„Moderna melodia“: Tropen und andere Lieder im Seckauer Cantionarius
Auch andere Tropen des Cantionarius sind formal reich gestaltet oder aufführungspraktisch „inszeniert“: so z. B. Hodie cantandus est, ein Tropus zur dritten Weihnachtsmesse (Hochamt), der Flos de spina auf demselben Blatt der Handschrift folgt (» Abb. Seckauer Cantionarius). Der Tropus Hodie cantandus est –Tuotilo von St. Gallen zugeschrieben, um 900 – ist nämlich ein Dialog über das Mysterium von Christi Geburt und wurde auch in Seckau dialogartig vorgetragen, wie das Seckauer Missale » A-Gu Cod. 456 bezeugt.[20] Der Chor kündigt an, es sei ein Knabe zu besingen; ein Solistenduo fragt, wer dieser sei („Quis est iste puer?“), und ein zweites Duo antwortet, er sei derjenige, dessen Ankunft schon lange geweissagt worden sei. Der Chor beschließt: „Ein Sohn ist uns geboren“ („Puer natus est nobis“) – womit er den darauffolgenden Trägertext des Introitus anstimmt.[21]
Nicht alle Gesänge im Cantionarius sind Tropen. Manche haben andere Gattungsbezeichnungen: „antiphona“, „sequentia“, „versus“ oder „conductus“. Das später weitbekannte Weihnachtslied Nunc angelorum gloria ist im Cantionarius (fol. 205r) als „conductus in nativitate“ bezeichnet und unterscheidet sich von einem Tropus durch seine strophische Anordnung mit Refrain, was auf weltliche Modelle verweist.[22] Am Ende der Sammlung steht ein Zyklus von Lamentationen Jeremias für die Karwoche – ab fol. 221r unter der Rubrik „moderna melodia“. Eine besondere Gruppe davor (fol. 218v–220r) bilden Tropen zum Benedicamus domino, einer damals besonders beliebten Untergattung der Tropen. Diese soll im 14. Jahrhundert eine bedeutende Rolle bei der Formung des europäischen geistlichen Liedes gespielt haben; Verbindungslinien reichen bis zur italienischen lauda und englischen carol.[23] Es überwiegt die Verwendung zum Weihnachtsfest, häufig der Vesper, Komplet oder Matutin (Mette) des klösterlichen Ritus. Vier Benedicamus-Tropen im Cantionarius sind zweistimmig, als einzige in der Sammlung; der bekannteste ist der Weihnachtstropus Procedentem sponsum de thalamo (fol. 218v). Er ist heute in mindestens 25 zentraleuropäischen Quellen nachweisbar; der Seckauer Cantionarius bietet eine der ältesten bekannten Aufzeichnungen des Stücks (» A. Kap. Weihnachtliches Hohelied und » Hörbsp. ♫ Procedentem ).[24]
[20] A-Gu Ms. 456. Vgl. AH 49, 7–8.
[21] Im Cantionarius selbst, fol. 179r–179v, sind die zwei Solistenpaare als „Recto“ und „Pls“ („Rectores“ und „Populus“?) rubriziert. Zur Überlieferung von Hodie cantandus vgl. Haug 1995.
[22] Edition in AH 1, 76, Nr. 37 (Text) und 191, Nr. VI (auch Melodie).
[23] Vgl. Harrison 1965; Strohm 2007.
[24] Näheres zu diesem Stück bei Celestini 1995.
[1] Vgl. Husmann 1962. Husmanns Unterscheidung zwischen Benediktiner- und Augustinertraditionen ist freilich in der Region nicht so klar konturiert (Hinweis von Dr. Robert Klugseder).
[2] Vgl. Praßl 1998a und Praßl 1998b als Beispiele der neueren Erforschung von libri ordinarii im Gegensatz zur Erfassung liturgischer Gattungscorpora.
[3] Vgl. Graus 1994.
[4] Vgl. Spechtshart 1958; Bruggisser-Lanker 2010, 231–255.
[7] Zum Vorgang in der Geschichte des Kirchenlieds vgl. Strohm 2009.
[8] Vgl. auch die Textedition in AH 49, S. 46, Nr. 67.
[9] A-Gu Ms. 756. Zur Handschrift vgl. Lipphardt 1974; Irtenkauf 1956a; Irtenkauf 1956b; Flotzinger 1977, 79.
[10] Edition: Dömling 1972.
[11] Vgl. Irtenkauf 1956a. Das Datum und die Angabe, das Buch insgesamt heiße „Breviarium“, stehen auf der Schlussseite des originalen Gesamtcodex (fol. 228v).
[12] Vgl. Behrendt 2009, S. 42–46.
[13] Vgl. das kommentierte Inhaltsverzeichnis des Cantionarius bei Behrendt 2009, S. 47–58.
[14] Irtenkauf 1956b, 261 und Anm. 23.
[15] Eine Auflistung der Quellen dieses Conductus bei Stenzl 2000, 155.
[16] Vgl. Lipphardt 1974. Eine andere Ableitung aus dem Notre-Dame-Repertoire ist der Tropus De Stephani roseo (fol. 185r): Vgl. Irtenkauf 1956a, 135–136, und Flotzinger 1977, 85.
[17] Vgl. Irtenkauf 1956a, besonders 131.
[18] Vgl. Flotzinger 1977, 79.
[19] Vgl. Dömling 1972, Nr. 1.
[21] Im Cantionarius selbst, fol. 179r–179v, sind die zwei Solistenpaare als „Recto“ und „Pls“ („Rectores“ und „Populus“?) rubriziert. Zur Überlieferung von Hodie cantandus vgl. Haug 1995.
[23] Vgl. Harrison 1965; Strohm 2007.
[24] Näheres zu diesem Stück bei Celestini 1995.
[26] Zu beiden Fassungen vgl. Behrendt 2009, S. 417–421, mit Textedition der Fassung des Liber ordinarius.
[27] Zum Kindelwiegen vgl. » A. Laienfrömmigkeit: Die Rolle der Kirche; zu den Liedern ausführlich Ameln 1970, 65–91; Tanz von Maria und Joseph ist in einem der Spiele erwähnt (vgl. S. 75).
[28] Vgl. Hiley 1996.
[29] Diesem Refrain geht eine Zeile „Apparuit quem genuit Maria“ voraus, die dem Refrain der Cantio Nove lucis fast gleicht. Die Zeile ist im Resonet in laudibus jedoch Teil der Strophe, deren Struktur ohne sie unbalanciert wäre. Wahrscheinlich ist dies ein Anzeichen dafür, dass die Cantio Nove lucis selbst in Anlehnung an Resonet in laudibus entstanden ist.
[30] Ameln 1970, 54, Anm. 7, bezieht die reichere Neumierung irrig auf das „Eya“ im Refrain des Magnum nomen.
[31] Vgl. Petzsch 1966.
[32] D-Sl HB I 109, fol.122r (freundliche Mitteilung von Dr. Robert Klugseder). Vgl. Klugseder 2013.
[34] Die sieben deutschen Lieder im Liber ordinarius sind beschrieben bei Behrendt 2009, S. 422–436.
[35] Dies betont Irtenkauf 1956a, S. 131–132.
[36] D-Mu Cod. Hs. 2° 156, fol. 230v (vgl. Hiley 1996).
[37] Deutlichere Belege für populäre Vorlagen gibt es im katalanischen Llibre Vermell und im irischen Red Book of Ossory : vgl. Strohm 1993, 62–63.
[38] Vgl. Plocek 1985; Böse/Schäfer 1988; Strohm 2007.
[39] Schmitz 1936, 409.