Junkmeister, Astanten und das Musikstudium der Knaben
Die Archivalien weisen übereinstimmend den Junkmeister oder succentor als den persönlichen Gehilfen des Schulmeisters aus, der von ihm Weisungen erhielt und ihn vor allem im Gesang und auf der Schule unterstützte. Aus dem Ratsprotokoll von 1475 (» I-BZac Hs. 4, fol. 5r, 7r–7v; » Kap. Stadtrat, Pfarrer und Schulmeister) geht indirekt hervor, dass der Schulmeister seinen eigenen succentor mitbrachte, wenn er neu angestellt wurde. Dieses Abhängigkeitsverhältnis ging wohl des Öfteren auf eine gemeinsam verbrachte frühere Karriere oder Universitätsausbildung zurück. Jedenfalls sollte der Schulmeister einen „guten, frommen, wohlgelehrten und ehrlichen“ succentor mit „Rat und Willen“ des Pfarrers und des Kirchprobstes selbst einstellen (» F-Sn Ms. 2111 allemands 187, fol. 129v).
Allgemein waren um diese Zeit die succentores gebildete junge Männer, die oft schon einen Universitätsgrad besaßen; Latein und Gesang lehren mussten alle von ihnen. Manche wurden zu Schreibdiensten herangezogen oder führten Protokolle. Der Bozner Junkmeister kopierte in den Jahren 1498–1510 die Kirchprobstrechnungen, und 1495–96 wurde das Bozner Himmelfahrtsspiel vom ihm abgeschrieben (» Kap. Spielleiter und Texte).
Die Astanten waren ältere Schüler, die eifrig „studieren“ sollten und als Hilfslehrer arbeiten mussten. Der Bildungsgrad eines Bozner Astanten, dessen Namen wir kennen, tritt besonders hervor: Nicolaus Pfaldorff, Astant in Bozen, verfertigte im Jahre 1471 einen noch erhaltenen astronomischen Kalender.[27]
Zu den Pflichten des Junkmeisters gehörte in Bozen zunächst das Singen in allen Veranstaltungen, an denen der Schulmeister beteiligt war (und für die er normalerweise mitbezahlt wurde), also den Sakramentsgängen, Salve-Regina-Diensten und dem Ansingen – aber vor allem war er für den gesungenen Choral in Mette, Vesper und Messe zuständig. In der Schule hatte der Junkmeister dieselben Unterrichtsaufgaben wie der Schulmeister, einschließlich der allgemeinen Disziplin, der lateinischen Grammatik und des Choralgesangs. Die Knaben, „die zu singen geschickt waren“, sollten je nach Bedarf am Samstag von morgens bis um 1 Uhr nach Mittag Gesang (cantum) lernen, ebenso zwei bis drei Tage vor Hochfesten (F-Sn Ms. 2111 allemands 187, fol. 129r)[28] oder wenn nötig jeden Tag zur Vesperzeit. Sicher dienten zu solchem Studium die zwei Schultafeln, die der Schulmeister im Jahre 1485 um 1 £ 2 gr. anschaffte, „daran er den knaben gesangk notiren mag“ (» I-BZac Hs. 648, fol. 36r). Schon im folgenden Jahr 1486 konnte Schulmeister Brictius mehrere Schultafeln in der Schule mit „Regeln“ (Notensystemen) vorbereiten lassen und bei zweien davon „wieder anders darin malen“, was vom Stadtrat bezahlt wurde (» I-BZac Hs. 650, fol. 40r). Haslers Urbar (F-Sn Ms. 2111 allemands 187, fol. 131r) fordert ausdrücklich, dass die Knaben das Versikel Benedicamus (domino) und die Responsoriumsverse der Matutin gut singen lernen, denn diese mussten sie allein vortragen, ohne die Priester und großen Gesellen. Der Kirchprobst empfiehlt den Schülern aus demselben Grund auch ein intensives Studium des planctus [Mariae] in der Karwoche – der Marienklage, die als halbdramatische Aufführung in Kirchen ganz Europas gehört wurde –, wobei die Ausführung von Marias Gesang allein durch Knabenstimmen eine gewisse realistische Note erhielt.
