Sie sind hier

Die Kapelle von 1524: Burgundische und erbländische Traditionen

Markus Grassl

Zu den Charakteristika des status von 1524 und der darin enthaltenen Bestimmungen zur Kapelle zählt, dass auf spezifische Weise Elemente der Hoforganisation von Ferdinands burgundisch-spanischen Vorfahren bzw. Verwandten mit solchen der österreichisch-erbländischen Tradition kombiniert werden.

Dem burgundischen Muster der Hofordnungen, das in den Ordonnances de l’hostel Karls des Kühnen 1469 etabliert und durch den État de l’hôtel Philipps des Schönen 1497 sowie von Karl V. durch die Ordonnance de Charles, prince d’Espagne […] pour le gouvernement de sa maison 1515 fortgeschrieben wurde,[44] entspringt, dass die Kapelle ihrer geistlichen Bestimmung gemäß an erster Stelle steht. Zwar fehlen die in den burgundischen Hofordnungen üblichen detaillierten Anweisungen, welche Liturgien die Kapelle auf welche Weise zu feiern hat. Doch gelangt die vornehme, im Gotteslob bestehende Aufgabe der Kapelle in gleichsam programmatischen Einleitungssätzen zum Ausdruck, die im Matthäus-Zitat „querite primum regnum dei“ (Strebt zuerst nach dem Reich Gottes) (Matth. 6,33) gipfeln.

 

Abb. 1524: Die Kapelle an der Spitze der Hofordnung

Die Kapelle an der Spitze der Hofordnung

Serenissimus princeps Domus sive Auleque sue / statum [corr: recogniturus] bene riteque sumit / inicium a capelle sue ac cantorie con/stitutione, quia usus earum recte in dei / optimi Maximi laudem honoremque / tendit, et potissimum suscipitur. Namque / christiani principis est ante omnia dei / gloriam cultumque et venerationem curare, / iuxta illud verbum Christi apud Mat-/theum querite primum regnum dei.

(Der durchlauchtigste Fürst, in der Absicht, den status seines Hauses und Hofs zu prüfen, macht in guter und rechter Weise den Anfang mit der Einrichtung seiner Kapelle und Kantorei, weil deren rechter Gebrauch auf das Lob und die Ehre Gottes in seiner Güte und Größe gerichtet ist und vornehmlich dafür unterhalten wird. Deshalb ist es einem christlichen Fürsten vor allem anderen aufgetragen, für die Verehrung Gottes Sorge zu tragen, gemäß dem Wort Christi bei Matthäus: Strebt zuerst nach dem Reich Gottes.)

Hofordnung Ferdinands I., März - August 1524. Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Reichskanzlei, Reichstagsakten 2, Konvolut A I 5, fol. 50r (Ausschnitt).

 

Eine eigentümliche Überschneidung von burgundischer und österreichisch-erbländischer Tradition ist an der Spitze der Organisation zu beobachten. Dass ihr Leiter, der „capelle magister“, die „officia confessoris et elemosinarii“ ausüben sollte, mag zunächst die faktische Konsequenz aus dem Umstand gewesen sein, dass Jean de Revelles nicht nur der Elemosinarius, sondern auch der Beichtvater Ferdinands war. Zugleich ergibt sich dadurch aber eine Parallele zur burgundischen Kapellenstruktur, in der ein aumonier und ein confesseur als die ranghöchsten Kleriker fungierten. Hingegen erfolgte die Einführung der Bezeichnung „capelle magister“, wie es ausdrücklich heißt, „more germanico“ (nach deutschem Brauch). Dies dürfte als Anknüpfung insbesondere an den Hof Maximilians I. zu verstehen sein, an dem seit 1500 die Benennung „capellen meister“ für den Kapellvorstand, den Wiener Bischof Georg von Slatkonia, üblich wurde.[45] Demgegenüber begegnet der Titel „maitre de chapelle“ bzw. „maestro de capilla“ auf der burgundisch-spanischen Seite zunächst nur sporadisch in den 1520er Jahren und erst ab den 1530er Jahren regelmäßiger.[46]

