Durch wessen Hände ging die Handschrift D-Mbs Mus.ms. 3155?
Ein Erlass des Jahres 1874 im Königreich Bayern bestimmte, dass das Allgemeine Reichsarchiv in München eine Reihe von älteren Handschriften an die benachbarte Hofbibliothek abzugeben habe. Darunter befand sich auch eine kleinformatige Musikhandschrift mit 97 Liedern, die unter der heutigen Signatur Mus.ms. 3155 in der Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek verwahrt wird und als Digitalisat zugänglich ist.[1] Da die ehemaligen Archivbestände nicht nach der Provenienz geordnet waren, ist es nicht mehr nachvollziehbar, woher und auf welchem Wege das Notenmanuskript in den großen archivalischen Mischbestand kam.[2] (» Abb. Liederbuch D-Mbs Mus.ms. 3155, vorderer Einbanddeckel).
Unter bestimmten Prämissen spricht einiges dafür, dass der kompakte Kodex eine Hinterlassenschaft Ludwig Senfls ist, der 1543 als (inoffizieller) Hofkomponist Herzog Wilhelms IV. in München starb (» G. Ludwig Senfl). Doch anders als die großformatigen liturgischen Chorbücher in München, die unter seiner Ägide entstanden, kam die weltliche Musikalie nicht aus dem Kapellfundus direkt in den Bibliotheksbesitz, sondern auf Umwegen, deren letzte Station das Reichsarchiv war. Wenngleich die Annahme, das Büchlein sei an Senfls Lebensende sein Eigentum gewesen, durchaus plausibel ist, muss das nicht heißen, dass es ihm von Anbeginn gehörte. Das erlesene Erscheinungsbild der Quelle und ihr Inhalt lassen erkennen, dass hier jemand von Distinktion eine Retrospektive, vielleicht gar ein Memoriale des Liedlebens unter Kaiser Maximilian I. im Sinn hatte. Wichtigster Liedkomponist und sicher auch Liedsänger war aber im letzten Lebensjahrzehnt des 1519 in Wels verstorbenen habsburgischen Herrschers Ludwig Senfl. Seine Liedschöpfungen dominieren die fragliche Sammlung und setzen ihn als unangefochtenen Primus inter Pares des maximilianischen Liedschaffens in Szene.
Gleichwohl führt das kleine Buch vor Augen, dass der ambitionierte Plan nicht zu Ende geführt wurde. Am deutlichsten geht dies aus den zuletzt völlig leer gelassenen Blättern hervor, immerhin 29 von 133. Als man die vorgesehenen Papierlagen zu einem Kodex zusammenheftete, diese mit dem unterdessen etwas ramponierten, aber noch heute original erhaltenen Einband versah, rechnete man mit 58 mehr zu beschreibenden Seiten als heute mit Noten und Liedtexten gefüllt sind. Die drei letzten Lieder (Nr. 95–97), alle über denselben Tenor-Cantus firmus An aller Welt Schatz, Gut und Geld (mit dem Akrostichon* < ANNA) komponiert, wurden von einem ansonsten unbekannten Schreiber unter Verzicht auf die Wiedergabe des Liedtextes nachgetragen (fol. 101v–104r). Die von ihm beigefügten Autornamen „L S“ (Ludwig Senfl), „Jörg PLanckhemülleR“ (Georg Blankenmüller) und „ARnoldus de BrucK“ lassen kalkulieren, dass der Zusatz frühestens in den 1530er-Jahren, höchstwahrscheinlich aber im nächsten Jahrzehnt erfolgte.