Das Einkommen des Junkmeisters war anders strukturiert als das des Schulmeisters, da er kaum an den Ausschüttungen der großen Jahrtagsstiftungen oder sonstigen Zins- und Renteneinkünften beteiligt war (F-Sn Ms. 2111 allemands 187, fol. 133r–143r). Von den Spenden der Karwoche und beim Ansingen durfte er nach dem älteren Schulstatut eine bestimmte Portion abzweigen. Er wurde zum Teil von den Schulkindern selbst bezahlt, die die Hälfte ihres Brots den „armen Gesellen“ und dem Junkmeister anbieten mussten. Soweit sie dies nicht wollten, hatten sie ihre „Presentur“ in der Form von einem „Fierer“ (4 d.) pro Woche an den Junkmeister abzuführen. Mit den armen Gesellen – den Astanten, die beim Gesang wie beim Unterricht mithelfen mussten – verband den Junkmeister mehr als nur ein Gehaltsinteresse: Er war prinzipiell selbst einer von ihnen. Auch den armen Schulknaben übertrug er spezielle Aufgaben; jedenfalls musste er einen armen Knaben im Winter als Heizer (calfactor) in der Schule anstellen, der außerdem die Schule kehrte. Er war ferner verantwortlich für eine bescheidenere (und ältere) Form des bezahlten Ansingens: das Recordatum, das die armen Schulknaben für eine Stunde wöchentlich in der Stadt ausführen durften. Was sie dabei ersingen konnten, lieferten sie dem Junkmeister ab, der ihnen von jedem Kreuzer einen Fierer zurückgeben musste (d. h. 4 von 12 d.). Und schließlich durften die großen Gesellen jeden Sonntag mit dem Junkmeister zu Abend essen und vor dem Pfarrhof die Antiphon Nigra sum, sed formosa singen: Dafür bekam der Junkmeister 13 Fierer, von welchen er 6 Fierer den Gesellen für Wein gab, den er dann aber mit ihnen „vertrinken“ durfte.
[27] University College London (GB-Luc), Ms. germ. 1.
[28] Mit der anscheinend irrigen Angabe, das Studium sei „zwei oder drei Tage danach“ auszuführen.
[1] Zu weltlichen Musikformen vgl. auch » E. Städtisches Musikleben und Paoli Poda 1999.
[2] Vgl. ein Häuserverzeichnis von 1497 bei Hoeniger 1951.
[3] Zur Stadtgeschichte: Mahlknecht 2006, 47–52. Die Feuersbrunst 1483 dokumentiert u. a. Felix Fabri (» D. Fürsten und Diplomaten auf Reisen).
[4] Dies reflektiert der Titel der Urkundenedition Bozen Süd-Bolzano Nord (= Obermair 2008).
[5] Strittig waren vor allem die Präsentationsrechte für Geistliche der Diözese Trient, vgl. Atz/Schatz 1903, 15.
[6] Wohl wegen der fehlenden Mauern beschreibt Andrea de’ Franceschi Bozen noch 1492 als einen „borgo“ (Markt); er betont jedoch die befestigten Straßen sowie die allgemeine Betriebsamkeit und Stattlichkeit, die Bozen wie eine wirkliche Stadt erscheinen ließen: Simonsfeld 1903, 287.
[7] Obermair 2005, 47.
[8] Atz/Schatz 1903, 21–27.
[9] Vgl. Hoeniger 1934, 29f.
[10] Edition und Kommentar: Obermair 2005.
[11] Das Kolophon lautet: „Liber de redditibus operis ecclesie parochialis in bozano et de ordinibus sindicorum“ (Buch der Einkünfte der Kirchenfabrik der Pfarre Bozen und der Verordnungen der Kirchpröbste); es ist datiert (1460 VIII 26). Ich danke der Bibliothèque der Université de Strasbourg und dem Stadtarchiv Bozen/Bolzano für freundliche Genehmigungen.
[13] Die Archivserie der Kirchprobstrechnungen wird im Folgenden etwas abgekürzt zitiert. Die vollständigen Signaturen dieser Serie im Historischen Archiv der Stadt Bozen lauten Hs. 639-671 (1470–1520).
[14] Vgl. Atz/Schatz 1903, 16; Obermair 2005.
[15] Vgl. Obermair 2005, 55. Ediert in Paoli Poda 1999, S. 113ff. Für den Vergleich mit anderen Schulordnungen der Region siehe » H. Schule, Musik, Kantorei.
[16] Vgl. Hoeniger 1934, 61–64.
[17] Walter Salmen verdanke ich die Erklärung, dass der Terminus „Junkmeister“ nicht von “Jung” abgeleitet sei, sondern von “Verbindung” wie in lat. iungere.
[18] Zur Abhängigkeit des Schulmeisters von der Stadt vgl. auch Hoeniger 1934, 28.
[19] Vgl. Atz/Schatz 1903, 14.
[20] I-BZac (StA Bozen), Urkunde Nr. 194 (1463 I 12): Die alte Pinter-Handwerksbruderschaft konstituiert sich wegen großen Zustroms neu als Fronleichnamsbruderschaft und stiftet einen gesungenen Jahrtag am Fest von St. Urban (dem Weinheiligen).
