Kontinuität und Wandel. Die Kapelle Ferdinands I. in den 1520er Jahren
Die Ausgangslage der Kapelle Ferdinands I.
Die Dekade nach dem Tod Kaiser Maximilians I. 1519 war eine Phase bedeutender Weichenstellungen in der habsburgischen Geschichte. 1521/22 vereinbarten Maximilians Erben, seine Enkel Karl V. und Ferdinand I., eine Herrschaftsteilung, die zur Spaltung der Dynastie in eine spanische und österreichische Linie führte: Karl behielt Spanien und Burgund, seinem jüngeren Bruder Ferdinand fielen die österreichischen „Erblande“ zu, also die zentraleuropäischen Territorien der Habsburger. Fünf Jahre später, 1526/27, setzte mit der Wahl bzw. Krönung Ferdinands zum König von Ungarn und von Böhmen die jahrhundertelange habsburgische Herrschaft in diesen Ländern ein.
Schließlich fiel in das Jahr 1527 noch ein weiterer Akt von nachhaltiger Wirkung: In einer ausführlichen Hofordnung Ferdinands I. wurde ein System von zentralen Regierungsbehörden und eine Struktur des Hofstaats vorgesehen, „die sich in ihren Grundzügen bis zum Ende der Monarchie perpetuieren sollte“.[1]
Diese Hofordnung, zu der auch ein Hofstaatsverzeichnis, also eine Personalliste, überliefert ist, genoss in der Forschung lange Zeit einen besonderen Ruf. Da sie als die erste umfassendere Regelung für den Hof der österreichischen Habsburger galt, wurde in ihr geradezu eine Art Gründungsurkunde für das neuzeitliche österreichische Behörden- und Hofwesen erblickt. In der Geschichtswissenschaft ist diese Einschätzung mittlerweile einer differenzierten Betrachtung gewichen, die in den Regelungen von 1527 nicht so sehr einen Neuansatz, sondern den „Fluchtpunkt einer logischen Entwicklung“ erblickt.[2]
Das Jahr 1527 und die Musikhistoriographie
In der Musikgeschichtsschreibung dominiert hingegen bis heute die Vorstellung, dass erst das Jahr 1527 den eigentlichen Beginn der Hofkapelle Ferdinands und damit der kontinuierlichen Tradition von Hofkapellen auf österreichischem Boden markiere.[3] Die Quellengrundlage bilden auch dabei die beiden ,Schlüsseldokumente‘ von 1527. So inkludiert die Hofordnung im Rahmen einer eigenen so genannten „Capelordnung“ Bestimmungen über die einzelnen Ämter, deren Anzahl und teilweise eine etwas nähere Beschreibung der damit verbundenen Aufgaben.
Regelungen zur Kapelle in der Hofordnung König Ferdinands I., 1527Vermerckht künigklicher majestat zu Hungern und Behaim etc. deutschen hofstat, durch ir künigclich majestat anno domini etc. im sibenundzwaintzigisten, am ersten tag Januarii aufgericht […]
Capelordnung
Ainen obristen caplan und sonnst vier [korrigiert aus: drey] caplän, die guet stymb haben unnd singen konnden. Ain meßner. [fol. 14v] Cantores neun unnd ain capellmaister, der soll der knaben preceptor sein unnd sy lernen. Khnaben zehen, organist ainer, zwen knecht, so der gesellen und knaben wartn. Prediger ainen oder zwen, ain capelschreiber.
Dem capelmaister zway phert, vier [korrigiert aus: dreyen] caplänen yedem ain pfert, mesner ain pherdt unnd die annderen personen faren auf den wägen.
Es soll auch die gannz capell ir gehorsam dem obristen caplan thun, der soll sein guet ordnung der ceremonien mit evangelipuch, pacem, weichwasser unnd annders, wie sich gegen einem solichem künig unnd fürsten gebürt, zu credenzen halten, auch die capeldiener unnd knaben mit gueter stymb unnd konnst des gesanngs anzunemen haben.
Item die cantores unnd knaben sollen durch den capelschreiber angedingt werden in den herbergn unnd der sol mit fleiss auffsehen haben, daz khain ubriger cosst auflauff, sonnder guet ordnung in der zerung gehalten werde.
Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Hofarchive, Obersthofmeisteramt, Sonderreihe, Kt. 181, Konv. 4 (Der deutsche Hofstaat König Ferdinands I. von Ungarn und Böhmen), fol. 14r–14v. Edition: Wührer/Scheutz 2011, 360.Daneben wird als zweite Einheit der Hofmusik ein Trompeterchor vorgesehen, der von der traditionsgemäß als Verband aus Klerikern und Sängern konzipierten Kapelle institutionell abgehoben ist.[4] Das Hofstaatsverzeichnis von 1527 führt namentlich 29 Angehörige der Kapelle und acht Trompeter sowie einen Pauker an[5] und belegt damit die vollständige personelle Ausstattung der beiden Organisationseinheiten. Wohl hat die Forschung schon vor Längerem einzelne Hofkleriker sowie einige Trompeter aus der Zeit vor 1527 eruiert.[6] Schritte zum Aufbau einer kompletten Kapelle, zur Institutionalisierung der Hofmusik bzw. zu deren organisatorischer Regulierung seien vor 1526/27 aber nicht unternommen worden; vielmehr sei dies erst in Reaktion auf den Erwerb Böhmens und Ungarns bzw. zur Erfüllung des nun gegebenen Repräsentationsbedarfs erfolgt, und zwar „unter argem Termindruck“.[7] Im Lichte jüngerer Erkenntnisse bedarf dieses Narrativ allerdings einer kritischen Überprüfung. Trägt man die schon 1958 von Othmar Wessely vorgelegten Indizien, die jüngeren Quellenfunde des Historikers Gerhard Rill und die darauf beruhende, von der Geschichtsforschung vorgenommene Neubewertung der Vorgänge in den Jahren 1526/27 zusammen, so ergibt sich auch musikhistoriographisch ein anderes Bild.[8]
Trompeter in Ferdinands Hofstaat während der 1520er Jahre
Nachdem Ferdinand seine Kindheit und Jugend zunächst in Spanien unter der Aufsicht seines Großvaters Ferdinand von Aragón und seit Juni 1518 in den Niederlanden am Hof seiner Tante Margarete von Österreich verbracht hatte, übersiedelte er 1521 im Alter von 18 Jahren in die ihm kurz zuvor zugesprochenen österreichischen Erblande. Sein Hofstaat in den ersten Jahren seiner österreichischen Regentschaft ist zwar nicht restlos, aber immerhin in Teilbereichen rekonstruierbar. Dies gilt nicht zuletzt für das Trompeterensemble. Vor allem dank der partiell erhaltenen Rechnungsbücher von Ferdinands Generalschatzmeister Gabriel von Salamanca sowie der Gedenkbücher der Niederösterreichischen Kammer lassen sich für die Zeit von 1521 bis 1526 insgesamt acht Trompeter und ein Pauker nachweisen[9] – eine Zahl, die bereits jener im Hofstaatsverzeichnis von 1527 entspricht.
