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Der Kapellmeister

Markus Grassl

Die beiden Hofordnungen aus den 1520er Jahren unterscheiden sich nicht zuletzt in einem wichtigen Punkt. 1524 sollte die „cura“, die Verantwortung für die „doctrina“ und die Beachtung der „boni mores“ der Kapellknaben noch von einem der acht Sänger als deren „magister et pedagogus“ mitübernommen werden. 1527 wurde für die Erziehung der Knaben hingegen ein eigener Posten eingerichtet (der sich wahrscheinlich als notwendig erwies, weil die Zahl der Chorknaben von vier auf zehn anstieg). Die neue Charge wurde mit der Bezeichnung „Kapellmeister“ versehen – dieser Titel war gleichsam frei geworden, nachdem der Leiter der Kapelle nicht mehr wie 1524 „capelle magister“, sondern nunmehr „obrister kaplan“ hieß: eine Benennung, die im Übrigen schon für das Oberhaupt der Kapelle Maximilians I. belegt ist.[58]

 

Dass das Kapellmeisteramt 1527 an den damals bereits über 80-jährigen Heinrich Finck übertragen wurde, ist mit Blick auf die mutmaßlichen Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Kantoreipersonal (» Kap. Der Übergang zum „deutschen hofstat“ und zur Kapelle 1527) mit dem Umstand erklärt worden, Finck wäre „der nächsterreichbare Meister europäischen Formates gewesen“.[59] Allerdings erhebt sich dann die Frage, weshalb nach dem Tod Fincks nur wenige Monate später Arnold von Bruck zu dessen Nachfolger bestellt wurde, oder anders gesagt: weshalb nicht schon zuvor statt auf Finck auf Arnold zurückgegriffen wurde; dieser dürfte ja prinzipiell zur Verfügung gestanden sein, war er doch höchstwahrscheinlich bereits seit 1521 am Hof Ferdinands beschäftigt. Vielleicht haben auch hier die politischen Umstände eine Rolle gespielt, schien es also opportun, den neu geschaffenen Kapellmeisterposten zunächst einmal mit einem Bediensteten aus dem deutschsprachigen Raum zu besetzen.

 

Näherer Überlegung bedarf schließlich die Frage, worin die Aufgaben des Kapellmeisters bestanden.[60] Keineswegs steht fest, dass mit diesem Amt von Anfang an eine umfassendere Leitungskompetenz verbunden war, wie es von der Literatur in Rückprojektion späterer Verhältnisse oft angenommen wird. So ist 1527 explizit nur von der Erziehung der Sängerknaben die Rede und stellt die Verantwortung für den Unterhalt und die Ausbildung der Knaben bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts das dominierende Thema in den auf den Kapellmeister bezogenen Dokumenten der Hofadministration dar. Zu welchem Zeitpunkt welche weiteren Agenden hinzutraten, ist indes unklar. Soweit konkretere Nachrichten vorliegen, betreffen sie die Mitwirkung bei der Bestellung neuer Kantoreimitglieder, im Besonderen die Rekrutierung von Sängern und Sängerknaben in den Niederlanden. Doch handelte es sich auch dabei um keine exklusive Zuständigkeit des Kapellmeisters – mehrfach wurden auch andere Kapellmitglieder mit dieser Aufgabe betraut. Weiterhin ist keineswegs davon auszugehen, dass den Kapellmeister eine prinzipielle Verpflichtung zu kompositorischer Tätigkeit traf.[61] Allenfalls mag sich im Fall kompositorisch produktiver Amtsinhaber de facto eine entsprechende Erwartungshaltung aufgebaut haben, zu einer formalen Festschreibung des Komponierens als regulärer Dienstobliegenheit scheint es jedoch nicht gekommen zu sein. Ebenso wurde unter Ferdinand auf den Posten eines Hofkomponisten verzichtet, den Heinrich Isaac am Hof Maximilians I. bekleidet hatte.

Wie generell im frühneuzeitlichen Hof- und Behördenwesen ist also auch beim Amt des Kapellmeisters damit zu rechnen, dass der Aufgabenbereich nicht zur Gänze ein für allemal normativ fixiert war, sondern bis zu einem gewissen Grad einer flexiblen Anpassung an die jeweiligen faktischen Gegebenheiten und personellen Konstellationen unterlag.

 

[58] Senn 1954, 28; Schweiger 1931/32, 371.

[59] Wessely 1958, 75.

[60] Siehe zum Folgenden Grassl 2012, 36–39.

[61] Vgl. auch Bobeth 2009, 190–192.