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Wiener Glocken und Glöckner

Reinhard Strohm

Leider kennen wir die spätmittelalterlichen Glocken der Region kaum. Eine ist heute erhalten, die im 14. Jahrhundert in Wien gegossen wurde und mit 53 cm Durchmesser und 112 kg Gewicht zu den kleinsten Kirchenglocken gehört haben muss. An welchem Ort sie diente, ist nicht bekannt.[13] Sie trägt die Inschrift „+ matheus + lucas + marcus + iohannes +“, also die Namen der vier Evangelisten, der Verkünder des Gottesworts im Sinne des Psalmverses „In omnem terram exivit sonus eorum“ (Ihr Ton ging hinaus in alle Welt).

Die spätmittelalterlichen Glocken von St. Stephan in Wien sind z. T. schon seit langer Zeit verschollen. 1416 war die Glockenstube des Südturms vollendet worden, jedoch wurde der Turmbau mehrmals erneuert und mehrere Brände zerstörten im Lauf der Jahrhunderte die Glocken, vor allem im 2. Weltkrieg. Eine im Jahr 1279 von Meister Konrad von München gegossene Glocke von St. Stephan hieß „Zwölferin“ oder „Fürstenglocke“ und soll ca. 2000 kg gewogen haben; sie ging in der Kriegszerstörung 1945 zugrunde. Eine andere von Meister Konrad 1279 geschaffene Glocke, die „Kleine“ (212 kg), ist noch erhalten und auf dem Aussichtsplateau des Nordturms ausgestellt. Weitere Glocken aus dem Mittelalter, die jedoch in späteren Jahrhunderten umgegossen wurden, sind eine „Feuer-“ oder „Ratglocke“ aus dem Jahr 1451, die „Feringerin“ von 1457, die „Stürmerin“ oder „Kanterin“ von 1404 und eine „Uhrschelle“ von 1449. Die „Bierglocke“ entstand 1546, doch ist eine gleichnamige schon um 1330 bezeugt.[14] Eine aus Archivbelegen bekannte mittelalterliche Glocke hieß „Salve regina-Glocke“ und war vermutlich für das Einläuten des Salve regina zur täglichen Vesper, Mette und Non bestimmt, das in der rudolfinischen Stiftung vorgeschrieben wurde (» E. Musik im Gottesdienst, Kap. Herzog Rudolfs Vorschriften für die Gottesdienste an St. Stephan). Die heute größte Glocke Wiens, die jetzt im Nordturm von St. Stephan hängende „Pummerin“, ist Nachfolgerin einer 1711 gegossenen Glocke; vielleicht reicht die Tradition auch dieser Hauptglocke ins Mittelalter zurück. Die tradierten Namen, die sich z. T. auf alte Funktionen zurückführen lassen („Stürmerin” als Sturmglocke, „Feuerglocke“, „Uhrschelle“ zum Anschlagen der Stunden usw.), gingen wahrscheinlich immer von älteren auf umgegossene oder neue Glocken über, wobei sich allerdings der Klang meist geändert haben dürfte. Noch heute tragen die Glocken oft weibliche Namen.

Der Wiener Stadtrat hatte eine eigene Kirchenglocke zur Verfügung. Die „Ratglocke“ im Südturm von St. Stephan ist bereits 1435 in den Stadtrechnungen erwähnt, als sie „beslahen“ (verkupfert?) wurde.[15] Ein oder zwei Türmer – man müsste sie eigentlich Glöckner nennen – wurden regelmäßig für das Läuten der Ratglocke besoldet (1451 waren es 18 s. d. pro Quartal)[16]; sie waren in der Türmerstube des Südturms untergebracht.[17] Diese Türmer sind zu unterscheiden von den Knechten des Mesners, die im Auftrag der Kirche läuteten und auch als „zyman“ (Ziehmann) bezeichnet wurden; vier von ihnen hatten zu Festzeiten gleichzeitig zu läuten.[18] Eine Glocke, die die letzteren wahrscheinlich bedienten, wird 1463 als „Sturmglocke“ bezeichnet.[19] Eine neue „Ratglocke“ wurde schon 1451 fertiggestellt, auf den Turm transportiert und (teuer) bezahlt, wie aus folgenden Einträgen hervorgeht:
„Ausgeben auf die new Ratgloken umb kupfer zin und ander notdurft Maister Thoman Kren der stat puchsenmaister […]
Item so wiegt die ratgloken xxvii centtner […]
Summa. Auf die new ratgloken facit 259 tl. 5 s. 11 d.“[20]
„von der newen ratgloken gen sant steffan furlon [Fuhrlohn] auf und abladen 3 s. 12 d. “[21]

Kaum etwas illustriert die Verquickung von kirchlicher und weltlicher Autorität besser als die Tatsache, dass die “Ratglocke”, die im Südturm der Stephanskirche hing und zu allen Festen und Versammlungen des Stadtrats geläutet wurde, vom städtischen Büchsenmeister, d. h. Waffenschmied, angefertigt wurde.

Im Auftrag der Stadt wurde oft auch eine zweite Glocke angeschlagen, die sich „auf der Freyung“ befand. Sicher ist gemeint, dass sie in einem Kirchturm des Schottenklosters auf der Freyung hing. Die Verfügung über zwei Glocken erlaubte dem Stadtrat das gleichzeitige Beschallen des östlichen und des westlichen Teils der Stadt; außerdem kamen durch das Schottentor bei der Freyung oft Gäste in die Stadt, die so begrüßt werden konnten. Sie wurden bei zeremoniellen Einzügen und Auszügen durch das Tor „in und aus geläutet“.[22]

[13] Schusser 1986, 12 f., Nr. 2.

[14] [Perger] 2004.

[15] OKAR 3 (1435), fol. 92r.

[16] Währung: 1 Pfund (tl.) = 8 große („lange“) Schillinge (s.) = 240 Pfennige (d., denarii).

[17] OKAR 11 (1451), fol. 56r; Schusser 1986, 147, Nr. 133 nach OKAR 46 (1485), fol. 12r. Der “Turner von Ratglokn”, Erhart Lindner, erhielt 1475 einen Jahressold von 4 tl. (OKAR 38 (1475), fol. 36v). Lindner versah das Turmwächteramt an der Ratglocke und als Trompeter in Personalunion: vgl. seine Bezeichnung als “Trompeter” 1476 (vgl. Kap. Verschiedene Aufgaben der Stadttrompeter).

[18] OKAR 2 (1426), fol. 24v.

[19] OKAR 21 (1463), fol.49v.

[20] OKAR 11 (1451), fol.113r–v.

[21] OKAR 11 (1451), fol. 135r.

[22] OKAR 5 (1438), fol. 90r; OKAR 6 (1440), fol. 98r.