Etwas mehr Ausdauer hatte der schreibende Vorgänger an den Tag gelegt, indem er die abgebrochene Liedsammlung ab fol. 86v mit 15 Liedern von „Lud: Sennfl“ bzw. „L. S.“ fortsetzte (Nr. 80–94). Dabei handelt es sich um solche Liedsätze, die nur in konkordanten Quellen der 1530er-Jahre auftauchen und teilweise mit Sicherheit nach Senfls Übertritt in die bayerische Hofkapelle 1523 entstanden sind: z. B. Mein Fleiß und Müh (S 230),[3] dessen Text nach der Schlacht von Pavia 1525 gedichtet wurde, oder Aus gutem Grund S 29, das Senfl offenbar 1530 für Anna von Ungarn schuf,[4] Obwohl auch eine Komposition vorkommt, die zu Senfls Erstlingswerken gehört und bereits in der Augsburger Handschrift D-As 2° Cod. 142a von ca. 1513/14 steht (So man lang macht S 283), hat es den Anschein, als sollte die Vielzahl von Senfl-Liedern des „maximilianischen“ Hauptteils mit aktuellem Material der folgenden bayerischen Periode ergänzt werden, um die so anspruchsvoll auftretende, aber Torso gebliebene ursprüngliche Sammlung würdig in eine Anthologie Senflscher Liedsätze umzuwandeln.
Dieses – seinerseits nicht abschließend realisierte – Vorhaben nimmt sich umso glaubhafter aus, als es sich bei dem Schreiber des ersten Nachtrags augenscheinlich um Lukas Wagenrieder handelt (» I. The court chapel of Maximilian I.). Wagenrieder kann als Senfls Intimus gelten,[5] denn er war sein langjähriger Kollege in der Stimmgruppe der Altisten. Schon unter Maximilian waren die beiden Gleichaltrigen als Sänger tätig; 1523 wie Senfl oder spätestens 1525/26 wurde Wagenrieder von Herzog Wilhelm IV. am Münchner Hof angestellt, und für die Jahre 1526 bis 1540 sind durch Briefe zahlreiche Kopistentätigkeiten Wagenrieders vornehmlich im Zusammenhang mit Werken Ludwig Senfls belegt; speziell in den Jahren 1536/37 schrieb er diverse Lieder seines Kollegen ab.[6] Wagenrieder, der Senfl um 14 Jahre überlebte, saß mithin an der Quelle dieses Repertoires. Zwar kennt man bis zum heutigen Tag kein Musiknotat, das mit seinem Namen stichhaltig als eine Abschrift Wagenrieders beglaubigt wäre, doch gibt es belastbare Indizien dafür, dass er die 15 Lieder im hinteren Teil von Mus.ms. 3155 (fol. 86v–101r) geschrieben hat. (» Abb. Lukas Wagenrieders Handschrift in D-Mbs Mus.ms. 3155.)
Zwei spezifische Merkmale seiner Textschrift finden sich hier wie in seinen erhaltenen Briefen: die runde, nach oben gewölbte Formung der Buchstaben m und n sowie der Usus, überzählige Wörter einer Zeile mit einem rechtwinkligen Haken an die vorherige Zeile anzubinden.[7] Da Buchstaben und Noten dieselbe Tintenfarbe aufweisen, kann auch als Notenschreiber Wagenrieder angenommen werden. Während die Eigenheit, den Diminutionsstrich im Mensurzeichen weit rechts zu platzieren, singulär ist, gehen die leicht tropfenförmigen Notenformen wohl auf ein Vorbild im (inoffiziellen) maximilianischen Notenskriptorium zurück, wie sie sich bereits in der Haupthand des Augsburger Manuskripts D-As 2° Cod. 142a finden.[8]
[1] https://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0007/bsb00079140/images/.
[2] Für die Vermutung, die Handschrift sei in den Besitz des bayerischen Herzogs gekommen und habe dort vor der Makulierung bewahrt werden können (Hell 1987, 72f.), gibt es keine Belege.
[3] Hier und im Folgenden Nummerierung nach Gasch -Tröster - Lodes 2019; siehe auch www.senflonline.com. Nummern mit * sind „questionable“, d. h. sie sind Senfl von der Forschung teils mehr, teils weniger gut begründet zugeschrieben oder sind auch unter einem anderen Namen überliefert. Die den Ziffern vorgesetzten Buchstaben bezeichnen die Gattung (S = Song, P = Proper Setting).
[4] Argumente für Datierung und Anlass bei Lodes 2013, 192–196.
[5] Vgl. Schwindt 2018a, 11–14.
[6] Siehe Gasch 2012, Anhang 1, S. 429–439.
[7] Birkendorf 1994, Bd. 1, S. 46; Bd. 2, S. 116 (Abb. 78).
