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Klang-Aura und soziale Strukturen

Reinhard Strohm

Walter Salmen hat 1976 die damals aufblühende Stadtgeschichtsforschung in Österreich um einen entscheidenden Beitrag zum Musikleben bereichert. Er prägte damals den Begriff der „Klang-Aura“, unter dem die Fülle der musikalischen Töne, Signale und Geräusche des städtischen Lebens zu verstehen ist.[5] Auch wenn Salmen seine damaligen Ausführungen auf das „Musizieren“ beschränkte, so war doch gemeint, dass diese Forschung prinzipiell zwischen Musik und Geräuschen weniger scharf unterscheidet als andere Richtungen der Kulturforschung. Heute lebt das Bewusstsein der akustischen Umwelt als Einheit wieder auf; von Salmens Ansatz bis zum Netzauftritt der bundesdeutschen Aktion www.wissenschaftsjahr-zukunftsstadt.de/stadtklang/mitmachen.html im Jahr 2015 scheint es nur ein kleiner Schritt zu sein.[6]

Ein internationaler Kontext für Salmens Begriff der Klang-Aura war die Vorstellung von „Soundscape“, die von dem kanadischen Komponisten R. Murray Schafer seit 1977 weit bekannt gemacht wurde. Als „soundscape“ gelten Schafer vor allem heutige Klangumgebungen, die entweder von der Natur verursacht oder von Menschen, auch z.B. als Kompositionen, gestaltet sind. Historische Vorläufer oder Entwicklungen werden von ihm in nur wenigen Beispielen skizziert. Jedoch ermöglicht der soundscape-Begriff eine willkommene Öffnung konventioneller musikalischer Werk- und Ereignisgeschichte zu historischer Umwelt- und Mentalitätsforschung. Die globalen Ansprüche einer sozialpsychologischen Musikforschung und musikalischen Umweltforschung („eco-musicology“) sind bereits ersichtlich an Schafer’s Titel The Tuning of the World  (1977) bzw. The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World  (1994) und dessen Einbettung in ein „World Soundscape Project“.

In der von Walter Salmen erforschten Stadtmusikgeschichte hängen städtische Topographie und Klang-Aura von sozialen Strukturen ab. Anzahl, Größe, Lage und Zugänglichkeit der musikalisch aktiven Institutionen bestimmten das städtische Musikleben. Vor allem die Kirchen trugen nicht nur zur allgemeinen Klang-Aura bei, etwa durch Glockenläuten und Prozessionen, sondern waren auch lokale Identifikationszentren, die eine soziale, wirtschaftliche und politische Grundlage für das Kulturleben boten. Für einen Stadttrompeter oder Kirchenkantor war es nicht nur bedeutsam, wo er sich beim Musizieren befand, sondern ebenso, welcher Pfarre er angehörte, auf wessen Grund sein Haus stand und wo seine Eltern begraben waren.

Es ging beim Musizieren zuallererst um die Frage, wer es ausführte, veranlasste, bezahlte, hörte, lehrte und lernte, verbot oder gestattete; zweitens darum, innerhalb welcher sozialen Strukturen dies geschah, und erst drittens um die raumzeitliche Situierung. Musik und Topographie sind zwar auch unmittelbar aufeinander beziehbar, wenn z. B. ein Straßenmusikant in einer Straße spielt. Doch die topographisch wichtige Frage, ob es irgendeine beliebige Straße ist oder immer eine bestimmte – z. B. eine „Pfeifergasse“ oder „Trompetergasse“, wie es sie in mehreren Städten gab, auch in Wien[7] – hängt von sozialen Vorgaben ab, wie etwa einer Verordnung des Stadtrats. Kirchliche Prozessionen, sofern sie außerhalb von Kirche und Friedhof durch die Straßen der Stadt verliefen, konnten das städtische Raumbewusstsein und die Klang-Aura beeinflussen. Freilich ist dies nur aus solchen Quellen erschließbar, die tatsächliche Aussagen zur Topographie enthalten.[8]

[5] Salmen 1977. Die von Harry Kühnel, Gerhard Jaritz und Elisabeth Vavra am Institut für mittelalterliche Realienkunde Österreichs (Imareal) unternommene Alltagsforschung hat sich vor allem den visuellen Zeugnissen gewidmet; doch ist der Ansatz zwischen den Medien übertragbar und würde eine urbane „Phonographie“ erlauben.

[6] www.wissenschaftsjahr-zukunftsstadt.de/stadtklang/mitmachen.html.

[7] Die Wiener Trompetergasse, wo städtische Trompeter und Spielleute wohnten (was allerdings vom Ort ihrer Aufführungen zu unterscheiden ist), befand sich in der Vorstadt vor dem Widmertor, also in den an die Hofburg anstoßenden Bereichen des heutigen 7. Bezirks (Schusser 1986, 146, Nr. 129).

[8] Textdokumente und Abbildungen zur Musikpflege Wiens sind bei ZapkeUrbane Musik, gesammelt; doch ist die im Titel „Urbane Musik und Stadtdesign“ angedeutete Verlinkung zwischen Topographie und Musik nicht durchgeführt. Die Prozessionsordnung in » A-Wn Cod. 4712 (» E. SL FronleichnamsprozessionZapke 2015, 91–93) fixiert die Hierarchie der teilnehmenden Gruppen, entbehrt aber jeder topographischen Angabe. Zu belegbaren Verbindungen von Prozessionsritus und urbaner Topographie in anderen Städten vgl. Strohm 1985, 4–7 (Brügge); Saucier 2013 (Lüttich); Knighton 2016 (Barcelona). Vgl. auch » E. Musik im Gottesdienst, Kap. Prozessionen von St. Stephan.