Senfls Vermächtnis: Das Liederbuch München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. 3155
Durch wessen Hände ging die Handschrift D-Mbs Mus.ms. 3155?
Ein Erlass des Jahres 1874 im Königreich Bayern bestimmte, dass das Allgemeine Reichsarchiv in München eine Reihe von älteren Handschriften an die benachbarte Hofbibliothek abzugeben habe. Darunter befand sich auch eine kleinformatige Musikhandschrift mit 97 Liedern, die unter der heutigen Signatur Mus.ms. 3155 in der Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek verwahrt wird und als Digitalisat zugänglich ist.[1] Da die ehemaligen Archivbestände nicht nach der Provenienz geordnet waren, ist es nicht mehr nachvollziehbar, woher und auf welchem Wege das Notenmanuskript in den großen archivalischen Mischbestand kam.[2] (» Abb. Liederbuch D-Mbs Mus.ms. 3155, vorderer Einbanddeckel).
Unter bestimmten Prämissen spricht einiges dafür, dass der kompakte Kodex eine Hinterlassenschaft Ludwig Senfls ist, der 1543 als (inoffizieller) Hofkomponist Herzog Wilhelms IV. in München starb (» G. Ludwig Senfl). Doch anders als die großformatigen liturgischen Chorbücher in München, die unter seiner Ägide entstanden, kam die weltliche Musikalie nicht aus dem Kapellfundus direkt in den Bibliotheksbesitz, sondern auf Umwegen, deren letzte Station das Reichsarchiv war. Wenngleich die Annahme, das Büchlein sei an Senfls Lebensende sein Eigentum gewesen, durchaus plausibel ist, muss das nicht heißen, dass es ihm von Anbeginn gehörte. Das erlesene Erscheinungsbild der Quelle und ihr Inhalt lassen erkennen, dass hier jemand von Distinktion eine Retrospektive, vielleicht gar ein Memoriale des Liedlebens unter Kaiser Maximilian I. im Sinn hatte. Wichtigster Liedkomponist und sicher auch Liedsänger war aber im letzten Lebensjahrzehnt des 1519 in Wels verstorbenen habsburgischen Herrschers Ludwig Senfl. Seine Liedschöpfungen dominieren die fragliche Sammlung und setzen ihn als unangefochtenen Primus inter Pares des maximilianischen Liedschaffens in Szene.
Gleichwohl führt das kleine Buch vor Augen, dass der ambitionierte Plan nicht zu Ende geführt wurde. Am deutlichsten geht dies aus den zuletzt völlig leer gelassenen Blättern hervor, immerhin 29 von 133. Als man die vorgesehenen Papierlagen zu einem Kodex zusammenheftete, diese mit dem unterdessen etwas ramponierten, aber noch heute original erhaltenen Einband versah, rechnete man mit 58 mehr zu beschreibenden Seiten als heute mit Noten und Liedtexten gefüllt sind. Die drei letzten Lieder (Nr. 95–97), alle über denselben Tenor-Cantus firmus An aller Welt Schatz, Gut und Geld (mit dem Akrostichon* < ANNA) komponiert, wurden von einem ansonsten unbekannten Schreiber unter Verzicht auf die Wiedergabe des Liedtextes nachgetragen (fol. 101v–104r). Die von ihm beigefügten Autornamen „L S“ (Ludwig Senfl), „Jörg PLanckhemülleR“ (Georg Blankenmüller) und „ARnoldus de BrucK“ lassen kalkulieren, dass der Zusatz frühestens in den 1530er-Jahren, höchstwahrscheinlich aber im nächsten Jahrzehnt erfolgte.
Etwas mehr Ausdauer hatte der schreibende Vorgänger an den Tag gelegt, indem er die abgebrochene Liedsammlung ab fol. 86v mit 15 Liedern von „Lud: Sennfl“ bzw. „L. S.“ fortsetzte (Nr. 80–94). Dabei handelt es sich um solche Liedsätze, die nur in konkordanten Quellen der 1530er-Jahre auftauchen und teilweise mit Sicherheit nach Senfls Übertritt in die bayerische Hofkapelle 1523 entstanden sind: z. B. Mein Fleiß und Müh (S 230),[3] dessen Text nach der Schlacht von Pavia 1525 gedichtet wurde, oder Aus gutem Grund S 29, das Senfl offenbar 1530 für Anna von Ungarn schuf,[4] Obwohl auch eine Komposition vorkommt, die zu Senfls Erstlingswerken gehört und bereits in der Augsburger Handschrift D-As 2° Cod. 142a von ca. 1513/14 steht (So man lang macht S 283), hat es den Anschein, als sollte die Vielzahl von Senfl-Liedern des „maximilianischen“ Hauptteils mit aktuellem Material der folgenden bayerischen Periode ergänzt werden, um die so anspruchsvoll auftretende, aber Torso gebliebene ursprüngliche Sammlung würdig in eine Anthologie Senflscher Liedsätze umzuwandeln.
Dieses – seinerseits nicht abschließend realisierte – Vorhaben nimmt sich umso glaubhafter aus, als es sich bei dem Schreiber des ersten Nachtrags augenscheinlich um Lukas Wagenrieder handelt (» I. The court chapel of Maximilian I.). Wagenrieder kann als Senfls Intimus gelten,[5] denn er war sein langjähriger Kollege in der Stimmgruppe der Altisten. Schon unter Maximilian waren die beiden Gleichaltrigen als Sänger tätig; 1523 wie Senfl oder spätestens 1525/26 wurde Wagenrieder von Herzog Wilhelm IV. am Münchner Hof angestellt, und für die Jahre 1526 bis 1540 sind durch Briefe zahlreiche Kopistentätigkeiten Wagenrieders vornehmlich im Zusammenhang mit Werken Ludwig Senfls belegt; speziell in den Jahren 1536/37 schrieb er diverse Lieder seines Kollegen ab.[6] Wagenrieder, der Senfl um 14 Jahre überlebte, saß mithin an der Quelle dieses Repertoires. Zwar kennt man bis zum heutigen Tag kein Musiknotat, das mit seinem Namen stichhaltig als eine Abschrift Wagenrieders beglaubigt wäre, doch gibt es belastbare Indizien dafür, dass er die 15 Lieder im hinteren Teil von Mus.ms. 3155 (fol. 86v–101r) geschrieben hat. (» Abb. Lukas Wagenrieders Handschrift in D-Mbs Mus.ms. 3155.)
