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Wandlungen der Sammlungskonzeption von Mus.ms. 3155

Nicole Schwindt

 

 

Wagenrieders Eingreifen in die Fortführung von Mus.ms. 3155 nach einer größeren zeitlichen Pause ging mit einigen konzeptionellen Änderungen einher, die nicht zuletzt neuere Tendenzen sichtbar machen. Erwähnt wurde, dass er sich auf Lieder Ludwig Senfls beschränkte; zur Norm wurde nun auch Autorzuschreibung in Form von Initialen oder auch mit voller Namensnennung bei jedem Lied, desgleichen die vollständige Textunterlegung der ersten Strophe in der Tenorstimme, beim Nonsense-Lied Ich hab mich redlich ghalten (S 154) sogar aller Stimmen. Dass alle Textteile in einer unprätentiösen, rein der Information dienenden Alltagsschrift eingetragen wurden, illustriert wiederum die neue Absicht: statt Herstellung einer Preziose die Sicherung von Noten- und Gedichttexten, die zusammen mit den früheren Einträgen als Referenz für die Nachnutzung dienen konnten: So stehen bei Nr. 3 und 5, Senfls Liedern Was all mein Tag (S 323) und Kein Ding auf Erd (S 192), die später hinzugefügten, mutmaßlich als Kopieranweisung zu verstehenden Hinweise „Dies lied“ und „Das l[—]e lied“. Für diese offensichtliche Depotfunktion wurde der verfügbare materielle Beschreibstoff eines Buches herangezogen, dessen Disposition eigentlich nicht mehr dem nunmehrigen Standard entsprach (siehe dazu unten zum Layout). Möglicherweise wurde das Ansinnen auch deswegen nach wenigen Einträgen verworfen.

Der Auflösungsprozess der ehrgeizig verfolgten ursprünglichen Liedsammlung macht sich spätestens ab dem 55. Lied (fol. 61r), Heinrich Isaacs erotischem Es wollt ein Meidlein waschen gan, bemerkbar, das keinen vollständigen Liedtext mehr bietet. Das war bereits beim obszönen Ein Meidlein an dem Laden stand (Nr. 46, hypothetisch Senfl zugeschrieben *S 73) der Fall, doch ab dem 55. Lied werden fehlende Texte, teils sogar fehlende Textmarken, zur Normalität: in 15 Fällen der 25 Lieder bis Nr. 79. Allerdings handelt es sich fast immer um frivole Inhalte oder gut bekannte volksläufige Lieder wie Es taget vor dem Walde (Nr. 56 und 78) oder Ich stund an einem Morgen (Nr. 63 und 64), deren Texterfassung nur noch oberflächlich verfolgt wurde. Die Anpassung an zeitgemäße kompositorische Entwicklungen hatte sich zuletzt auch in der Aufnahme von fünfstimmigen Sätzen niedergeschlagen (Nr. 66–68, 71, 77, 78; im Wagenrieder-Teil Nr. 80, 81 und 92), obwohl das eine Herausforderung für das Layout bedeutete, da nun fünf statt vier Stimmen auf einer Aufschlagsseite unterzubringen waren.

Neben der laxer gehandhabten Textbereitstellung zeigt sich auch eine gewisse inhaltliche Erosion der fortgeschrittenen Sammlung. Zwar wurde schon mit Nr. 27 (Senfls Zwen Gsellen gut, S 355) ein Schwank im schnellen Erzähl-Dreiermetrum[9] aufgenommen, doch bleibt dieses humorige Lied ein Einzelfall inmitten einer homogenen Zusammenstellung von Liedern mit ernsten Themen und vor allem Liebesliedern. Dass sich unter diesen die eine oder andere ironische bzw. zornige Auslassung eines frustrierten Liebenden findet, ändert nichts daran, dass die beherrschende Majorität der Texte die edle Liebe in der Tradition der höfischen Liebe thematisiert, sei es als Frauenpreis, als Werbung, als Liebesversicherung, als Treueversprechen, als Ausdruck von Abschiedsschmerz – ganz konform mit dem Themenspektrum der gedruckten Liederbücher der 1510er-Jahre.