Trompeter Ferdinands I. von 1521 bis 1526(in Klammern die Jahre, in denen der betreffende Musiker dokumentiert ist):Antonio da Mantova (1521)Battista da Milano (1522/23)Giovanni Francesco da Siena (1522/23)Giovanni Pietro da Brescia (1521, 1522/23)Christoph Mai[e]r [Mayr] (1523, 1525, 1526)Jurig (Jörg / Georg) Mai[e]r [Mayr] (1522/23, 1525, 1526)Pietro Francesco da Milano (1522/23)Christofel Riedor [Rieder[10]] (1522/23)Si[e]gmund Neuner (Pauker) (1522, 1526)Auffällig sind zunächst gewisse personelle Kontinuitäten bzw. länger andauernde Tätigkeiten für den habsburgischen Hof: Die Brüder Jurig und Christoph Maier sowie der Pauker Sigmund Neuner hatten bereits dem Trompeterkorps Kaiser Maximilians I. angehört,[11] Antonio da Mantova und Giovanni Francesco da Siena werden bis 1530 bzw. 1547 im Dienst Ferdinands stehen.[12] Vor allem aber ist die Dominanz von italienischen Musikern bemerkenswert. Die Gründe dafür sind unklar. Eine Vorbildwirkung der Höfe von Ferdinands Verwandten, wie sie sich in anderen Zusammenhängen zeigt, ist nicht zu erkennen – die Trompeter Kaiser Maximilians am Ende seiner Herrschaft stammten aus dem deutschsprachigen Raum, das Trompeterkorps von Ferdinands Vater, Philipp dem Schönen, und zunächst auch jenes seines Bruders Karl setzte sich, soweit die Namen Rückschlüsse auf die Herkunft zulassen, mehrheitlich aus französischen bzw. flämischen Musikern zusammen.[13] Wie auch immer die Präferenz für Italiener zu erklären sein mag – fest steht, dass ab 1530 alle Trompeter und schließlich auch die anderen Instrumentalisten Ferdinands (fast) nur mehr aus Italien rekrutiert wurden,[14] und dass der Hof Ferdinands mit dieser frühen „Italianisierung“ der Instrumentalmusik Vorreiter eines Trends war, der ab den 1540er Jahren auch den Hof Karls V.[15] und in weiterer Folge, wohl nicht zuletzt nach dem Vorbild der Habsburger, zahlreiche Fürstenhöfe im römisch-deutschen Reich erfassen sollte.[16]
Dass Ferdinand vom Beginn seiner Regentschaft an ein Trompeterensemble unterhielt, vermag im Grunde nicht zu überraschen, stellten die Trompeter doch das Mittel der klanglichen Repräsentation von Macht und Herrschaft par excellence dar. Der Bedarf nach diesem Statussymbol wird sich nicht nur aus Ferdinands Stellung als Regent der österreichischen Länder ergeben haben, sondern mag durch seine Position als kaiserlicher Statthalter verstärkt worden sein, als welcher er seinen Bruder bei dessen Abwesenheit im Heiligen Römischen Reich zu vertreten hatte. In dieser Funktion leitete Ferdinand beispielsweise die Reichstage 1522, 1522/23 und 1524 in Nürnberg sowie 1526 und 1529 in Speyer). Die Annahme, dass zu Ferdinands Gefolge bei solchen repräsentativen Anlässen ein Trompeterensemble zählte, lässt sich dokumentarisch erhärten: Auf dem Rückweg vom Nürnberger Reichstag 1522/23 machte Ferdinand Mitte März 1523 Station in Augsburg;[17] in diesem Zeitraum verzeichnen die Augsburger Rechnungsbücher eine Zahlung an zehn Trompeter und Pauker des Erzherzogs.[18]
Ferdinands und Annas Zink-Posaunen-Ensemble
Seit Längerem ist ein Dokument aus dem Jahr 1528 bekannt, in dem Ferdinands Gemahlin Anna von Ungarn fünf „pusaunern“ ihres eigenen, bald nach der Eheschließung 1521 errichteten Hofstaats eine Gehaltsaufbesserung gewährte, wofür sich die Musiker im Gegenzug zu lebenslangem Dienst bei Anna und Ferdinand verpflichteten.[19] Dass diese „Posaunisten“ 1528 bereits auf eine längere Tätigkeit am habsburgischen Hof zurückblickten, ergibt sich allein schon aus Annas Verfügung. Für zwei von ihnen lässt es sich durch weitere Quellen belegen: bei Thomas de Berzizia, der in einer Eingabe 1541 auf eine damals bereits 20 Jahre währende Dienstzeit hinweist, und bei Hieronymus Blasel, der in Salamancas Rechnungsbüchern von 1522/23 als „sacqueboutte de ma dicte dame [= Anna]“ geführt wird.