An der zweiten Stelle der Hierarchie sieht die Hofordnung von 1524 einen „proto sive primus capellanus“ vor. Terminologisch (wenngleich nicht funktional) erinnert dies an den „premier chapelain“ der burgundischen Kapellen, der dort die als „grande chapelle“ bezeichnete, für die mehrstimmig gesungenen Liturgien zuständige Unterabteilung der Kapelle leitete. Zugleich wird statuiert, dass der primus capellanus „deutscher“ Herkunft sein sollte. Motiv war dabei höchstwahrscheinlich, in den obersten Rängen der Kapelle für ein gleichsam einheimisches Gegengewicht zum „Niederländer“ Jean de Revelles zu sorgen.

Die im status 1524 allenthalben beobachtbare Tendenz, vermehrt „deutsche“ bzw. österreichisch-erbländische Komponenten - sei es terminologisch, sei es strukturell oder personell - zu integrieren, [47] manifestiert sich in den Regelungen zur Kapelle noch in zwei weiteren Punkten: Zum einen wird auf den Ausdruck „cantoria“, also die latinisierte Form von „Kantorei“, zurückgegriffen, eine Bezeichnung, die seit ca. 1500 im deutschen Sprachraum und speziell am Hof Maximilians I. über die ältere Bedeutung eines schulischen Sängerchors hinaus auf das höfische Vokalensemble übertragen wurde.[48] Zum zweiten ist davon die Rede, dass „nach deutschem Brauch“ Kapellknaben „den Diskant singen werden“ („ut moris est germanici discantum cantabu[n]t“). Dass die Besetzung der Oberstimme mit Knaben als „deutsch“ rubriziert wird, erfolgte höchstwahrscheinlich in bewusstem Gegensatz zur Situation an den burgundisch-spanischen Kapellen. Hier waren die Diskantisten, die der Kapelle als feste Mitglieder angehörten, zunächst ausschließlich und später bis jedenfalls in die 1530er Jahre erwachsene Sänger.[49]

[44] Vgl. an neueren institutionsgeschichtlichen Darstellungen zu den Kapellen Karls des Kühnen, Philipps des Schönen und Karls V.: Fallows 1983, 110–117, 145–159; Meconi 2003, 53–92; Ferer 2012, insb. 126–159; Rudolf 1977, 80–153; Robledo Estaire 1987Nelson 2000, 114–123; Meconi 2021.

[45] Siehe die Nachweise bei Schweiger 1931/32, 371 und 373–374; Wessely 1956, 122; Reimer 1991, 33; Ehrmann-Herfort 2003, 15–16.

[46] Ferer 2012, 86, 98 und 106; Meconi 2020, 85.

[47] Vgl. Rill 2003, 54, 94–97.

[48] Siehe Weißkunig, Kap. „Wie der jung weyß kunig die musica und saytenspiel lernet erkennen“, hrsg. von Schultz 1888, 80; Triumphzug, Darstellung der „Musica Canterey“ (» Abb. Triumphzug Kantorei, in: I. Instrumentalkünstler am Hof Maximilians I.); Schweiger 1931/32, 366, 371–372; vgl. auch Reimer 1991, 27; Reimer 1999.

[49] Fallows 1983, 112–126; Ferer 2012, 77, 83, 92–93, 98, 248 und 250; Meconi 2020, 85. Zu diesen dessus-Sängern zählte im Übrigen Pierre de la Rue; siehe Meconi 2003, 64. Seit wann genau in die burgundischen Kapellen auch Knaben aufgenommen wurden, ist unbekannt; erstmals belegt sind „petitz enffans“ in einem Personalverzeichnis der Kapelle 1509; siehe Ferer 2020, 45. Allerdings ist in den Itinerarien des Hofes belegt, dass zu den Sängern der Kapelle je nach Gelegenheit Knaben hinzutraten, die anderen Institutionen, etwa solchen des jeweiligen Aufenthaltsortes der Fürsten, zugehörten; vgl. » H. Jugendliche Musiker bei Hofe.