Bei dieser Liedkultur, die im Umfeld Kaiser Maximilians eine besondere Pflege erfuhr, handelte es sich um einen entschieden höfischen Kontext, was zuweilen wortwörtlich in den Texten benannt wird (etwa in Nr. 51 Zart höchste mein zu Beginn der dritten Strophe: „Ich mag nit das ain annd pas zw hof soll sein“ – „Ich will nicht, dass ein anderer bei Hofe als besser gelten soll“). Insofern gehören gelegentliche Zeitklagen über das Hofleben zum integralen Konzept. Doch ab Nr. 49 (Senfls Poch[en] trutzen S 265) verdichten sich diese gesellschaftskritischen Inhalte und kulminieren in Nr. 53 (Senfls Wiewohl viel härter Orden sind, S 341), einer sich in elf Strophen entrollenden unerbittlichen Abrechnung mit hinterhältigen sozialen Praktiken unter solchen „personen […] die tag vnnd nacht der fürsten höf bewonen“ (Strophe 1) – wohlweislich aus der Perspektive derjenigen, die „von pluet edl geporn“ (Strophe 4) sind und als Adlige mit dem kontinuierlichen Aufstieg Bürgerlicher in hohe Hofämter zu kämpfen hatten. Der rabiate, „unedle“ Ton des Liedtextes findet sein Pendant in der musikalischen Wahl eines wiederum hastigen ternären Metrums, das von solchen Verhältnissen detailreich berichtet. Das Herzstück der politischen Lieder bildet das möglicherweise Senfl zuzuschreibende Allem Gwalt folgt füglich nach *S 18 (Nr. 54), eine sechsstrophige Mahnung an einen Herrscher vor Machtmissbrauch. Die eindringliche Aussage wird mit flankierenden lateinischen Zitaten antiker und pseudoklassischer Autoren im Sinne der zeitgenössischen Rhetoriklehre untermauert. (» Abb. Humanistische Sentenzen in D-Mbs Mus.ms. 3155.) Der Eintrag fällt mit seiner humanistisch inspirierten Ausstattung aus dem Rahmen und signalisiert eine thematische Botschaft der Sammlung, die nicht schlichtweg nur einer neutralen Werksammlung dienen sollte.

 

Abb. Humanistische Sentenzen in D-Mbs Mus.ms. 3155

D-Mbs Mus.ms. 3155, fol. 60r. Schlussstrophen des vielleicht von Ludwig Senfl vertonten Liedes Allem Gwalt folgt füglich nach (*S 18) (© Bayerische Staatsbibliothek München, D-Mbs Mus.ms. 3155, Bildnr. 129, urn:nbn:de:bvb:12–bsb00079140–7)

Die deutschen Verse des Liedes, das zu politischer Klugheit und Mäßigung auffordert, werden von Sentenzen gestützt, die zum humanistischen Wissensschatz gehörten. Hier bezieht sich der Beginn der letzten Strophe („Zw forchten ist so gott sein straff, Vertzeucht lang zw gedulden“) auf ein Zitat aus der Epistola de morte Hieronymi des Pseudo-Eusebius Cremonensis („Et ideo plus centuplo timendum est, cum longanimiter tolerat mala deus, quam cum festinanter punit“ – „Und hundertmal mehr ist zu fürchten, wenn Gott das Übel langmütig duldet, als wenn er es eilends bestraft“).

 

Der Wandel der Sujets hin zu vermehrt kritischen, trivialen, humorigen und dem Text wie der Hauptmelodie nach altbekannten Liedern, verbunden mit kompositorischen Nuancierungen wie der öfteren Aufnahme von tripeltaktigen und fünfstimmigen Sätzen zeigt einerseits eine konzeptionelle Absicht an und spiegelt andererseits allgemeine Tendenzen der fortschreitenden Liedgeschichte wider.

[9] Dabei hat das Metrum vor allem die Funktion, die beständige Abwechslung von langen/betonten und kurzen/unbetonten Textsilben abzubilden und so einen narrativen Duktus zu erzeugen (siehe Schwindt 2018 b, 54–57). Die Tradition geht auf den einstimmigen Solovortrag zurück, wobei die Tondauern im Vortrag flexibel und sprachnah modifiziert werden. Das Phänomen wurde von Marc Lewon beschrieben und mit dem Begriff „Referenzrhythmus“ erfasst (siehe u.a. Lewon 2016, 96–100).