[20] Daneben werfen einige Nachrichten zusätzliches Licht auf die am Hof Ferdinands tätigen Blasinstrumentalisten. So erhielten im März 1523 neben Ferdinands Trompetern auch vier „der kunigin von hungern busanern vnd blasern“[21] sowie im Juli 1527 zwei Zinkenbläser „der kunigin zu hungerien“ Zahlungen der Stadt Augsburg.[22] Weiterhin geht aus dem erwähnten Ansuchen Thomas’ de Berzizia hervor, dass dieser neben der Posaune auch den Zink spielte. Schließlich dokumentieren die Aufzeichnungen Salamancas und die Rechnungsbücher der Innsbrucker Kammer für die Jahre 1522/23 bzw. 1523/24 Zuwendungen noch an einen anderen „sacqueboutte“,[23] nämlich niemand geringeren als Augustin Schubinger (» G. Augustin Schubinger). Der renommierte Instrumentalvirtuose, der schon Maximilian I. gedient und zu den ‚Aushängeschildern‘ von dessen Hofmusik gezählt hatte, war auf mehreren Instrumenten wie Laute und Posaune versiert, exzellierte aber vor allem als Zinkenist – als solcher wurde er ja auch in Maximilians Triumphzug (» Abb. Triumphzug Kantorei) verewigt).[24]
Zusammengenommen lassen diese Informationen den Schluss zu, dass Ferdinand schon ab den frühen 1520er Jahren über ein Zink-Posaunenensemble verfügte (bei dessen Mitgliedern, wie in der Zeit üblich, mit der Beherrschung weiterer Instrumente, vor allem von Blasinstrumenten zu rechnen ist). Obwohl die Musiker nominell dem Hofstaat Annas von Ungarn zugeordnet waren, kann davon ausgegangen werden, dass sie in der Praxis auch für Ferdinand tätig wurden. Bei Auftritten, die in Gegenwart des Fürstenpaars stattfanden, war dies ja ohnehin der Fall. Abgesehen davon ist vielfach belegt, dass Bedienstete eines habsburgischen Hofstaats von anderen Angehörigen der Dynastie mitverwendet wurden.[25] Dahinter stand die Idee, dass der Dienst für einen Habsburger ein Dienst für die gesamte Dynastie war.[26]
Ensembles, die sich aus Zinken, Posaunen, teilweise auch Krummhörnern und /oder Pommern zusammensetzten, fanden bei zahlreichen Gelegenheiten wie Einzügen, Banketten und nicht zuletzt Tanzveranstaltungen Verwendung.[27] Angesichts der wichtigen Stellung, die Bläserensembles im höfischen Musikleben des 16. Jahrhunderts einnahmen, überrascht es nicht, dass bereits die jungen Ferdinand und Anna (die im Übrigen für ihre Tanz- und Feierfreudigkeit bekannt sind[28]) eine solche Truppe unterhielten.
Seit etwa 1500 wuchs den Bläsern und dabei in erster Linie den Zinkenisten und Posaunisten noch eine weitere Aufgabe zu: Sie wirkten nun auch im Rahmen der Liturgie mit, u. a. indem sie die Sänger bei der Aufführung mehrstimmiger Musik colla parte begleiteten. Eine Reihe von Indizien, darunter die erwähnte Darstellung des Triumphzugs, welche die Kantorei im Verband mit Bläsern zeigt (» Abb. Triumphzug Kantorei), spricht dafür, dass an der Genese dieser Praxis die Kapelle Maximilians I. und namentlich Augustin Schubinger maßgeblichen Anteil hatten.[29] Von daher mag die Annahme naheliegen, dass sich Ferdinands und Annas Bläser auch an der Realisierung von Vokalpolyphonie beteiligten. Allerdings ist damit die nicht sicher zu beantwortende Frage tangiert, inwieweit Ferdinand vor 1527 über ein geeignetes Sängerensemble verfügte (» Kap. Ferdinands Sänger vor 1527).
Kapläne seit 1518
Dass Ferdinands Hofstaat schon früh eine Reihe von Hofgeistlichen und damit den Nukleus einer Kapelle umfasste, steht fest. Zwischen 1518 und 1527 lassen sich in Summe zwölf Personen nachweisen, die – als Elemosinarius, d. h. als ranghöchster Hofkleriker, als Kaplan oder als Mesner – die typischerweise in einer Hofkapelle vereinigten geistlichen bzw. liturgischen Funktionen wahrnahmen. Bereits 1522/23 setzte sich diese Gruppe aus einem Elemosinarius, drei Kaplänen, zwei „clercs de chapelle“ und einem eigenen Kaplan für die Hofpagen zusammen,[30] war also eine personelle Ausstattung gegeben, die sich nur unwesentlich von dem Zustand unterschied, den die Hofordnung von 1527 für den klerikalen Teil der Kapelle vorsah.
