Hypothesen zum geplanten Projekt: der inhaltliche Befund von Mus.ms. 3155
Auch wenn Senfl nicht zweifelsfrei als Schreiber der Handschrift nachweisbar ist, bleibt seine Funktion als musikalischer Spiritus Rector des Unternehmens äußerst wahrscheinlich. Er untermauerte seine Rolle als dominierender Liedkomponist der späten Aetas Maximiliana nicht nur in quantitativer Hinsicht, sondern auch durch die Eröffnung der Sammlung mit einem Werk aus seiner eigenen Feder. Kein Höhers lebt noch schwebt S 194, 1544 vom Herausgeber Johann Ott in einem Druck „Ludouicus Senfflius“ zugewiesen, ist zwar im Unterschied zur Praxis in Chansonniers und in früheren deutschen Liedquellen kein marianischer oder überhaupt geistlicher Text, der als imaginärer Schutzmantel über das Folgende dienen soll, aber es erfüllt eine ähnliche, säkularisierte Funktion, die sich stark von der der anschließenden Liebeslieder abhebt. Als Schutzmacht angerufen wird nämlich – allegorisiert als über dem Reich schwebender Adler – Maximilian selbst, der Inhaber der „Kayserlichen Kron“ (Strophe 1). In den atypischen fünf Strophen, von denen Ott später nur gattungsübliche drei wiedergeben sollte, wird die Identifikation des Herrschers noch mehrfach durch Details gestützt, die den Zeitgenossen entschlüsselbar waren: die erneute päpstliche Verleihung des geweihten Huts und des Schwerts durch den Legaten Cajetan auf dem Augsburger Reichstag 1518 (Strophe 2), die erst 1515 durch die Wiener Doppelhochzeit[21] seiner Enkelkinder mit jagellonischen und ungarischen Erben einigermaßen befriedeten Feindseligkeiten mit Matthias Corvinus („Rabe“) bzw. dessen Sohn Johann und das Zitat seiner Devise „Tene mensuram“/„Halt Maß“ (Strophe 4). (» Notenbsp. Kain höhers lebt; »Hörbsp.♫ Kain höhers lebt).
Der Bezug auf Strategien des Regenten, sich seine Gefolgsleute loyal zu halten („hellt frid vnd Glaid den Jungen sein“, Strophe 1), führt zum Urheber des Liedtextes: Siegmund von Dietrichstein (1484–1533), von Jugend an einer von Maximilians Lieblingsgetreuen, über den er ein wahres Füllhorn an materiellen und immateriellen Gunstbezeugungen ausschüttete. Neben zahlreichen Liegenschaften überantwortete der Kaiser ihm zuletzt als steirischem Landeshauptmann „purkh, statt, tiergart“ Graz (Strophe 3), wohin er die minderjährigen, frisch verheirateten kaiserlichen Erbinnen Maria und Anna mitnahm. Durch eine von Maximilian arrangierte und symbolisch im Rahmen der Feierlichkeiten von 1515 abgehaltene Hochzeit stieg er in den Hochadel auf. Geistesverwandt waren die beiden Männer in Sachen Maßhalten, die den Jüngeren 1517 zur Gründung eines Mäßigkeitsordens motivierte, im Venezianerkrieg kämpften sie gemeinsam (Strophe 2). In administrativer und finanztechnischer Hinsicht hatte er sich für Maximilian unentbehrlich gemacht. Vor allem aber war der sprachlich begabte Dietrichstein, der seinen Dienst als persönlicher Sekretär begonnen hatte, die rechte Hand des Kaisers bei dessen literarischen Großprojekten, insbesondere beim Theuerdank, zu dem er das Unfalo-Kapitel beitrug. Er hatte nicht nur allen Anlass, seinem Herrn zu danken und um seine weitere Gunst zu bitten (Strophe 5), sondern auch die poetische Befähigung dazu. Der Autor des Eröffnungsgedichts kann niemand anderes als Dietrichstein sein, der Zeitpunkt der Entstehung des Liedes 1518.[22]
Dieses Lied an den Kopf einer vom Erscheinungsbild her ungewöhnlichen Retrospektive zu setzen, ist insbesondere dann verständlich, wenn ihre Herstellung auch vom Dankenden patroniert wurde. Es dürfte mehr als pure Spekulation sein, in dem als Kunstliebhaber bekannten[23] Dietrichstein den Motor, mindestens aber den Förderer der Sammlung zu sehen. Ob die Idee noch vor dem Tod Maximilians im Januar 1519 geboren wurde oder das Ende der Herrschaft den Ausschlag für den Rückblick gab, ist kaum zu sagen. Nicht nur Senfl hielt sich in den Jahren nach der Auflösung der Kapelle in Augsburg auf, wo er sich stellungslos als vielseitiger Musiker und insbesondere als Liedkomponist ins Gespräch zu bringen suchte. Auch Dietrichstein war nach der Wahl Karls V. Mitglied des vom designierten Kaiser eingerichteten so genannten Augsburger Regiments, das unter anderem im Sommer 1520 in der Stadt zusammenkam. Nicht zuletzt aufgrund seiner unerschütterlichen Loyalität zu Maximilian über dessen Tod hinaus war Dietrichstein wiederholten Animositäten seiner politischen Kontrahenten ausgesetzt, so dass er zeitweilig erwog, sich ins Privatleben zurückzuziehen. (» Abb. Siegmund von Dietrichstein, 1484-1533).