Zwei spezifische Merkmale seiner Textschrift finden sich hier wie in seinen erhaltenen Briefen: die runde, nach oben gewölbte Formung der Buchstaben m und n sowie der Usus, überzählige Wörter einer Zeile mit einem rechtwinkligen Haken an die vorherige Zeile anzubinden.[7] Da Buchstaben und Noten dieselbe Tintenfarbe aufweisen, kann auch als Notenschreiber Wagenrieder angenommen werden. Während die Eigenheit, den Diminutionsstrich im Mensurzeichen weit rechts zu platzieren, singulär ist, gehen die leicht tropfenförmigen Notenformen wohl auf ein Vorbild im (inoffiziellen) maximilianischen Notenskriptorium zurück, wie sie sich bereits in der Haupthand des Augsburger Manuskripts D-As 2° Cod. 142a finden.[8]
Wandlungen der Sammlungskonzeption von Mus.ms. 3155
Wagenrieders Eingreifen in die Fortführung von Mus.ms. 3155 nach einer größeren zeitlichen Pause ging mit einigen konzeptionellen Änderungen einher, die nicht zuletzt neuere Tendenzen sichtbar machen. Erwähnt wurde, dass er sich auf Lieder Ludwig Senfls beschränkte; zur Norm wurde nun auch Autorzuschreibung in Form von Initialen oder auch mit voller Namensnennung bei jedem Lied, desgleichen die vollständige Textunterlegung der ersten Strophe in der Tenorstimme, beim Nonsense-Lied Ich hab mich redlich ghalten (S 154) sogar aller Stimmen. Dass alle Textteile in einer unprätentiösen, rein der Information dienenden Alltagsschrift eingetragen wurden, illustriert wiederum die neue Absicht: statt Herstellung einer Preziose die Sicherung von Noten- und Gedichttexten, die zusammen mit den früheren Einträgen als Referenz für die Nachnutzung dienen konnten: So stehen bei Nr. 3 und 5, Senfls Liedern Was all mein Tag (S 323) und Kein Ding auf Erd (S 192), die später hinzugefügten, mutmaßlich als Kopieranweisung zu verstehenden Hinweise „Dies lied“ und „Das l[—]e lied“. Für diese offensichtliche Depotfunktion wurde der verfügbare materielle Beschreibstoff eines Buches herangezogen, dessen Disposition eigentlich nicht mehr dem nunmehrigen Standard entsprach (siehe dazu unten zum Layout). Möglicherweise wurde das Ansinnen auch deswegen nach wenigen Einträgen verworfen.
Der Auflösungsprozess der ehrgeizig verfolgten ursprünglichen Liedsammlung macht sich spätestens ab dem 55. Lied (fol. 61r), Heinrich Isaacs erotischem Es wollt ein Meidlein waschen gan, bemerkbar, das keinen vollständigen Liedtext mehr bietet. Das war bereits beim obszönen Ein Meidlein an dem Laden stand (Nr. 46, hypothetisch Senfl zugeschrieben *S 73) der Fall, doch ab dem 55. Lied werden fehlende Texte, teils sogar fehlende Textmarken, zur Normalität: in 15 Fällen der 25 Lieder bis Nr. 79. Allerdings handelt es sich fast immer um frivole Inhalte oder gut bekannte volksläufige Lieder wie Es taget vor dem Walde (Nr. 56 und 78) oder Ich stund an einem Morgen (Nr. 63 und 64), deren Texterfassung nur noch oberflächlich verfolgt wurde. Die Anpassung an zeitgemäße kompositorische Entwicklungen hatte sich zuletzt auch in der Aufnahme von fünfstimmigen Sätzen niedergeschlagen (Nr. 66–68, 71, 77, 78; im Wagenrieder-Teil Nr. 80, 81 und 92), obwohl das eine Herausforderung für das Layout bedeutete, da nun fünf statt vier Stimmen auf einer Aufschlagsseite unterzubringen waren.
Neben der laxer gehandhabten Textbereitstellung zeigt sich auch eine gewisse inhaltliche Erosion der fortgeschrittenen Sammlung. Zwar wurde schon mit Nr. 27 (Senfls Zwen Gsellen gut, S 355) ein Schwank im schnellen Erzähl-Dreiermetrum[9] aufgenommen, doch bleibt dieses humorige Lied ein Einzelfall inmitten einer homogenen Zusammenstellung von Liedern mit ernsten Themen und vor allem Liebesliedern. Dass sich unter diesen die eine oder andere ironische bzw. zornige Auslassung eines frustrierten Liebenden findet, ändert nichts daran, dass die beherrschende Majorität der Texte die edle Liebe in der Tradition der höfischen Liebe thematisiert, sei es als Frauenpreis, als Werbung, als Liebesversicherung, als Treueversprechen, als Ausdruck von Abschiedsschmerz – ganz konform mit dem Themenspektrum der gedruckten Liederbücher der 1510er-Jahre.
Bei dieser Liedkultur, die im Umfeld Kaiser Maximilians eine besondere Pflege erfuhr, handelte es sich um einen entschieden höfischen Kontext, was zuweilen wortwörtlich in den Texten benannt wird (etwa in Nr. 51 Zart höchste mein zu Beginn der dritten Strophe: „Ich mag nit das ain annd pas zw hof soll sein“ – „Ich will nicht, dass ein anderer bei Hofe als besser gelten soll“). Insofern gehören gelegentliche Zeitklagen über das Hofleben zum integralen Konzept. Doch ab Nr. 49 (Senfls Poch[en] trutzen S 265) verdichten sich diese gesellschaftskritischen Inhalte und kulminieren in Nr. 53 (Senfls Wiewohl viel härter Orden sind, S 341), einer sich in elf Strophen entrollenden unerbittlichen Abrechnung mit hinterhältigen sozialen Praktiken unter solchen „personen […] die tag vnnd nacht der fürsten höf bewonen“ (Strophe 1) – wohlweislich aus der Perspektive derjenigen, die „von pluet edl geporn“ (Strophe 4) sind und als Adlige mit dem kontinuierlichen Aufstieg Bürgerlicher in hohe Hofämter zu kämpfen hatten. Der rabiate, „unedle“ Ton des Liedtextes findet sein Pendant in der musikalischen Wahl eines wiederum hastigen ternären Metrums, das von solchen Verhältnissen detailreich berichtet. Das Herzstück der politischen Lieder bildet das möglicherweise Senfl zuzuschreibende Allem Gwalt folgt füglich nach *S 18 (Nr. 54), eine sechsstrophige Mahnung an einen Herrscher vor Machtmissbrauch. Die eindringliche Aussage wird mit flankierenden lateinischen Zitaten antiker und pseudoklassischer Autoren im Sinne der zeitgenössischen Rhetoriklehre untermauert. (» Abb. Humanistische Sentenzen in D-Mbs Mus.ms. 3155.) Der Eintrag fällt mit seiner humanistisch inspirierten Ausstattung aus dem Rahmen und signalisiert eine thematische Botschaft der Sammlung, die nicht schlichtweg nur einer neutralen Werksammlung dienen sollte.
