematerial in anderen Büchern weiterverwendeten. Auch nachdem die Kompositionen selbst niemanden mehr interessierten, blieb also der Wert des Trägermaterials bestehen. Bei dieser „Zweitverwertung“ wurden die Blätter – wie hier – häufig beschnitten und haben durch das Einbinden, Verkleben, Herauslösen etc. nicht selten weiteren Schaden erlitten.
[4] Näheres in Lodes 2009.
[5] Nach Friedrichs Tod im Jahr 1493 übernahm Maximilian Friedrichs Kapelle. – Reinhard Strohm, der erstmals ein Inventar dieser Fragmente erstellte, verortet die Fragmente eher im Kontext der Innsbrucker Hofmusik, als im Jahr 1490 Maximilian die dortige Verwaltung übernommen hatte (Strohm 1984; Strohm 1993, 523). – Die Fragmente wurden von Robert Klugseder im Rahmen des Forschungsprojekts Musikalische Quellen (9.–15. Jahrhundert) in der Österreichischen Nationalbibliothek digitalisiert und sind einzusehen unter http://www.cantusplanus.at/de-at/austriaca/Linz529/index.htm.
[6] Einige Neuidentifikationen, Rekonstruktionen und Editionen einzelner Stücke aus den Linzer Fragmenten durch Marc Lewon finden sich auf dessen Blog „Musikleben – Supplement“.
[7] Eine Visualisierung des Verhältnisses zwischen erhaltenem Fragment und ursprünglicher Handschriftenseite hat Marc Lewon am Beispiel von J’ay pris amours erstellt. Siehe „Musikleben – Supplement“.
[1] Hudson 1990, XI–XXXIV.
[2] Dazu Lodes 2008.
[3] Eine allgemein verständliche Einführung bietet Lindmayr-Brandl 2014b; in Lindmayr-Brandl 2014a finden sich auch konzise Einführungen in die Mensuralnotation (Lindmayr-Brandl 2014c), Tabulaturschriften (Aringer 2014) und Tanznotationen (Malkiewicz 2014).
[4] Näheres in Lodes 2009.
[5] Nach Friedrichs Tod im Jahr 1493 übernahm Maximilian Friedrichs Kapelle. – Reinhard Strohm, der erstmals ein Inventar dieser Fragmente erstellte, verortet die Fragmente eher im Kontext der Innsbrucker Hofmusik, als im Jahr 1490 Maximilian die dortige Verwaltung übernommen hatte (Strohm 1984; Strohm 1993, 523). – Die Fragmente wurden von Robert Klugseder im Rahmen des Forschungsprojekts Musikalische Quellen (9.–15. Jahrhundert) in der Österreichischen Nationalbibliothek digitalisiert und sind einzusehen unter http://www.cantusplanus.at/de-at/austriaca/Linz529/index.htm.
[6] Einige Neuidentifikationen, Rekonstruktionen und Editionen einzelner Stücke aus den Linzer Fragmenten durch Marc Lewon finden sich auf dessen Blog „Musikleben – Supplement“.
[7] Eine Visualisierung des Verhältnisses zwischen erhaltenem Fragment und ursprünglicher Handschriftenseite hat Marc Lewon am Beispiel von J’ay pris amours erstellt. Siehe „Musikleben – Supplement“.
[8] Die erfolgreich verkauften Bücher erfuhren – oft im Zeitraum weniger Jahre – bis zu vier Auflagen. Siehe Boorman 2006, bes. 411–413.
[9] Dazu Lodes 2001.
[10] Bei Petruccis Drucken mit weltlichen Gesängen (Canti), Motetten, aber auch Frottolen, wurde das Chorbuchformat noch lange beibehalten.
[11] Dazu grundsätzlich Genette 1989; Schwindt 2008.
[12] Boorman 2006, 360–366.
[13] Der einstige Verwendungszweck ist leider bei keinem dieser drei Exemplare nachweisbar:
Das Exemplar der Österreichischen Nationalbibliothek (» A-Wn SA.77.C.13/1–3; Bassstimmbuch fehlt; Digitalisat: http://data.onb.ac.at/rec/AC09200708) war mit insgesamt 13 weiteren Petrucci-Messendrucken (einer davon ist heute verschollen) zusammengebunden. Alle Messsätze in der Wiener Buchsammlung sind einzeln (bis Nr. 339) durchnummeriert. Darüber hinaus sind die Nummerierungen in zwei weiteren Petrucci-Drucken (bis Nr. 393) fortgesetzt, die heute in Venedig sind, offenbar aber einst mit dem in Wien befindlichen Band zusammengebunden waren. Dies könnte darauf hindeuten, dass die heute in Wien aufbewahrten Petrucci-Drucke möglicherweise erst im 19. Jahrhundert in die Österreichische Nationalbibliothek gekommen sind (dazu Boorman 2006, 349, 351, 493).
Ein weiteres Exemplar der Misse Obreht befindet sich heute im Franziskanerkloster Güssing im Burgenland (ohne Signatur; nur das Tenorstimmbuch ist erhalten). Auch dieses ist mit acht weiteren Messendrucken Petruccis zusammengebunden. Das Kloster Güssing wurde erst 1641 gegründet, daher handelt es sich um eine spätere Erwerbung bzw. Schenkung, wohl aus Kärnten oder Ungarn (dazu Federhofer 1963).
Das dritte im relevanten Raum erhaltene Exemplar, heute in der Bayerischen Staatsbibliothek in München (» D-Mbs 4° Mus.pr. 160/1; Digitalisat: http://stimmbuecher.digitale-sammlungen.de/view?id=bsb00072010), stammt wahrscheinlich aus Passau. Es ist mit zwei weiteren Petrucci-Drucken zusammengebunden, diesmal unter anderem mit einem Motettendruck (Motetti C von 1504) (vgl. Boorman 2006, 348 f., 685). Einige handschriftliche Eintragungen lassen erkennen, dass dieses Exemplar von Musikkundigen verwendet wurde (es gibt z. B. handschriftliche Verbesserungen von Druckfehlern bzw. eine zusätzliche handschriftliche „Fuga“ (= Kanon) am Ende des Altus-Stimmbuchs).
[14] Zum Rezipientenkreis der Petrucci-Drucke generell siehe Boorman 2006, 336–349.
[15] Vgl. dazu die Aufsätze in Lodes 2010.
[16] Dazu Lodes 2001 und Lodes 2002.
[17] Da dieser zweistimmige Abschnitt in drei wichtigen Quellen fehlt, schlägt Barton Hudson vor, dass er möglicherweise später (vielleicht gar nicht von Obrecht) zur Messe dazukomponiert worden sein könnte (Hudson 1990, XXf.).
[18] Entsprechende Sammlungen existieren auch für drei Stimmen („Tricinia“). In Formschneiders Triciniendruck (Nürnberg 1538) steht in einer bunten Mischung von 100 Stücken aus unterschiedlichen Gattungen auch das dreistimmige „Pleni sunt“ aus Obrechts Missa Salve diva parens.
[19] Jas 1999, 165; vgl. auch Verhaar 2014.
Empfohlene Zitierweise:
Birgit Lodes: “Medien mehrstimmiger Vokalmusik um 1500 (am Beispiel von Jacob Obrechts Missa Salve diva parens)”, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/medien-mehrstimmiger-vokalmusik-am-beispiel-von-obrechts-missa-salve-diva-parens> (2017).