[8] Falls es sich bei Hand A im Augsburger Manuskript nicht ohnehin bereits um den jungen Wagenrieder handelt, zumal die Kennzeichen der Textschrift ebenfalls starke Ähnlichkeiten aufweisen (siehe D-As 2° Cod. 142a, fol. 8v, 9v, 15v, 17v, 23v, 29v, 30v, 35v und öfter).
[2] Für die Vermutung, die Handschrift sei in den Besitz des bayerischen Herzogs gekommen und habe dort vor der Makulierung bewahrt werden können (Hell 1987, 72f.), gibt es keine Belege.
[3] Hier und im Folgenden Nummerierung nach Gasch -Tröster - Lodes 2019; siehe auch www.senflonline.com. Nummern mit * sind „questionable“, d. h. sie sind Senfl von der Forschung teils mehr, teils weniger gut begründet zugeschrieben oder sind auch unter einem anderen Namen überliefert. Die den Ziffern vorgesetzten Buchstaben bezeichnen die Gattung (S = Song, P = Proper Setting).
[4] Argumente für Datierung und Anlass bei Lodes 2013, 192–196.
[5] Vgl. Schwindt 2018a, 11–14.
[6] Siehe Gasch 2012, Anhang 1, S. 429–439.
[7] Birkendorf 1994, Bd. 1, S. 46; Bd. 2, S. 116 (Abb. 78).
[8] Falls es sich bei Hand A im Augsburger Manuskript nicht ohnehin bereits um den jungen Wagenrieder handelt, zumal die Kennzeichen der Textschrift ebenfalls starke Ähnlichkeiten aufweisen (siehe D-As 2° Cod. 142a, fol. 8v, 9v, 15v, 17v, 23v, 29v, 30v, 35v und öfter).
[9] Dabei hat das Metrum vor allem die Funktion, die beständige Abwechslung von langen/betonten und kurzen/unbetonten Textsilben abzubilden und so einen narrativen Duktus zu erzeugen (siehe Schwindt 2018 b, 54–57). Die Tradition geht auf den einstimmigen Solovortrag zurück, wobei die Tondauern im Vortrag flexibel und sprachnah modifiziert werden. Das Phänomen wurde von Marc Lewon beschrieben und mit dem Begriff „Referenzrhythmus“ erfasst (siehe u.a. Lewon 2016, 96–100).
[10] Eine Ausnahme mit partieller Autornennung stellt das erste erhaltene Liederbuch Peter Schöffers d. J. aus dem Jahr 1513 dar (» [Lieder für 3-4 Stimmen], Mainz: Peter Schöffer d.J., 1513). Der Grund liegt in der offensichtlichen Intention des Drucks, die beiden Höfe Württemberg (Stuttgart) im ersten Teil und Kurpfalz (Heidelberg) im zweiten Teil mit der Nennung ihrer jeweiligen Liedverfasser musikalisch zu repräsentieren, was eine mediale Reaktion auf die Doppelhochzeit von Sibylle und Sabine von Bayern mit Kurfürst Ludwig bzw. Herzog Ulrich am 23. Februar und 2. März 1511 war (siehe Nicole Schwindt, „Die Macht der Gefühle zum Klingen gebracht – Frauenbilder und Liebeskonzepte im Liebeslied am Hof Herzog Ulrichs“, in: Frauen. Liebe Macht Kunst. Weibliche Lebensentwürfe an südwestdeutschen Höfen, hrsg. von den Staatlichen Schlössern und Gärten Baden-Württemberg, in Vorb. Nur in ganz vereinzelten Ausnahmefällen fügen Schweizer Liedquellen des frühen 16. Jahrhunderts Initialen als Autorzuschreibung bei.
[11] Hell 1987, 130f. hat die Initialen – in keiner Weise nachvollziehbar – als LSS gelesen und als Ludwig Senfl Schweizer aufgelöst.
[12] Ausführlich zu den Fassungen und der Chronologie der Liedfamilie.Schwindt 2010, 49–62, Partitur des Liedes auf S. 57.