Der Wandel der Sujets hin zu vermehrt kritischen, trivialen, humorigen und dem Text wie der Hauptmelodie nach altbekannten Liedern, verbunden mit kompositorischen Nuancierungen wie der öfteren Aufnahme von tripeltaktigen und fünfstimmigen Sätzen zeigt einerseits eine konzeptionelle Absicht an und spiegelt andererseits allgemeine Tendenzen der fortschreitenden Liedgeschichte wider.
Die Autoren von Mus.ms. 3155
Die Dominanz Ludwig Senfls als am häufigsten zu eruierender Urheber der Tonsätze deutet zwar auf eine maßgebliche Rolle des Komponisten bei der Kompilation des Ur-Kodex, doch ist er keinesfalls – wie im von Wagenrieder geschriebenen Teil – der einzige Autor. Vielmehr bekundet die Auswahl der 79 ursprünglichen Sätze, dass durchaus ein Querschnitt durch die Liedsituation der Regentschaft Kaiser Maximilians angestrebt war. Die Tatsache, dass im Hauptteil so wie in anderen Liedhandschriften und -drucken bis um 1520 keine Namen genannt sind,[10] erschwert allerdings die Einschätzung. Erst über Konkordanzen in späteren Quellen lassen sich 23 Sätze relativ sicher Senfl zuweisen, 14 weitere sind zweifelhaft. Die (wenigen) widersprüchlichen Autorangaben beziehen sich allerdings stets auf solche Komponisten aus dem maximilianischen Umfeld, die auch als Urheber anderer Lieder der Sammlung oder der zeitgenössischen Liedbuchdrucke eruiert werden konnten: auf seinen Lehrer Heinrich Isaac und den Wiener Organisten Wolfgang Grefinger.
Jeweils ein Lied weisen die Konkordanzen dem Singknaben Adam Rener zu, der als Erwachsener 1503 an Maximilians Hof als „Componist“ diente, Sixt Dietrich, dem aus Augsburg gebürtigem Sänger am Konstanzer Dom bis 1508, und dem „Machinger“ (d. h. aus Maichingen stammenden) Beat Widmann, ab 1505 Rat in württembergischen Diensten und auf dem Reichstag 1507 in Konstanz in Kontakt mit der habsburgischen Hofkapelle. Ob es wirklich um die bewusste Aufnahme von Liedern genau dieser Personen ging, ist fraglich, denn die drei Lieder sind auch in Erhard Öglins Augsburger Liederdruck von 1512 (»[68 Lieder]) enthalten. Indirekt bezeugt diese Publikation indes, dass sie zum maximilianischen Repertoire gehörten. Zweifellos war dies auch bei den sieben (oder neun) Liedern der Fall, die von einer anderen Autorität der Hofmusik, dem – übrigens mit Grefinger befreundeten – Organisten Paul Hofhaimer stammen. Die namentlichen Identifizierungen stehen oft genug auf tönernen Füßen, denn auch Angaben in späteren Quellen können irrig sein: Die „Nester-Methode“, die von einer blockweisen Eintragung mehrerer Stücke eines Autors ausgeht, ist äußerst fragwürdig, und stilistische Zuweisungen bzw. Ablehnungen sind immer stark risikobehaftet. Bei 27 Einträgen bleibt die Autorschaft bislang völlig ungelüftet.
Rätsel um Ach Gott wem soll ich klagen
Besonders enigmatisch ist der letzte Eintrag Nr. 79, der auf fol. 85v mit hellerer Tinte, also nach einer Schreibpause notiert wurde und mit einem Monogramm aufwartet: den ineinander verschlungenen Buchstaben G und S bzw. S und G (S seitenverkehrt),[11] die allerdings mit keinem Namen in Verbindung gebracht werden können (will man nicht mit dem Gedanken an den langjährigen Kapellsänger, hernach Kapellmeister und schließlich Bischof von Wien Georg Slatkonia spielen, dessen Kompositionstätigkeit zwar nur in Form eines kleineren geistlichen Werks belegt ist, der aber zur Riege der gewichtigen Hofmusiker gehört). Das Liebeslied selbst hatte an Maximilians Hof keine geringe Bedeutung, indem es eine neue VarianteB der Chanson En douleur et tristesse Noel Bauldeweyns (ca. 1480–nach 1513) darstellt. Die fünfstimmige Chanson des Magister cantorum in Mecheln, dem Regierungssitz von Maximilians Tochter Margarete, kursierte in Augsburg mit dem eingedeutschten Text Ach Gott wem soll ich klagen. Im dominierenden Kontext der Tenorlied-Produktion (» B. Kap. „Tenorlied“ und Stimmfunktionen) war es schon allein dadurch anschlussfähig, dass die ursprüngliche französische Liedmelodie nicht in der Oberstimme erklingt, was bei deutschen polyphonen Liedern die absolute Ausnahme ist, sondern kanonisch in der Satzmitte liegt, wo sie (wie bei vielen Tenorliedern) nach dreifacher Vorimitation, allerdings in der äußerst selten für einen Cantus firmus gewählten Altlage anhebt. Die völlig neu konzipierte Version in Mus.ms. 3155 ist indes keine Kontrafaktur, sondern eher eine Akkulturation in Form eines tadellosen, aber schlichten, kurzen Tenorlieds – nicht zuletzt dadurch, dass im zweiten Teil zitathafte Anklänge an die Melodie des verbreiteten Ich stund an einem Morgen aufflackern, das auch in Mus.ms. 3155 in zwei Vertonungen von Senfl S 167 und Isaac, Nr. 63 und 64, vertreten ist.[12] Auch Wagenrieder scheint sich an die Melodie des Anfangs erinnert zu haben, als er mit der Niederschrift des zweiten Teils der Handschrift begann, denn er versuchte, dem textlosen Eintrag den Text in der auch im Folgenden von ihm praktizierten Alltagsschrift beizulegen. Doch unterscheidet dieser sich bereits nach zwei Kurzversen von der üblichen Fassung und bricht dann gänzlich ab – insgesamt ein etwas unrühmliches Ende des ursprünglich hochfliegenden Plans einer repräsentativen Sammlung.