[21] Siehe » D. Music for a Royal entry.
[22] Für eine Transkription und Prosaübersetzung sowie detaillierte Interpretation des Liedtextes siehe Schwindt 2018c, 239–243 und 548.
[23] von Moltke 1970, 39.
[2] Für die Vermutung, die Handschrift sei in den Besitz des bayerischen Herzogs gekommen und habe dort vor der Makulierung bewahrt werden können (Hell 1987, 72f.), gibt es keine Belege.
[3] Hier und im Folgenden Nummerierung nach Gasch -Tröster - Lodes 2019; siehe auch www.senflonline.com. Nummern mit * sind „questionable“, d. h. sie sind Senfl von der Forschung teils mehr, teils weniger gut begründet zugeschrieben oder sind auch unter einem anderen Namen überliefert. Die den Ziffern vorgesetzten Buchstaben bezeichnen die Gattung (S = Song, P = Proper Setting).
[4] Argumente für Datierung und Anlass bei Lodes 2013, 192–196.
[5] Vgl. Schwindt 2018a, 11–14.
[6] Siehe Gasch 2012, Anhang 1, S. 429–439.
[7] Birkendorf 1994, Bd. 1, S. 46; Bd. 2, S. 116 (Abb. 78).
[8] Falls es sich bei Hand A im Augsburger Manuskript nicht ohnehin bereits um den jungen Wagenrieder handelt, zumal die Kennzeichen der Textschrift ebenfalls starke Ähnlichkeiten aufweisen (siehe D-As 2° Cod. 142a, fol. 8v, 9v, 15v, 17v, 23v, 29v, 30v, 35v und öfter).
[9] Dabei hat das Metrum vor allem die Funktion, die beständige Abwechslung von langen/betonten und kurzen/unbetonten Textsilben abzubilden und so einen narrativen Duktus zu erzeugen (siehe Schwindt 2018 b, 54–57). Die Tradition geht auf den einstimmigen Solovortrag zurück, wobei die Tondauern im Vortrag flexibel und sprachnah modifiziert werden. Das Phänomen wurde von Marc Lewon beschrieben und mit dem Begriff „Referenzrhythmus“ erfasst (siehe u.a. Lewon 2016, 96–100).
[10] Eine Ausnahme mit partieller Autornennung stellt das erste erhaltene Liederbuch Peter Schöffers d. J. aus dem Jahr 1513 dar (» [Lieder für 3-4 Stimmen], Mainz: Peter Schöffer d.J., 1513). Der Grund liegt in der offensichtlichen Intention des Drucks, die beiden Höfe Württemberg (Stuttgart) im ersten Teil und Kurpfalz (Heidelberg) im zweiten Teil mit der Nennung ihrer jeweiligen Liedverfasser musikalisch zu repräsentieren, was eine mediale Reaktion auf die Doppelhochzeit von Sibylle und Sabine von Bayern mit Kurfürst Ludwig bzw. Herzog Ulrich am 23. Februar und 2. März 1511 war (siehe Nicole Schwindt, „Die Macht der Gefühle zum Klingen gebracht – Frauenbilder und Liebeskonzepte im Liebeslied am Hof Herzog Ulrichs“, in: Frauen. Liebe Macht Kunst. Weibliche Lebensentwürfe an südwestdeutschen Höfen, hrsg. von den Staatlichen Schlössern und Gärten Baden-Württemberg, in Vorb. Nur in ganz vereinzelten Ausnahmefällen fügen Schweizer Liedquellen des frühen 16. Jahrhunderts Initialen als Autorzuschreibung bei.