Die meisten dieser vor 1527 nachweisbaren Kapellangehörigen waren freilich „bloße“ Geistliche, bei denen mit einer über die Beherrschung des einstimmigen liturgischen Gesangs hinausgehenden musikalischen Betätigung nicht zu rechnen ist. Zu ihnen zählt als Prominentester der aus Brabant stammende Jean de Revelles, der Ferdinand 1518 von Spanien in die Niederlande begleitet hatte, spätestens 1522 zu dessen Elemosinarius avancierte und von 1523/24 bis zu seinem Tod 1529 zudem die Wiener Bischofswürde bekleidete.[31]
Ferdinands Sänger vor 1527
Inwieweit Ferdinand in der Frühphase seiner Regentschaft auch ein zur Ausführung polyphoner Musik befähigtes Vokalensemble zur Verfügung stand, ist hingegen fraglich. Für die Zeit vor 1527 lassen sich nur zwei Mitglieder seines Hofstaats ausmachen, die eine einschlägige Expertise aufwiesen. So wissen wir, dass sich in Ferdinands Gefolge 1518 neben Jean de Revelles noch ein zweiter Kaplan, Jean Lommel, befand,[32] der auch als Sänger belegt ist. Lommel scheint erstmals 1506 in Besoldungslisten der Kapellen von Philipp dem Schönen und dessen Gemahlin Juana La Loca auf (unmittelbar nach Mabrian de Orto und vor Pierre de La Rue) und war anschließend bis 1518 in der Kapelle Karls V. beschäftigt (hier wird er u. a. in einem Hofstaatsverzeichnis 1515 in der Rubrik „autres chappelains et chantres“ geführt).[33] Der zweite, weitaus Bekanntere ist Arnold von Bruck, der später als Kapellmeister Ferdinands von 1527 bis 1545 und als Komponist zu Ansehen gelangen sollte. Wie Othmar Wessely plausibel gemacht hat, trat der aus Brügge stammende Arnold im Anschluss an seine Ausbildung als Chorknabe in St. Omer und an eine Tätigkeit in der Kapelle Karls V.[34] im Jahr 1521 in den Dienst Ferdinands (wobei jedoch seine genaue Funktion während der ersten Zeit am österreichischen Hof unklar ist).[35]
Dass Ferdinands Haushalt vor 1527 weitere Sänger angehörten, ist nicht dokumentiert, sollte jedoch nicht kategorisch ausgeschlossen werden. Mary T. Ferer hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Kapelle Karls V. zwischen Dezember 1517 und September 1518 um zehn Mitglieder reduziert wurde, und erwogen, dass Karl dieses Personal seiner Schwester Eleonore anlässlich ihrer Hochzeit mit dem König von Portugal und seinem Bruder anlässlich der Übersiedlung in die Niederlande überlassen haben könnte.[36]
Abgesehen von Vokalisten, die in den Hofstaat integriert waren, ist in Betracht zu ziehen, dass für Ferdinand Sänger an Institutionen seines jeweiligen Aufenthaltsorts tätig geworden sein können. In erster Linie ist dabei an die Kantorei der Stadtpfarrkirche St. Jakob in Innsbruck, Ferdinands bevorzugter Residenz in den österreichischen Ländern während der 1520er Jahre,[37] zu denken. Dass Musiker von St. Jakob von den Tiroler bzw. österreichischen Landesherrn für Dienste bei Hof herangezogen wurden, ist schon unter Ferdinands Vorgängern und während seiner Herrschaft aus dem Jahr 1536 dokumentiert.[38]
Die älteste bekannte Hofordnung und Personalliste Ferdinands I.
Die Schlüsselrolle für die Neubewertung der Frühgeschichte von Ferdinands Hof im Allgemeinen, seiner Kapelle im Besonderen spielt eine Quelle, die 2003 von dem Sozialhistoriker Gerhard Rill entdeckt wurde.[39] Das in lateinischer Sprache abgefasste Dokument, das sich in einem Aktenfaszikel mit Unterlagen zum Nürnberger Reichstag 1524 erhalten hat, kann auf die Zeit von März bis August dieses Jahres datiert werden.
Wie für Hofschematismen bis zum 16. Jahrhundert typisch,[40] verbindet dieser „Domus sive Auleque status“ (Stand der Haus- und Hofhaltung) Elemente einer Hofordnung mit solchen eines Hofstaatsverzeichnisses, d. h. Ausführungen bzw. Vorschriften zu Aufbau und Organisation des Hofstaats, zu einzelnen Ämtern und deren Aufgaben werden durch Nennungen von Posteninhabern ergänzt, indem an der jeweils betreffenden Stelle die Namen und die Besoldung zumindest der höheren Funktionsträger angegeben werden. Auf diese Weise wird ein durchstrukturierter höfischer Haushalt sichtbar, der insbesondere zentrale Teileinheiten wie Kammer, Obersthofmeister- und Oberststallmeisteramt umfasste und einen Personalstand von rund 130 Bediensteten zuzüglich „etliche[r] zahlenmäßig nicht erfaßte[r] Ämter“ aufwies.[41]
Instrumentalisten, Geistliche und Sänger im status von 1524
Der status von 1524 bestätigt den anhand der Rechnungsbücher gewonnenen Befund, wonach bereits in den frühen 1520er Jahren ein vollständiges Bläserensemble vorhanden war. So wird in einer eigenen, „tibicines“ (Bläser) betitelten Rubrik eine neunköpfige Truppe erwähnt. Deren Mitglieder werden zwar nicht namentlich genannt, aber es findet sich stattdessen wie bei zahlreichen anderen niedrigen Chargen der Hinweis auf einen weiterhin gültigen „status antiquus“ (was nicht weniger als die Existenz einer älteren, verlorenen oder bislang nicht aufgefundenen Hofstaatsliste bezeugt).
Vor allem aber werden Vorkehrungen für eine komplette „capella ac cantoria“ getroffen, deren Grundstruktur und personelle Stärke weitestgehend den Verhältnissen des Jahres 1527 gleicht. So ist 1524 als oberster Vorgesetzter ein „capelle magister“ vorgesehen, der zugleich die „officia confessoris et elemosinarii“ ausübt und als welcher Jean de Revelles genannt ist. Die zweithöchste Position nimmt ein „proto sive primus capellanus“ ein, gefolgt von drei weiteren (ebenfalls namentlich aufgeführten) Kaplänen, acht (erwachsenen) Sängern, vier Kapellknaben sowie einem Organisten und einem Mesner („sacrista“) samt jeweils einem Gehilfen („puer“). Analog dazu wird 1527 die Spitze von einem „obersten caplan“, der zugleich als Elemosinarius fungiert, und (nunmehr) ein oder zwei Predigern gebildet. Ihnen unterstehen vier Kapläne, neun Sänger (die nun auch nach Stimmlagen aufgeschlüsselt werden), 10 Kapellknaben (dabei handelt es sich um den einzigen größeren quantitativen Unterschied zur Regelung von 1524), deren Lehrer, dazu ein Mesner, ein Organist und einige wenige Hilfskräfte.