Hypothesen zum geplanten Projekt: der kodikologisch-paläographische Befund
Bis zum Jahr 1520 redigierte Senfl eine noch weit ambitioniertere Sammlung, den Liber selectarum cantionum (» K. Liber selectarum cantionum), der Motetten vereinigt, die am Kaiserhof eine wichtige Rolle gespielt hatten: Werke von Isaac und Senfl, die auch den Rahmen bilden, werden von solchen frankoflämischer „peers“ flankiert: La Rue, Mouton, Obrecht und vor allem Josquin. Obwohl noch immer nicht definitiv geklärt ist, wer der Initiator dieser Anthologie war, herrscht über ihre Funktion Konsens. Sie war „a project defined by the celebration of Maximilian’s court music“[13] – sei dieses Projekt noch zu Lebzeiten des Kaisers geplant oder sei es posthum entworfen oder zumindest modifiziert worden – und dann womöglich mit Blick auf zukünftige Verhältnisse in der Casa d’Austria, speziell unter Karl V. Doch es war ein Druck, und zwar ein Druck, der an Opulenz und Kostspieligkeit kaum zu überbieten war. Entstanden ist er in Augsburg, dem Ort, der seit Erhard Öglins Rückzug aus dem Musikdruck im Jahr 1513 keine polyphonen Notendrucke mehr hervorgebracht hatte. Auch das Druckergespann Grimm & Wyrsung, das sich der großen Mühe eines solchen musikalischen Produkts unterzog, ist ansonsten in dieser Sparte nicht hervorgetreten. Von einem regulären Notendruck für Mehrstimmigkeit kann (auch) in Augsburg zu dieser Zeit keine Rede sein. Als 1517 (nach 1512 und 1513 durch Öglin) eine dritte Liedpublikation der habsburgischen Komponisten aufgelegt wurde, hatte man schon auf eine auswärtige Offizin, die des Mainzers Peter Schöffer, zurückgreifen müssen.[14] Somit wäre ein eventuelles Parallelunternehmen zum Liber selectarum cantionum im schließlich weniger achtunggebietenden Liedgenre keine Option gewesen.
Die Frage, wie man im Liedermanuskript auf andere Art Repräsentativität gewährleisten konnte, beantwortete man zum einen mit erhöhtem kalligraphischem Aufwand und zum anderen mit der Wahl einer Präsentationsform, die im praktischen Gebrauch weltlicher Musik obsolet geworden war und eher antiquarische oder retrospektive Assoziationen hervorruft. Obwohl das kleine Querformat (13,5 x 20,5 cm mit einer Schreibfläche von ca. 12,0 x 18,5 cm) eher den handlichen Stimmbüchern der Zeit entspricht, werden die Lieder nicht wie sonst üblich als Set von Einzelstimmen präsentiert, sondern sind im Chorbuch-Layout niedergeschrieben, also einer Anordnungsweise, in der jede Stimme ihr eigenes Lesefeld auf der Aufschlagsdoppelseite erhält. So verfuhren frankoflämische und italienische Chansonniers seit jeher, auch wenn sie als oft pittoreske Kleinodien keinesfalls einem Sängerchor wie bei kirchlichen Chorbüchern dienen sollten, sondern allenfalls einer kleinen musizierenden Gruppe oder auch nur einem Betrachter oder einer Betrachterin von hohem Stand.
Beim (absichtsvollen oder absichtslosen) Bezug auf Chansonniers passte man in Mus.ms. 3155 das Layout auf die deutsche Spezifik des Tenorlieds an, indem auf den Verso-Seiten die Stimmen Diskant, Alt und Bass zu stehen kamen und, optisch davon getrennt, auf den Recto-Seiten die melodische Hauptstimme des Tenors. (» Abb. Chorbuchformat für weltliche Lieder: D-Mbs Mus.ms. 3155, fol. 24v–25r.)
In der Regel unterscheidet sich diese Stimme gattungskonform auch in visueller Hinsicht insofern von den anderen, als die Bewegung langsamer verläuft und daher größere Notenwerte sich von der Kleinteiligkeit und Bewegtheit auf der gegenüberliegenden Seite unterscheiden. Die Profilierung der gattungskonstitutiven musikalischen Anlage wird zudem dadurch betont, dass auf der Recto-Seite unter den Noten alle Textstrophen eingetragen sind. Das entspricht dem Verfahren der Chansonniers (dort mutatis mutandis bei der Oberstimmenkantilene) und der Praxis der Augsburger Lied-Stimmbuchdrucke, die ausschließlich im Tenor die Texte einrücken. (Welche Stimmen mit Text vorgetragen werden sollen, ist damit in keiner Weise vorherbestimmt.) Durch die blockhafte und vollständige Präsentation der Texte wird ihre Bedeutung im Rahmen eines dezidiert musico-poetischen Gattungstyps, wie es das höfische deutsche Lied um 1500 mit seiner gedrechselten lyrischen Dichtung darstellt, unmissverständlich markiert. Insofern ist es nachvollziehbar, dass bei der Wende zu vermehrt trivialen Einträgen die Textdokumentation aufgegeben wurde.
Das Manuskript verzichtet auf Bebilderung. Die einzige Ausnahme ist ein relativ unauffällig am Falz von fol. 34r mit einem Holzstempel platziertes Schwert bei Freundlicher Trost (Nr. 30), für dessen Tonsatz Hans Joachim Moser aufgrund des stilistischen Eindrucks Paul Hofhaimer geltend machen möchte.[15] (» Abb. Anonymes Lied Freundlicher Trost in D-Mbs Mus.ms. 3155, fol. 34r.) Die Darstellung verdeutlicht, um welche Art von Expedition es sich bei der „Rais“ der dritten Strophe der Trennungsklage handelt, wenn das Sprecher-Ich im Refrain jeweils seufzt: „bleib ich gantz ellend auf der fart“. Das Liebeslied macht sich zum Sprachrohr der Empfindungen eines Adligen bzw. schwerttragenden Ritters, der zu einem Feldzug aufbricht.
Abb. Anonymes Lied Freundlicher Trost in D-Mbs Mus.ms. 3155, fol. 34r.