[21] Im Jahre 1480 teilt die Kirchprobstrechnung (I-BZac Hs. 644, fol. 23r) die Vergütungen folgendermaßen auf: „Schulern von dem vorgangk des sacraments zu krancken leutten 1 mr. (= 10 £), und dem schulmeister 2 £“. Die Vorschriften für die Aufteilung wurden mehrmals geändert.
[22] Kirchprobst Sigmund Zwickauer vermerkt in der Kirchprobstrechnung von 1478 (I-BZac Hs. 643, fol. 7r) den Jahreseingang von Zinsen aus Stiftungen „zw dem vorgangk gotzleichnam“: vom Spital 6 £, von Peter Sigeleins Erben 6 £, von Caspar auf Platzol (Prazöll, St. Magdalena) 1 £ und von Michel Grossel 1 £ 6 gr. Dieses zusätzliche Einkommen allein war höher als das dem Schulmeister und seinen Begleitern ausgefertigte Jahresgehalt von 12 £.
[23] Obermair 2005, 44.
[24] F-Sn Ms. 2111 allemands 187, fol. 129r (vgl. auch » H. Schule, Musik, Kantorei). Die Komplet wurde in der Pfarrkirche nicht von den Schülern gesungen.
[25] Zum möglichen Zusammenhang mit dem von Giulia Gabrielli entdeckten Bozner Fragment mensuraler Musik vgl. » Kap. Verbindung zu den Trienter Codices und » F. Geistliche Mehrstimmigkeit. Etwa zur selben Zeit sind Aufführungen polyphoner Musik in den abendlichen “Salve-Konzerten” niederländischer Stadtkirchen nachweisbar: vgl. Strohm 1985, 33 und passim.
[26] Vermerkt in F-Sn Ms. 2111 allemands 187, fol. 95r, unmittelbar nach der Salve-Stiftung.
[27] University College London (GB-Luc), Ms. germ. 1.
[28] Mit der anscheinend irrigen Angabe, das Studium sei „zwei oder drei Tage danach“ auszuführen.
[29] Vgl. Atz/Schatz 1903, 28ff.
[30] Vgl. Hassler 1849, 72. Die Behauptung ist nicht unwidersprochen geblieben: vgl. Hoeniger 1934, 9f.
[31] Man vergleiche dieses Honorar von insgesamt 825 £ für wohl zwei Jahre vollzeitiger Arbeit mit dem jährlichen Grundgehalt des Schulmeisters von 22 £ (8 £ für Salve-Singen vom Rat, 14 £ für Sakramentsumgänge von der Kirche), das sich freilich durch weitere Stiftungseinkünfte und Renten auf etwa 40 £ erhöht haben dürfte.
[32] Vgl. Hoeniger 1934, 32.
[33] Vgl. Obermair 2005, 51. Vgl. auch die Anmerkungen zur Glockenkunst im damaligen Brügge bei Strohm 1985, 2–4 und passim.
[34] Ein noch existierendes Graduale des 14. Jahrhunderts (I-BZmc Ms. 1304), das von einem Schreiber Ruotlibus (Ruodlieb) aus der Grafschaft Krain (Diözese Aquileja) angefertigt wurde und später nach Bozen gelangte, ist als Ms. 1304 des Stadtmuseums Bozen/Museo civico di Bolzano erhalten. Eine Faksimileausgabe durch Marco Gozzi und Giulia Gabrielli ist in Vorbereitung.
[35] Vgl. Wright 1986, mit Edition des Testaments 265–270.
[36] Vgl. Wright 1986; Strohm 2013.
[37] Der Trienter Codex I-TRcap 93*, eigentlich „B.L.“, wird im Unterschied zu den anderen Bänden heute nicht im Castello del Buonconsiglio aufbewahrt, sondern in der dortigen Kapitelbibliothek (Biblioteca Capitolare).
[38] Vgl. Ferdinand Troyer OFM, Chronik der Stadt Bozen, Bozen 1648, nach: Atz/Schatz 1903, 13–14.
[39] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 246.
[40] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 130–246. Die Kirchprobstrechnungen sind die Hauptquelle dieser Nachweise.
[41] Zur Verbindung zwischen kirchlichem Spiel und Stadtbürgerschaft vgl. besonders Obermair 2004.
[42] Vgl. Obermair 2004.
[43] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 131, Anm. 73, gibt an, er habe alle Kirchprobstrechnungen des Bozner Stadtarchivs durchgesehen, doch sei ihm (vor 1987) die Auswertung der Ratsprotokolle nicht ermöglicht worden. Ich danke Archivdirektor Dr. Hannes Obermair für den Zugang auch zu letzteren, die jedoch über die Spiele keine Auskunft geben.
[44] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 132f.
[45] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 212.
[46] I-BZac Hs. 655, fol. 53v.
[47] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 143–157; ausführlich zur Passion von 1495 auch Paoli Poda 1999 und Obermair 2004.