Aufbau der Kapelle 1524 und 1527 im Vergleich
Status 1524 Hofstaatsordnung 1527(„Capella ac Cantoria“)capelle magister („more germanico”) oberster caplan (= elemosinarius)= elemosinarius und confessor(= Jean de Revelles) 1–2 Predigerproto sive primus capellanus(„debet esse nationis germanici“)3 Kapläne (= Nicolaus Fabri, Juan Bueso, 4 KapläneRobert Rondel)8 (erwachsene) Sänger 9 (erwachsene) Sänger (3 Altisten,(„octo cantores erunt“) 3 Tenoristen, 3 Bassisten)4 Kapellknaben („pueri qui ut moris est 10 Kapellknabengermanici discantum cantabunt“)Lehrer (magister et pedagogus) capellmeister („der soll der(= einer der Sänger) knaben preceptor sein“)1 Organist 1 Organist1 sacrista 1 Mesner2 pueri[i] 2 Kapelldiener, 1 KapellschreiberDas nicht sonderlich saubere Schriftbild des Dokuments von 1524, sowie dessen Korrekturen, Ausstreichungen und Einfügungen legen den Schluss nahe, dass es sich um einen Entwurf handelt.[42] Außerdem fällt an den Bestimmungen über die Kapelle auf, dass – anders als beim capelle magister und bei den Kaplänen – bei den Sängern, den Chorknaben und beim Organisten (so wie beim primus capellanus) keine Namen von Stelleninhabern verzeichnet sind; auch fehlt im Unterschied zu den tibicines der Verweis auf einen „status antiquus“; und nicht zuletzt sind die Regelungen zu den Sängern und Chorknaben im Futur formuliert („erunt“, „cantabunt“). All dies deutet daraufhin, dass die Hofordnung von 1524 hinsichtlich der Musiker prospektiven Charakter hatte, die Kantorei damals also noch nicht oder zumindest noch nicht vollständig besetzt war. Allerdings bleibt selbst dann, wenn die betreffenden Rekrutierungen erst 1527 erfolgt sein sollten, festzuhalten: Bereits davor war ein Bläserensemble und damit eine der beiden zentralen hofmusikalischen Einrichtungen vorhanden, war die klerikale Abteilung der Kapelle mit Personal ausgestattet und befand sich spätestens 1524 die Kapelle in ihrer Gesamtheit, d. h. einschließlich einer Kantorei, in Planung. Nicht aufrechtzuerhalten ist daher die Ansicht, dass vor 1527 schlechterdings keine Maßnahmen zum Aufbau einer Kapelle bzw. zur Institutionalisierung der Hofmusik getroffen worden wären, gar ein „musikhistorisches Vakuum“[43] bestanden hätte und das Jahr 1527 einen völligen Neubeginn mit sich gebracht habe.
Die Kapelle von 1524: Burgundische und erbländische Traditionen
Zu den Charakteristika des status von 1524 und der darin enthaltenen Bestimmungen zur Kapelle zählt, dass auf spezifische Weise Elemente der Hoforganisation von Ferdinands burgundisch-spanischen Vorfahren bzw. Verwandten mit solchen der österreichisch-erbländischen Tradition kombiniert werden.
Dem burgundischen Muster der Hofordnungen, das in den Ordonnances de l’hostel Karls des Kühnen 1469 etabliert und durch den État de l’hôtel Philipps des Schönen 1497 sowie von Karl V. durch die Ordonnance de Charles, prince d’Espagne […] pour le gouvernement de sa maison 1515 fortgeschrieben wurde,[44] entspringt, dass die Kapelle ihrer geistlichen Bestimmung gemäß an erster Stelle steht. Zwar fehlen die in den burgundischen Hofordnungen üblichen detaillierten Anweisungen, welche Liturgien die Kapelle auf welche Weise zu feiern hat. Doch gelangt die vornehme, im Gotteslob bestehende Aufgabe der Kapelle in gleichsam programmatischen Einleitungssätzen zum Ausdruck, die im Matthäus-Zitat „querite primum regnum dei“ (Strebt zuerst nach dem Reich Gottes) (Matth. 6,33) gipfeln.
Eine eigentümliche Überschneidung von burgundischer und österreichisch-erbländischer Tradition ist an der Spitze der Organisation zu beobachten. Dass ihr Leiter, der „capelle magister“, die „officia confessoris et elemosinarii“ ausüben sollte, mag zunächst die faktische Konsequenz aus dem Umstand gewesen sein, dass Jean de Revelles nicht nur der Elemosinarius, sondern auch der Beichtvater Ferdinands war. Zugleich ergibt sich dadurch aber eine Parallele zur burgundischen Kapellenstruktur, in der ein aumonier und ein confesseur als die ranghöchsten Kleriker fungierten. Hingegen erfolgte die Einführung der Bezeichnung „capelle magister“, wie es ausdrücklich heißt, „more germanico“ (nach deutschem Brauch). Dies dürfte als Anknüpfung insbesondere an den Hof Maximilians I. zu verstehen sein, an dem seit 1500 die Benennung „capellen meister“ für den Kapellvorstand, den Wiener Bischof Georg von Slatkonia, üblich wurde.[45] Demgegenüber begegnet der Titel „maitre de chapelle“ bzw. „maestro de capilla“ auf der burgundisch-spanischen Seite zunächst nur sporadisch in den 1520er Jahren und erst ab den 1530er Jahren regelmäßiger.[46]
An der zweiten Stelle der Hierarchie sieht die Hofordnung von 1524 einen „proto sive primus capellanus“ vor. Terminologisch (wenngleich nicht funktional) erinnert dies an den „premier chapelain“ der burgundischen Kapellen, der dort die als „grande chapelle“ bezeichnete, für die mehrstimmig gesungenen Liturgien zuständige Unterabteilung der Kapelle leitete. Zugleich wird statuiert, dass der primus capellanus „deutscher“ Herkunft sein sollte. Motiv war dabei höchstwahrscheinlich, in den obersten Rängen der Kapelle für ein gleichsam einheimisches Gegengewicht zum „Niederländer“ Jean de Revelles zu sorgen.