Anonymes Lied Freundlicher Trost in D-Mbs Mus.ms. 3155, fol. 34r. (© Bayerische Staatsbibliothek München, D-Mbs Mus.ms. 3155, Bildnr. 77, urn:nbn:de:bvb:12–bsb00079140–7)
Von vielen Kompositionen ist bis heute der Autor unbekannt. Dieses Lied gehört zu einer Gruppe, die Moser 1929, 125 als „stilistisch ‚hofhaimernde‘ Sätze“ zusammenfasst. Die im Manuskript singuläre Illustration nimmt auf die bevorstehende mutmaßlich kriegerische Fahrt des Sprecher-Ichs emblematisch Bezug. „Frewnntlicher trost vnnd hertzigs ain, Von dier allein, thue ich mich sendlich schaiden |: O we mein hertz zerpricht, vnnd schwinnt, so ich nit find, die muet mit frewd khan klaiden. Als du mein zart, in dieser art, bleib ich ganntz ellend auf der fart“ (Strophe 1).
Obwohl das Fehlen von Illumination oder auch nur Kolorierung die Bezeichnung Prachthandschrift unangemessen erscheinen lässt, fehlt Buchschmuck nicht gänzlich. Wesentliches Element der Aufwertungsstrategie ist die kalligraphische Ausstattung der Textteile. Zu den dekorativen Ausschwüngen bei den Anfangsbuchstaben und den allgegenwärtigen Kringeln und sonstigen Zierelementen (vgl. » Abb. Humanistische Sentenzen und Abb. Chorbuchformat, Seite 2) gibt es in zeitgenössischen Musikalien keine Parallele, wohl aber bei offiziellen Dokumenten der (insbesondere habsburgischen) Kanzleien. Bezeichnenderweise finden sich diese geschwungenen Initialen und Kreisornamente auch in Maximilians einzigartigem Druckprojekt des Theuerdank von 1517. Als Textschreiber fungierte daher zweifellos nicht ein Musiker, sondern ein geübter Kanzlist, vermutlich aus der Hofkanzlei. Der Schrifttypus entspricht der völlig entindividualisierten Hand der Kanzleischreiber, wenn sie Dokumente mundierten, also unterzeichnungsfertig ins Reine schrieben. Für die Gedichttexte griff der Schreiber auf eine zwischen Fraktur und Kurrent liegende und schon von zeitgenössischen Schreibmeistern als „Kanzlei“ verbreitete Schrift zurück, wie sie für Kanzleien im Umfeld Maximilians am Ende der 1510er-Jahre spezifisch war, für die Stimmenbezeichnungen (fol. 83v–85r) auf eine Auszeichnungsschrift in Fraktur, die noch von der hochstilisierten gotischen Buchschrift der so genannten Textualis formata beeinflusst ist. Bei den lateinischen Texten der Nr. 54 stellt er unter Beweis, dass er auch mit aktuellen nicht-gotischen Schriften vertraut war (» Abb. Humanistische Sentenzen): Für die Sentenzen wählte er eine humanistische Minuskel, für die Zitate am Rand eine aus Italien importierte formalisierte Kanzleischrift (u.a. erkennbar am um den folgenden Buchstaben geschlungenen „C“ am Wortanfang, z. B. bei „Corona“ und „Cum“, wie es der päpstliche Schreiber Ludovico degli Arrighi praktizierte und in einem einflussreichen Lehrbuch 1522 kodifizierte). Dieses Detail ist deshalb von Belang, weil diese von den italienischen Schreibmeistern des 16. Jahrhunderts als Cancelleresca formatella bezeichnete Schrift nördlich der Alpen erst in den 1520er-Jahren vermehrt auftaucht und selbst in die Schreibpraxis der habsburgischen Kanzlei erst in den 1510er-Jahren allmählich über Vermittlung der an der Kurie tätigen Prokuratoren Maximilians und seine humanistisch gesinnten Sekretäre Eingang gefunden hatte. Der Schriftbefund liefert somit nicht nur Anhaltspunkte dafür, dass die Liedersammlung wohl im Umfeld der habsburgischen Kanzlei und unter Mitwirkung eines dort zu verortenden professionellen Schreibers entstanden ist, sondern dass dies erst nach Maximilians Tod geschah.[16] Zumindest ist für die Einträge um Nr. 54 dieser Zeitkorridor zwischen 1520 und Senfls Weggang aus Augsburg, 1523, zu taxieren.
Wer im ersten Teil die Noten geschrieben hat, ist regelmäßigen Mutmaßungen zum Trotz nicht klar. Sie Senfl zuzuweisen, ist aufgrund der allgemeinen Umstände der Entstehung und des Inhalts des Manuskripts naheliegend, krankt aber an der einfachen Tatsache, dass es – wie im oben beschriebenen Fall Wagenrieders – kein erwiesenes Notenautograph Senfls gibt und die stark formalisierte Texthand nicht aussagekräftig ist. Es besteht hinsichtlich Notenformen, Duktus und charakteristischem C- und F-Schlüssel eine sehr große Nähe zu Hand B des Augsburger Manuskripts 2° Cod 142a, die dort Senfls Motette Surge virgo P 111 (fol. 2v–5r) eingetragen hat. Der Notist entstammt somit sicher dem kaiserlich-augsburgischen Umfeld. Falls er mit Senfl zu identifizieren wäre, muss man allerdings einräumen, dass ihm in Mus.ms. 3155 einige Lapsus unterlaufen sind, die man dem gestandenen Komponisten nur ungern unterstellen möchte.[17] Dennoch ist dies nicht ausgeschlossen, und die Frage, ob die Noten des ersten Teils des Manuskripts von Senfl niedergeschrieben wurden, bleibt unbeantwortet.
An der Tintenfarbe ist erkennbar, dass der Notenschreiber vor Nr. 45 (fol. 48v) eine Pause einlegte, so dass dieses Lied und die Diskantstimme von Nr. 46 (fol. 49v) in hellerer, verdünnter Tinte eingetragen wurden. Bezeichnenderweise ist dies die Stelle im Manuskript, an der auch die ersten Anzeichen für den Konzeptionswandel erkennbar sind. Solche am Farbwechsel ablesbare Schreibpausen, die auf einen unregelmäßigen Kopiervorgang deuten, kennzeichnen die folgenden Einträge noch mehrfach. Ein Blick auf die Tintenqualität erhellt generell, dass Noten und Text der einzelnen Lieder nicht gleichzeitig, sondern in getrennten Eintragsphasen notiert wurden.