[14] Im Schöffer-Liederbuch von 1517 (Detailangaben im Verzeichnis deutscher Musikfrühdrucke, siehe http://www.vdm16.sbg.ac.at, Nr. 16) gibt es neun Konkordanzen mit dem ersten Teil von Mus.ms. 3155: Nr. 8, 10, 11, 13, 22, 42, 45, 70 und 76.
[15] Moser 1929, 125. Das Lied wurde bereits in Öglins erstem Liederbuch von 1512 gedruckt (Nr. 12).
[16] Mit dieser Einschätzung des paläographischen Befunds, für die ich PD Dr. Andreas Zajic, Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien, zu Dank verpflichtet bin, erübrigen sich die verschiedenen im musikwissenschaftlichen Schrifttum unternommenen Versuche, die Textschrift mit Senfls Gebrauchsschrift zu identifizieren. Beispiele für die genannten Typen finden sich in: https://tinyurl.com/Schrifttypen.
[17] Nr. 48 Lieblich hab ich, fol. 51v, Alt, beim Übergang zur 2. Zeile irrtümlich C3- statt C2-Schlüssel, was dissonante Terzversetzungen produziert, auch der zur Kontrolle heranzuziehende Schlussklang wäre ein Terz- statt ein Quintklang. Nr. 9 Inbrünstiglich, fol. 12v–13r, endet mit einem unzeitgemäßen Dreiklang A-e-e‘, dessen Dezime c‘ im Alt in den Schlusston h geführt wird. Nr. 39 In rechter Lieb, fol. 42v, Diskant, 1. Zeile, neuntletzte Note fälschlicherweise punktierte Semibrevis (Punkt im Manuskript mit Bleistift eingekreist). Nr. 49, Ludwig Senfl, Poch[en] trutzen, fol. 52v, Bass, letzte Zeile, 18. Note von hinten irrtümlich Semibrevis G statt A vor der Pause, was in der Binnenkadenz eine None zum Tenor ergibt.
[18] Thermographie-Aufnahmen der Bayerischen Staatsbibliothek: https://www.wasserzeichen-online.de/wzis/struktur.php?ref=DE5580-Musms3155_76 und https://www.wasserzeichen-online.de/wzis/struktur.php?ref=DE5580-Musms3155_50. Ich danke Frau Dr. Veronika Giglberger sehr für ihr Entgegenkommen bei der Autopsie und ihre Hilfsbereitschaft bei der Bereitstellung von bibliotheksinternen Informationen.
[20] Siehe die Einbanddatenbank http://www.hist-einband.de/?ws=w002482; hier sind die Motive Flechtwerk und Wilder Mann erfasst. Die seit dem späten 15. Jahrhundert arbeitende Augsburger Werkstatt band vermutlich auch die Bücher des Orientalisten Johann Albrecht Widmannstetter, dessen Privatbibliothek 1558 vom bayerischen Herzog Albrecht V. erworben wurde. Im Zusammenhang mit dem Übergang von in Augsburg gebundenen Buchbeständen nach München steht vielleicht auch die Tatsache, dass sich in der Bayerischen Staatsbibliothek eine Musikalie befindet (4o Mus.pr. 182), die zwei Drucke des Jahres 1543 enthält und deren Einband das Motiv des Wilden Mannes aufweist. Hell 1987, 72, der auf diese Koinzidenz hinwies, vermerkt selbst, dass „Rollen in einer Buchbinderwerkstatt immer über einen längeren Zeitraum verwendet“ wurden.
[21] Siehe » D. Music for a Royal entry.
[22] Für eine Transkription und Prosaübersetzung sowie detaillierte Interpretation des Liedtextes siehe Schwindt 2018c, 239–243 und 548.
[23] von Moltke 1970, 39.
[24] Nr. 9, 15, 19, 21, 25, 43, 44, 48, 51, 52, 54, 56, 59, 62, 72, 79, 91, 96 und 97.
[25] Nr. 11, 13, 14, 45, 58, 74, 89 und 93.
Empfohlene Zitierweise:
Nicole Schwindt: „Senfls Vermächtnis: Das Liederbuch München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. 3155“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/senfls-vermaechtnis-das-liederbuch-muenc… (2021).