Die im status 1524 allenthalben beobachtbare Tendenz, vermehrt „deutsche“ bzw. österreichisch-erbländische Komponenten - sei es terminologisch, sei es strukturell oder personell - zu integrieren, [47] manifestiert sich in den Regelungen zur Kapelle noch in zwei weiteren Punkten: Zum einen wird auf den Ausdruck „cantoria“, also die latinisierte Form von „Kantorei“, zurückgegriffen, eine Bezeichnung, die seit ca. 1500 im deutschen Sprachraum und speziell am Hof Maximilians I. über die ältere Bedeutung eines schulischen Sängerchors hinaus auf das höfische Vokalensemble übertragen wurde.[48] Zum zweiten ist davon die Rede, dass „nach deutschem Brauch“ Kapellknaben „den Diskant singen werden“ („ut moris est germanici discantum cantabu[n]t“). Dass die Besetzung der Oberstimme mit Knaben als „deutsch“ rubriziert wird, erfolgte höchstwahrscheinlich in bewusstem Gegensatz zur Situation an den burgundisch-spanischen Kapellen. Hier waren die Diskantisten, die der Kapelle als feste Mitglieder angehörten, zunächst ausschließlich und später bis jedenfalls in die 1530er Jahre erwachsene Sänger.[49]
Der Übergang zum „deutschen hofstat“ und zur Kapelle 1527
Am Hof Ferdinands dominierten während der ersten Jahre seiner österreichischen Regentschaft Bedienstete und Ratgeber, die aus den Niederlanden und aus Spanien stammten. Gegen diese „ausländische“ Hegemonie formierte sich bald der Widerstand der erbländischen Stände, der u. a. dazu führte, dass Ferdinand bei einem Generallandtag 1525 die Entlassung Salamancas und die vermehrte Berufung einheimischer Amtsträger zusagen musste. Wie die Verstärkung des „deutschen“ Elements im status von 1524 erkennen lässt, war der Prozess einer sukzessiven „Germanisierung“ von Ferdinands Hofstaat aber schon früher angelaufen.[50] Ein weiterer und noch weiter gehender Schritt in dieser Entwicklung wurde schließlich mit der explizit als „deutscher hofstat“ überschriebenen Hofordnung 1527 gesetzt (die sich insofern eben nicht als Zäsur oder völliger Neubeginn, sondern nur als Fortsetzung eines bereits existierenden Trends erweist).
Die Forcierung des „deutschen“, d. h. erbländischen Charakters des Hofs – und dies hieß vice versa: die Reduktion seines „niederländischen“ bzw. burgundischen Zuschnitts – manifestiert sich in der Hofordnung 1527 in mehrfacher Hinsicht. Zunächst in der Verwendung der deutschen Sprache (dies meint auch die Rede vom „deutschen hofstat“), dann in der inhaltlichen Disposition: Im Unterschied zum burgundischen Schema wird die Kapelle nicht mehr an erster Stelle, sondern erst im Anschluss an die Kanzlei, die Finanzkammer, den Hofrat und diverse andere Hofämter geregelt[51], eine Positionierung, „die ständische Interessen sowie Kontinuitäten seit der Spätzeit Maximilians I. wider[spiegelt]“.[52] Weiterhin wird auf den „primus capellanus“ verzichtet und stattdessen als ranghöchster Kleriker nach dem Elemosinarius der Posten eines oder gar zweier Prediger eingeführt, ein der burgundischen Hoforganisation unbekanntes Amt. (De facto existierte diese Charge spätestens seit der Ernennung von Medardus van Kirchen zum concionator aulicus – Hofprediger – im Jahr 1525.[53])
Auf personeller Ebene legen die Postenbesetzungen, die aus dem Hofstaatsverzeichnis 1527 hervorgehen, zumindest bestimmte Vermutungen nahe. So fällt auf, dass eine vierte Kaplanstelle geschaffen und darauf mit Christoph Langkusch ein offenbar aus dem deutschen Sprachraum stammender und vormals in der Kapelle Maximilians I. tätiger Kleriker berufen wurde.[54] Möglicherweise stand dahinter die Absicht, den drei schon 1524 amtierenden und weiterbeschäftigten Kaplänen Juan Bueso, Nicolaus Fabri und Robert Rondel, die aus Spanien bzw. dem französischsprachigen Raum kamen,[55] einen „Einheimischen“ an die Seite zu stellen.
Auch die nunmehr durch das Hofstaatsverzeichnis bekannten Sänger und Sängerknaben waren, den Namen nach zu schließen, alle „deutscher“ bzw. österreichisch-erbländischer Herkunft[56] (die breite Rekrutierung franko-flämischer Musiker setzt am Hof Ferdinands erst in den 1540er Jahren ein). Über die Motive und Kriterien für die Auswahl der Personen, die 1527 die Kantorei bildeten, lässt sich nur spekulieren. Die Literatur geht bislang wegen des angeblichen Zeitdrucks, unter dem der Aufbau der Kapelle 1527 stattgefunden habe, von einem Rückgriff auf die „erstbesten Musiker“ aus.[57] Selbst wenn zutreffen sollte, dass andere (respektive bessere) Kräfte nicht zur Verfügung standen, erscheint aber vorstellbar, dass mit der Bestellung nur von deutschsprachigem Personal zumindest ein nicht unwillkommener Nebeneffekt im Hinblick auf die angestrebte Verstärkung des erbländischen Zuschnitts des Hofes verbunden war.
Der Kapellmeister
Die beiden Hofordnungen aus den 1520er Jahren unterscheiden sich nicht zuletzt in einem wichtigen Punkt. 1524 sollte die „cura“, die Verantwortung für die „doctrina“ und die Beachtung der „boni mores“ der Kapellknaben noch von einem der acht Sänger als deren „magister et pedagogus“ mitübernommen werden. 1527 wurde für die Erziehung der Knaben hingegen ein eigener Posten eingerichtet (der sich wahrscheinlich als notwendig erwies, weil die Zahl der Chorknaben von vier auf zehn anstieg). Die neue Charge wurde mit der Bezeichnung „Kapellmeister“ versehen – dieser Titel war gleichsam frei geworden, nachdem der Leiter der Kapelle nicht mehr wie 1524 „capelle magister“, sondern nunmehr „obrister kaplan“ hieß: eine Benennung, die im Übrigen schon für das Oberhaupt der Kapelle Maximilians I. belegt ist.[58]
Dass das Kapellmeisteramt 1527 an den damals bereits über 80-jährigen Heinrich Finck übertragen wurde, ist mit Blick auf die mutmaßlichen Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Kantoreipersonal (» Kap. Der Übergang zum „deutschen hofstat“ und zur Kapelle 1527) mit dem Umstand erklärt worden, Finck wäre „der nächsterreichbare Meister europäischen Formates gewesen“.[59] Allerdings erhebt sich dann die Frage, weshalb nach dem Tod Fincks nur wenige Monate später Arnold von Bruck zu dessen Nachfolger bestellt wurde, oder anders gesagt: weshalb nicht schon zuvor statt auf Finck auf Arnold zurückgegriffen wurde; dieser dürfte ja prinzipiell zur Verfügung gestanden sein, war er doch höchstwahrscheinlich bereits seit 1521 am Hof Ferdinands beschäftigt. Vielleicht haben auch hier die politischen Umstände eine Rolle gespielt, schien es also opportun, den neu geschaffenen Kapellmeisterposten zunächst einmal mit einem Bediensteten aus dem deutschsprachigen Raum zu besetzen.