[11] Hell 1987, 130f. hat die Initialen – in keiner Weise nachvollziehbar – als LSS gelesen und als Ludwig Senfl Schweizer aufgelöst.
[12] Ausführlich zu den Fassungen und der Chronologie der Liedfamilie.Schwindt 2010, 49–62, Partitur des Liedes auf S. 57.
[14] Im Schöffer-Liederbuch von 1517 (Detailangaben im Verzeichnis deutscher Musikfrühdrucke, siehe http://www.vdm16.sbg.ac.at, Nr. 16) gibt es neun Konkordanzen mit dem ersten Teil von Mus.ms. 3155: Nr. 8, 10, 11, 13, 22, 42, 45, 70 und 76.
[15] Moser 1929, 125. Das Lied wurde bereits in Öglins erstem Liederbuch von 1512 gedruckt (Nr. 12).
[16] Mit dieser Einschätzung des paläographischen Befunds, für die ich PD Dr. Andreas Zajic, Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien, zu Dank verpflichtet bin, erübrigen sich die verschiedenen im musikwissenschaftlichen Schrifttum unternommenen Versuche, die Textschrift mit Senfls Gebrauchsschrift zu identifizieren. Beispiele für die genannten Typen finden sich in: https://tinyurl.com/Schrifttypen.
[17] Nr. 48 Lieblich hab ich, fol. 51v, Alt, beim Übergang zur 2. Zeile irrtümlich C3- statt C2-Schlüssel, was dissonante Terzversetzungen produziert, auch der zur Kontrolle heranzuziehende Schlussklang wäre ein Terz- statt ein Quintklang. Nr. 9 Inbrünstiglich, fol. 12v–13r, endet mit einem unzeitgemäßen Dreiklang A-e-e‘, dessen Dezime c‘ im Alt in den Schlusston h geführt wird. Nr. 39 In rechter Lieb, fol. 42v, Diskant, 1. Zeile, neuntletzte Note fälschlicherweise punktierte Semibrevis (Punkt im Manuskript mit Bleistift eingekreist). Nr. 49, Ludwig Senfl, Poch[en] trutzen, fol. 52v, Bass, letzte Zeile, 18. Note von hinten irrtümlich Semibrevis G statt A vor der Pause, was in der Binnenkadenz eine None zum Tenor ergibt.
[18] Thermographie-Aufnahmen der Bayerischen Staatsbibliothek: https://www.wasserzeichen-online.de/wzis/struktur.php?ref=DE5580-Musms3155_76 und https://www.wasserzeichen-online.de/wzis/struktur.php?ref=DE5580-Musms3155_50. Ich danke Frau Dr. Veronika Giglberger sehr für ihr Entgegenkommen bei der Autopsie und ihre Hilfsbereitschaft bei der Bereitstellung von bibliotheksinternen Informationen.
[20] Siehe die Einbanddatenbank http://www.hist-einband.de/?ws=w002482; hier sind die Motive Flechtwerk und Wilder Mann erfasst. Die seit dem späten 15. Jahrhundert arbeitende Augsburger Werkstatt band vermutlich auch die Bücher des Orientalisten Johann Albrecht Widmannstetter, dessen Privatbibliothek 1558 vom bayerischen Herzog Albrecht V. erworben wurde. Im Zusammenhang mit dem Übergang von in Augsburg gebundenen Buchbeständen nach München steht vielleicht auch die Tatsache, dass sich in der Bayerischen Staatsbibliothek eine Musikalie befindet (4o Mus.pr. 182), die zwei Drucke des Jahres 1543 enthält und deren Einband das Motiv des Wilden Mannes aufweist. Hell 1987, 72, der auf diese Koinzidenz hinwies, vermerkt selbst, dass „Rollen in einer Buchbinderwerkstatt immer über einen längeren Zeitraum verwendet“ wurden.
[21] Siehe » D. Music for a Royal entry.
[22] Für eine Transkription und Prosaübersetzung sowie detaillierte Interpretation des Liedtextes siehe Schwindt 2018c, 239–243 und 548.
[23] von Moltke 1970, 39.
[24] Nr. 9, 15, 19, 21, 25, 43, 44, 48, 51, 52, 54, 56, 59, 62, 72, 79, 91, 96 und 97.
[25] Nr. 11, 13, 14, 45, 58, 74, 89 und 93.
Empfohlene Zitierweise:
Nicole Schwindt: „Senfls Vermächtnis: Das Liederbuch München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. 3155“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/senfls-vermaechtnis-das-liederbuch-muenc… (2021).