Klassische Hilfsmittel der Eingrenzung wie Papier und Einband können derzeit ebenfalls nicht für eine exakte Datierung, sondern nur für eine zu vermutende lokale Herkunftsbestimmung herangezogen werden. Aufgrund der Anordnung der 19 Lagen und der darin jeweils verwendeten Papiere ist festzustellen, dass die Fortsetzung nachträglich mit der Ur-Sammlung vereinigt wurde. Der erste Teil verwendet ein Papier, wie es im Umkreis habsburgischer Archivalien und Literalien verbreitet ist; es trägt ein in zwei Größen vorkommendes Wasserzeichen (Anker im Kreis mit zweikonturigem Stern),[18] für das aber bislang kein vollkommen identisches Parallelpapier registriert ist. Das Papier des zweiten Teils trägt ebenfalls ein in seinen exakten Dimensionen bisher nur hier nachgewiesenes Wasserzeichen (Armbrust im Kreis mit Lilie).[19] Da es auch für die Vorsatzblätter verwendet wurde, ist klar, dass es erst nachträglich mit den Lagen des Hauptteils kombiniert wurde.
Diese Vereinigung zweier nicht ursprünglich zusammengehöriger Teile ist auch daran erkennbar, dass – vermutlich für den Bindeakt – die Blätter des ersten Teils beschnitten wurden und einige Randbereiche (auch ein Wortteil im nachgetragenen Text von Ach Gott wem soll ich klagen) verloren gingen. Die Einbandgestaltung liefert nur schwache Indizien zur Provenienz. Der Kalbsledereinband (vgl. » Abb. Liederbuch D-Mbs Mus.ms. 3155, vorderer Einbanddeckel) wurde mit Rollstempeln aufwendig dekoriert, deren Prägemotive in Augsburg Verwendung fanden,[20] so dass eine Bindung wohl in Augsburg stattfand, ohne dass der Zeitpunkt näher angegeben werden könnte. Immerhin lässt der Bindeaufwand erkennen, dass es eine einigermaßen solvente Person gewesen sein muss, die ein Interesse an einer ästhetischen Liedkodifikation hatte, auch nachdem sich der ursprüngliche Plan zerschlagen hatte.
Hypothesen zum geplanten Projekt: der inhaltliche Befund von Mus.ms. 3155
Auch wenn Senfl nicht zweifelsfrei als Schreiber der Handschrift nachweisbar ist, bleibt seine Funktion als musikalischer Spiritus Rector des Unternehmens äußerst wahrscheinlich. Er untermauerte seine Rolle als dominierender Liedkomponist der späten Aetas Maximiliana nicht nur in quantitativer Hinsicht, sondern auch durch die Eröffnung der Sammlung mit einem Werk aus seiner eigenen Feder. Kein Höhers lebt noch schwebt S 194, 1544 vom Herausgeber Johann Ott in einem Druck „Ludouicus Senfflius“ zugewiesen, ist zwar im Unterschied zur Praxis in Chansonniers und in früheren deutschen Liedquellen kein marianischer oder überhaupt geistlicher Text, der als imaginärer Schutzmantel über das Folgende dienen soll, aber es erfüllt eine ähnliche, säkularisierte Funktion, die sich stark von der der anschließenden Liebeslieder abhebt. Als Schutzmacht angerufen wird nämlich – allegorisiert als über dem Reich schwebender Adler – Maximilian selbst, der Inhaber der „Kayserlichen Kron“ (Strophe 1). In den atypischen fünf Strophen, von denen Ott später nur gattungsübliche drei wiedergeben sollte, wird die Identifikation des Herrschers noch mehrfach durch Details gestützt, die den Zeitgenossen entschlüsselbar waren: die erneute päpstliche Verleihung des geweihten Huts und des Schwerts durch den Legaten Cajetan auf dem Augsburger Reichstag 1518 (Strophe 2), die erst 1515 durch die Wiener Doppelhochzeit[21] seiner Enkelkinder mit jagellonischen und ungarischen Erben einigermaßen befriedeten Feindseligkeiten mit Matthias Corvinus („Rabe“) bzw. dessen Sohn Johann und das Zitat seiner Devise „Tene mensuram“/„Halt Maß“ (Strophe 4). (» Notenbsp. Kain höhers lebt; »Hörbsp.♫ Kain höhers lebt).
Der Bezug auf Strategien des Regenten, sich seine Gefolgsleute loyal zu halten („hellt frid vnd Glaid den Jungen sein“, Strophe 1), führt zum Urheber des Liedtextes: Siegmund von Dietrichstein (1484–1533), von Jugend an einer von Maximilians Lieblingsgetreuen, über den er ein wahres Füllhorn an materiellen und immateriellen Gunstbezeugungen ausschüttete. Neben zahlreichen Liegenschaften überantwortete der Kaiser ihm zuletzt als steirischem Landeshauptmann „purkh, statt, tiergart“ Graz (Strophe 3), wohin er die minderjährigen, frisch verheirateten kaiserlichen Erbinnen Maria und Anna mitnahm. Durch eine von Maximilian arrangierte und symbolisch im Rahmen der Feierlichkeiten von 1515 abgehaltene Hochzeit stieg er in den Hochadel auf. Geistesverwandt waren die beiden Männer in Sachen Maßhalten, die den Jüngeren 1517 zur Gründung eines Mäßigkeitsordens motivierte, im Venezianerkrieg kämpften sie gemeinsam (Strophe 2). In administrativer und finanztechnischer Hinsicht hatte er sich für Maximilian unentbehrlich gemacht. Vor allem aber war der sprachlich begabte Dietrichstein, der seinen Dienst als persönlicher Sekretär begonnen hatte, die rechte Hand des Kaisers bei dessen literarischen Großprojekten, insbesondere beim Theuerdank, zu dem er das Unfalo-Kapitel beitrug. Er hatte nicht nur allen Anlass, seinem Herrn zu danken und um seine weitere Gunst zu bitten (Strophe 5), sondern auch die poetische Befähigung dazu. Der Autor des Eröffnungsgedichts kann niemand anderes als Dietrichstein sein, der Zeitpunkt der Entstehung des Liedes 1518.[22]
Dieses Lied an den Kopf einer vom Erscheinungsbild her ungewöhnlichen Retrospektive zu setzen, ist insbesondere dann verständlich, wenn ihre Herstellung auch vom Dankenden patroniert wurde. Es dürfte mehr als pure Spekulation sein, in dem als Kunstliebhaber bekannten[23] Dietrichstein den Motor, mindestens aber den Förderer der Sammlung zu sehen. Ob die Idee noch vor dem Tod Maximilians im Januar 1519 geboren wurde oder das Ende der Herrschaft den Ausschlag für den Rückblick gab, ist kaum zu sagen. Nicht nur Senfl hielt sich in den Jahren nach der Auflösung der Kapelle in Augsburg auf, wo er sich stellungslos als vielseitiger Musiker und insbesondere als Liedkomponist ins Gespräch zu bringen suchte. Auch Dietrichstein war nach der Wahl Karls V. Mitglied des vom designierten Kaiser eingerichteten so genannten Augsburger Regiments, das unter anderem im Sommer 1520 in der Stadt zusammenkam. Nicht zuletzt aufgrund seiner unerschütterlichen Loyalität zu Maximilian über dessen Tod hinaus war Dietrichstein wiederholten Animositäten seiner politischen Kontrahenten ausgesetzt, so dass er zeitweilig erwog, sich ins Privatleben zurückzuziehen. (» Abb. Siegmund von Dietrichstein, 1484-1533).