Näherer Überlegung bedarf schließlich die Frage, worin die Aufgaben des Kapellmeisters bestanden.[60] Keineswegs steht fest, dass mit diesem Amt von Anfang an eine umfassendere Leitungskompetenz verbunden war, wie es von der Literatur in Rückprojektion späterer Verhältnisse oft angenommen wird. So ist 1527 explizit nur von der Erziehung der Sängerknaben die Rede und stellt die Verantwortung für den Unterhalt und die Ausbildung der Knaben bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts das dominierende Thema in den auf den Kapellmeister bezogenen Dokumenten der Hofadministration dar. Zu welchem Zeitpunkt welche weiteren Agenden hinzutraten, ist indes unklar. Soweit konkretere Nachrichten vorliegen, betreffen sie die Mitwirkung bei der Bestellung neuer Kantoreimitglieder, im Besonderen die Rekrutierung von Sängern und Sängerknaben in den Niederlanden. Doch handelte es sich auch dabei um keine exklusive Zuständigkeit des Kapellmeisters – mehrfach wurden auch andere Kapellmitglieder mit dieser Aufgabe betraut. Weiterhin ist keineswegs davon auszugehen, dass den Kapellmeister eine prinzipielle Verpflichtung zu kompositorischer Tätigkeit traf.[61] Allenfalls mag sich im Fall kompositorisch produktiver Amtsinhaber de facto eine entsprechende Erwartungshaltung aufgebaut haben, zu einer formalen Festschreibung des Komponierens als regulärer Dienstobliegenheit scheint es jedoch nicht gekommen zu sein. Ebenso wurde unter Ferdinand auf den Posten eines Hofkomponisten verzichtet, den Heinrich Isaac am Hof Maximilians I. bekleidet hatte.
Wie generell im frühneuzeitlichen Hof- und Behördenwesen ist also auch beim Amt des Kapellmeisters damit zu rechnen, dass der Aufgabenbereich nicht zur Gänze ein für allemal normativ fixiert war, sondern bis zu einem gewissen Grad einer flexiblen Anpassung an die jeweiligen faktischen Gegebenheiten und personellen Konstellationen unterlag.
[1] Wührer/Scheutz 2011, 48.
[2] Rill 2003, 34; vgl. zusammenfassend Noflatscher 2007, 420–427; Wührer/Scheutz 2011, 39–62; hier, 345–363, auch eine moderne Edition der Hofordnung von 1527. Ein Digitalisat der Hofordnung 1527 ist verfügbar unter: https://www.archivinformationssystem.at/detail.aspx?ID=4016011, ein Digitalisat des Hofstaatsverzeichnisses 1527 unter: http://www.archivinformationssystem.at/detail.aspx?ID=4016012.
[3] Vgl. Hilscher 2000, 57–59; Seifert 2005, 41–42.
[4] Zur Trennung von Kapelle und Trompetern bzw. Instrumentalisten, die unter Ferdinand I. formal-organisatorisch beibehalten, faktisch aber bis zu einem gewissen Grad aufgeweicht wurde, vgl. Grassl 2012, 40–41.
[5] Hirzel 1909, 154–155; Wessely 1958, 391–392.
[6] Beginnend mit Wolfsgruber 1905, 50–51; Mitis 1928, 157.
[7] Wessely 1958, 74–75; vgl. zuvor schon Hirzel 1909.
[8] Vgl. Grassl 2012.
[9] Wessely 1958, 240–241 und 256–257; für die Belege in den niederösterreichischen Gedenkbüchern siehe auch Wessely 1956, 104–105, für jene in den Rechnungsbüchern von Salamanca siehe bereits Mitis 1928, 161, und zuletzt Rill 2003, 49. Zu ergänzen sind Belege in den Raitbüchern der oberösterreichischen Kammer in Innsbruck, aus denen hervorgeht, dass der Pauker Sigmund Neuner 1522 mit neuem Gewand versorgt wurde, um an „den hof zuziehen“ (A-Ila Raitbücher Bd. 71 [1522], fol. 345v), und dass Christoph und Jörg Mayr 1525 die Materialkosten für die Herstellung von Trompetenfahnen vergütet wurden (A-Ila Raitbücher Bd. 74 [1525], fol. 480v).
[10] Wessely 1958, 240, und Rill 2003, 49, lesen „Predor“. Ein Christian Rieder ist seit 1509 als Trompeter Maximilians I. belegt; siehe Senn 1954, 22
[11] Koczirz 1930/31, 532; Wessely 1956, 104–105, 256–257.
[12] Wessely 1958, 241.
[13] Koczirz 1930/31, 532–533; Ferer 2012, 33 46, 65, 69, 78 und 89.
[14] Siehe die Verzeichnisse bei Wessely 1958, S. 394–434.
[15] Ferer 2012, 109 und 117.
[16] Grassl 2011, 126–128; Reimer 1991, 69–77.
[17] Stälin 1860, 385.
[18] D-Asa Baumeisterbücher Bd. 117 (1523), fol. 36r: „Samstag post Letare [20. März] […] Item x guldin x Erzherzog Verdinandus trumetter vnd bawgker“.
[19] Federhofer 1952, S. 42–43; vgl. auch Wessely 1973, 662–669.
[20] Wessely 1973, 667.