Ein hypothetisches Szenario für Mus.ms. 3155
Die mehrfachen konzeptionellen Veränderungen, die das Manuskript erfahren hat, passen zu einem denkbaren Ablauf der Geschehnisse, der folgendermaßen beschrieben werden könnte: Analog zum geistlichen Liber selectarum cantionum entstand in Augsburg der kleiner dimensionierte, dennoch hochgesteckte Plan eines erlesenen weltlichen Denkmals der maximilianischen Hofmusik bzw. deren wichtigster weltlicher Gattung, des polyphonen Liedes – sei es als persönliches Erinnerungsstück, sei es als Objekt, das einer wichtigen Person übereignet werden sollte. Treibende Kraft war Siegmund von Dietrichstein, der Ludwig Senfl als Redaktor und hauptsächlichen musikalischen Repräsentanten mit der Durchführung betraute und ihm einen erfahrenen Kanzlisten zur Seite stellte. Die Zeitläufte vereitelten die anvisierte Vollendung einer Sammlung von Liedern, die sich dem klassischen Liebeslied und nobler Gesinnung verschreiben, statt dessen verschoben sich zuletzt die Sujets der von Senfl ausgewählten Lieder vermehrt ins Triviale und „Volkstümliche“ sowie ins Politische. Das nicht angemessen abgeschlossene, sondern nur notdürftig zu Ende gebrachte Manuskript blieb in Form ungebundener Faszikel bei Senfl, der es nach seiner und Wagenrieders Anstellung bei Herzog Wilhelm von Bayern mit nach München nahm. Entweder war es noch in Augsburg mit neuen Papierlagen erweitert und gebunden worden oder dieser Plan einer Fortsetzung wurde erst in München gefasst und nun als Senflsches Liedkompendium angegangen. Aber auch die pragmatisch gedachten Nachträge von der Hand Wagenrieders blieben Stückwerk. In den 1540er-Jahren fügte jemand Drittes noch drei weitere, aktuelle Lieder hinzu und der anachronistische Kodex ging in andere Hände über, bevor sich seine Spur in einem unbekannten bayerischen Fundus verlor.
Die heutige Bedeutung des Liedmanuskripts Mus.ms. 3155
Auch wenn sich die genuine Absicht eines musico-poetischen Monuments der maximilianischen Liedkultur nicht in Gänze realisieren ließ, ist der Kodex heute ein überaus wichtiges und aussagekräftiges Schriftstück. Nicht nur, dass es die Wertschätzung dokumentiert, die der Gattung im Hause Habsburg und in dessen Umfeld entgegengebracht wurde, es ist auch für die heutige Kenntnis des Liedkorpus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine zentrale Quelle. 19 der insgesamt 97 Tonsätze sind unikal überliefert,[24] von acht Liedern bietet es als einzige Quelle den vollständigen Stimmensatz.[25] Die Qualität des musikalischen Textes ist außerordentlich gut, Fehler und Versehen wurden unmittelbar in den Noten oder nach einem Korrekturdurchgang am Rand berichtigt, es bleiben nur sehr wenige zweifelhafte Lesarten. Die Gedichttexte hingegen wurden redaktionell weniger genau betreut, sie weisen nicht nur die zeittypische orthographische Unbeständigkeit auf, sondern es fehlen gelegentlich ganze Wörter und Verse. Dieses Manko blieb vor allem deshalb unentdeckt, weil das (im Inneren makellose) Manuskript nicht als Musiziermaterial gebraucht wurde, so dass Ad-hoc-Korrekturen generell unterblieben.
Die inhaltliche Zusammenstellung repräsentiert keinesfalls eine ausgewogene Gesamtschau des maximilianischen Liedes, vielmehr ist die Auswahl von der bestimmenden Größe Ludwig Senfls geprägt, der gleichwohl seine kompositorischen Wurzeln in Erscheinung treten lässt.
[2] Für die Vermutung, die Handschrift sei in den Besitz des bayerischen Herzogs gekommen und habe dort vor der Makulierung bewahrt werden können (Hell 1987, 72f.), gibt es keine Belege.
[3] Hier und im Folgenden Nummerierung nach Gasch -Tröster - Lodes 2019; siehe auch www.senflonline.com. Nummern mit * sind „questionable“, d. h. sie sind Senfl von der Forschung teils mehr, teils weniger gut begründet zugeschrieben oder sind auch unter einem anderen Namen überliefert. Die den Ziffern vorgesetzten Buchstaben bezeichnen die Gattung (S = Song, P = Proper Setting).
[4] Argumente für Datierung und Anlass bei Lodes 2013, 192–196.
[5] Vgl. Schwindt 2018a, 11–14.
[6] Siehe Gasch 2012, Anhang 1, S. 429–439.
[7] Birkendorf 1994, Bd. 1, S. 46; Bd. 2, S. 116 (Abb. 78).
[8] Falls es sich bei Hand A im Augsburger Manuskript nicht ohnehin bereits um den jungen Wagenrieder handelt, zumal die Kennzeichen der Textschrift ebenfalls starke Ähnlichkeiten aufweisen (siehe D-As 2° Cod. 142a, fol. 8v, 9v, 15v, 17v, 23v, 29v, 30v, 35v und öfter).