[21] D-Asa Baumeisterbücher Bd. 117 (1523), fol. 36r.
[22] D-Asa Baumeisterbücher Bd. 121 (1527), fol. 36r: „Samstag vor Jacobj [20. Juli] / Item ij fl. friedrich lingky und jörg wilden der kunigin zu hungerien zinkenplaser“.
[24] Zu Schubingers Biographie und Bedeutung vgl. » G. Augustin Schubinger, sowie Polk 1989a; Polk 1989b.
[25] Siehe Beispiele bei Grassl 2012, 27–28.
[26] Vgl. dazu Thomas 1993, 48.
[27] Vgl. dazu Welker 1990, insb. 252–257.
[28] Rill 2003, 20; Kohler 2003, 92, 96.
[29] Grassl 2019, 221–230. Vgl. auch Welker 1990, 256–257; Bouckaert/Schreurs 2005.
[31] Vgl. zur Biographie von Jean de Revelles: Göhler 1932, 498-507; Koretz 1970, 42–48; Wessely 1958, 108–110.
[32] Wie aus dem Reisebericht von Laurent Vital, vormals Premier Chambellain von Philipp dem Schönen, hervorgeht. Siehe Gachard 1881, 299.
[33] Siehe die Aufstellungen bei Ferer 2012, 30, 35, 53, 63; Vgl. zuvor schon Duggan 1976, 87.
[34] Zur frühen Karriere Arnolds siehe zuletzt Kirkman 2020, 92–93, 95.
[35] Wessely 1958, 53, 276.
[36] Ferer 2012, 67–72.
[37] Kohler 2003, 119–120.
[38] Senn 1954, 15–16, 45–46, 48, 50–57; vgl. auch Strohm 1993, 519–522; Strohm 2001, 32–34. Zum Wechsel von Musikern zwischen kirchlichen und höfischen Diensten in Innsbruck vgl. auch » I. Music and Ceremony in Maximilian’s Innsbruck; » K. Kap. Institutions, scribes and patrons.
[39] HHStA, Reichskanzlei, Reichstagsakten, 2. Konvolut A I 5, fol. 49r–58v; eine ausführliche Analyse dieser (bislang nicht edierten) Quelle und eine darauf beruhende Rekonstruktion von Ferdinands damaligem Hofstaat liefert Rill 2003, 50–103; vgl. zuvor schon Thomas 1993, 44–45; für eine musikhistorische Auswertung siehe Grassl 2012, 31–35, und darauf fußend Pfohl 2020, 136–139.
[40] Noflatscher 2007, 414.
[42] Noflatscher 2007, 420.
[44] Vgl. an neueren institutionsgeschichtlichen Darstellungen zu den Kapellen Karls des Kühnen, Philipps des Schönen und Karls V.: Fallows 1983, 110–117, 145–159; Meconi 2003, 53–92; Ferer 2012, insb. 126–159; Rudolf 1977, 80–153; Robledo Estaire 1987; Nelson 2000, 114–123; Meconi 2021.
[45] Siehe die Nachweise bei Schweiger 1931/32, 371 und 373–374; Wessely 1956, 122; Reimer 1991, 33; Ehrmann-Herfort 2003, 15–16.
[46] Ferer 2012, 86, 98 und 106; Meconi 2020, 85.
[48] Siehe Weißkunig, Kap. „Wie der jung weyß kunig die musica und saytenspiel lernet erkennen“, hrsg. von Schultz 1888, 80; Triumphzug, Darstellung der „Musica Canterey“ (» Abb. Triumphzug Kantorei, in: I. Instrumentalkünstler am Hof Maximilians I.); Schweiger 1931/32, 366, 371–372; vgl. auch Reimer 1991, 27; Reimer 1999.
[49] Fallows 1983, 112–126; Ferer 2012, 77, 83, 92–93, 98, 248 und 250; Meconi 2020, 85. Zu diesen dessus-Sängern zählte im Übrigen Pierre de la Rue; siehe Meconi 2003, 64. Seit wann genau in die burgundischen Kapellen auch Knaben aufgenommen wurden, ist unbekannt; erstmals belegt sind „petitz enffans“ in einem Personalverzeichnis der Kapelle 1509; siehe Ferer 2020, 45. Allerdings ist in den Itinerarien des Hofes belegt, dass zu den Sängern der Kapelle je nach Gelegenheit Knaben hinzutraten, die anderen Institutionen, etwa solchen des jeweiligen Aufenthaltsortes der Fürsten, zugehörten; vgl. » H. Jugendliche Musiker bei Hofe.
[50] Zu diesem Themenkomplex insgesamt: Thomas 1993, 38–48; Rill 2003, 54–56, 94–99; Kohler 2003, 130–142; Winkelbauer 2003, I, 180–183.
[51] Noflatscher 2007, 412–413; vgl. auch die Übersicht bei Castrillo-Benito 1979, 450–452.
[52] Noflatscher 2007, 413.
[53] Wolfsgruber 1905; 50, 53–56 und 605; Wessely 1958, 103.
[54] Zu Langkusch vgl. Wessely 1958, 120–122; Koczirz 1930/31, 531 und 535.
[55] Zu diesen Kaplänen: Göhler 1932, 509–512, 524–525; Wessely 1958, 110–113, 119–120, 391, 393; Laferl 1997, 221.
[56] Siehe das Verzeichnis der Kapellmitglieder 1527 bei Hirzel 1909, 154–155; Wessely 1958, 391–392. Digitalisat der Originalquelle: https://www.archivinformationssystem.at/detail.aspx?ID=4016011.
[57] Wessely 1958, 75.
[58] Senn 1954, 28; Schweiger 1931/32, 371.
[59] Wessely 1958, 75.
[60] Siehe zum Folgenden Grassl 2012, 36–39.
[61] Vgl. auch Bobeth 2009, 190–192.
Empfohlene Zitierweise:
Markus Grassl: “Kontinuität und Wandel. Die Kapelle Ferdinands I. in den 1520er Jahren” in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/kontinuitaet-und-wandel-die-kapelle-ferdinands-i-den-1520er-jahren> (2022).