[9] Dabei hat das Metrum vor allem die Funktion, die beständige Abwechslung von langen/betonten und kurzen/unbetonten Textsilben abzubilden und so einen narrativen Duktus zu erzeugen (siehe Schwindt 2018 b, 54–57). Die Tradition geht auf den einstimmigen Solovortrag zurück, wobei die Tondauern im Vortrag flexibel und sprachnah modifiziert werden. Das Phänomen wurde von Marc Lewon beschrieben und mit dem Begriff „Referenzrhythmus“ erfasst (siehe u.a. Lewon 2016, 96–100).
[10] Eine Ausnahme mit partieller Autornennung stellt das erste erhaltene Liederbuch Peter Schöffers d. J. aus dem Jahr 1513 dar (» [Lieder für 3-4 Stimmen], Mainz: Peter Schöffer d.J., 1513). Der Grund liegt in der offensichtlichen Intention des Drucks, die beiden Höfe Württemberg (Stuttgart) im ersten Teil und Kurpfalz (Heidelberg) im zweiten Teil mit der Nennung ihrer jeweiligen Liedverfasser musikalisch zu repräsentieren, was eine mediale Reaktion auf die Doppelhochzeit von Sibylle und Sabine von Bayern mit Kurfürst Ludwig bzw. Herzog Ulrich am 23. Februar und 2. März 1511 war (siehe Nicole Schwindt, „Die Macht der Gefühle zum Klingen gebracht – Frauenbilder und Liebeskonzepte im Liebeslied am Hof Herzog Ulrichs“, in: Frauen. Liebe Macht Kunst. Weibliche Lebensentwürfe an südwestdeutschen Höfen, hrsg. von den Staatlichen Schlössern und Gärten Baden-Württemberg, in Vorb. Nur in ganz vereinzelten Ausnahmefällen fügen Schweizer Liedquellen des frühen 16. Jahrhunderts Initialen als Autorzuschreibung bei.
[11] Hell 1987, 130f. hat die Initialen – in keiner Weise nachvollziehbar – als LSS gelesen und als Ludwig Senfl Schweizer aufgelöst.
[12] Ausführlich zu den Fassungen und der Chronologie der Liedfamilie.Schwindt 2010, 49–62, Partitur des Liedes auf S. 57.
[14] Im Schöffer-Liederbuch von 1517 (Detailangaben im Verzeichnis deutscher Musikfrühdrucke, siehe http://www.vdm16.sbg.ac.at, Nr. 16) gibt es neun Konkordanzen mit dem ersten Teil von Mus.ms. 3155: Nr. 8, 10, 11, 13, 22, 42, 45, 70 und 76.
[15] Moser 1929, 125. Das Lied wurde bereits in Öglins erstem Liederbuch von 1512 gedruckt (Nr. 12).
[16] Mit dieser Einschätzung des paläographischen Befunds, für die ich PD Dr. Andreas Zajic, Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien, zu Dank verpflichtet bin, erübrigen sich die verschiedenen im musikwissenschaftlichen Schrifttum unternommenen Versuche, die Textschrift mit Senfls Gebrauchsschrift zu identifizieren. Beispiele für die genannten Typen finden sich in: https://tinyurl.com/Schrifttypen.
[17] Nr. 48 Lieblich hab ich, fol. 51v, Alt, beim Übergang zur 2. Zeile irrtümlich C3- statt C2-Schlüssel, was dissonante Terzversetzungen produziert, auch der zur Kontrolle heranzuziehende Schlussklang wäre ein Terz- statt ein Quintklang. Nr. 9 Inbrünstiglich, fol. 12v–13r, endet mit einem unzeitgemäßen Dreiklang A-e-e‘, dessen Dezime c‘ im Alt in den Schlusston h geführt wird. Nr. 39 In rechter Lieb, fol. 42v, Diskant, 1. Zeile, neuntletzte Note fälschlicherweise punktierte Semibrevis (Punkt im Manuskript mit Bleistift eingekreist). Nr. 49, Ludwig Senfl, Poch[en] trutzen, fol. 52v, Bass, letzte Zeile, 18. Note von hinten irrtümlich Semibrevis G statt A vor der Pause, was in der Binnenkadenz eine None zum Tenor ergibt.
[18] Thermographie-Aufnahmen der Bayerischen Staatsbibliothek: https://www.wasserzeichen-online.de/wzis/struktur.php?ref=DE5580-Musms3155_76 und https://www.wasserzeichen-online.de/wzis/struktur.php?ref=DE5580-Musms3155_50. Ich danke Frau Dr. Veronika Giglberger sehr für ihr Entgegenkommen bei der Autopsie und ihre Hilfsbereitschaft bei der Bereitstellung von bibliotheksinternen Informationen.
[20] Siehe die Einbanddatenbank http://www.hist-einband.de/?ws=w002482; hier sind die Motive Flechtwerk und Wilder Mann erfasst. Die seit dem späten 15. Jahrhundert arbeitende Augsburger Werkstatt band vermutlich auch die Bücher des Orientalisten Johann Albrecht Widmannstetter, dessen Privatbibliothek 1558 vom bayerischen Herzog Albrecht V. erworben wurde. Im Zusammenhang mit dem Übergang von in Augsburg gebundenen Buchbeständen nach München steht vielleicht auch die Tatsache, dass sich in der Bayerischen Staatsbibliothek eine Musikalie befindet (4o Mus.pr. 182), die zwei Drucke des Jahres 1543 enthält und deren Einband das Motiv des Wilden Mannes aufweist. Hell 1987, 72, der auf diese Koinzidenz hinwies, vermerkt selbst, dass „Rollen in einer Buchbinderwerkstatt immer über einen längeren Zeitraum verwendet“ wurden.
[21] Siehe » D. Music for a Royal entry.
[22] Für eine Transkription und Prosaübersetzung sowie detaillierte Interpretation des Liedtextes siehe Schwindt 2018c, 239–243 und 548.
[23] von Moltke 1970, 39.
[24] Nr. 9, 15, 19, 21, 25, 43, 44, 48, 51, 52, 54, 56, 59, 62, 72, 79, 91, 96 und 97.
[25] Nr. 11, 13, 14, 45, 58, 74, 89 und 93.
Empfohlene Zitierweise:
Nicole Schwindt: „Senfls Vermächtnis: Das Liederbuch München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. 3155“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/senfls-vermaechtnis-das-liederbuch-muenc… (2021).