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Passions- und Osterfeierlichkeiten: Prozession

Andrea Horz

Während die Liturgie und der dazu gehörige Gesang die Passion Christi in der rituellen Sprache gleichsam überformten, symbolträchtig aufluden und verdichteten, begleiteten weitere Handlungen die Osterfeierlichkeiten, an denen das Volk mehr Anteil hatte. Prozessionen und Spiele verbanden weltliche und geistliche Sphäre; in ihnen hatte auch die Gruppe der Juden, respektive die Figur des Judas, ihren Platz– wenig überraschend: als Feinde Christi (» J. Singende Juden).

Allein durch die räumliche Bewegung vom Kircheninneren nach außen verbanden Prozessionen profanen und sakralen Raum. Gleichsam wie in einem Drama ermöglichten sie der Gemeinde den Nachvollzug eines mythologischen Geschehens und schufen zugleich den Gläubigen durch das gemeinsame, auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtete Tun eine Gruppenidentität.[30] Dabei prägten sich vor allem im Rahmen der Osterfeierlichkeiten im christlichen Ritus volkstümliche Eigenheiten aus, die neben streng liturgisch gebundene Prozessionen traten.[31] 

Als Beispiel diene hier die Prozession der Karwoche in St. Stephan zu Wien.[32] Hierzu sind in » A-Wn Cod. 8227 Eigentümlichkeiten der Osterfeierlichkeiten festgehalten, die jenseits des Datums der Niederschrift im 17. Jahrhunderts auf lange tradierte Praktiken verweisen.[33] Über die Überlieferung des Passionsspiels hinaus geben die an den Kirchenraum St. Stephan gebundenen präzisen Ortsangaben und die Hinweise auf gemeindetypische Abläufe der Feierlichkeiten einzigartigen Einblick in die damaligen Gepflogenheiten.

Der Schreiber hob nachdrücklich die sich von anderen Gemeinden unterscheidende Praxis in den Metten der Karwoche[34] zum Gedächtnis Christi, der zwölf Apostel und der drei Heilmarien hervor. Während andernorts ein vor dem Altar aufgestellter Leuchter nur 15 Kerzen umfasste, seien es in St. Stephan 31 gewesen: Jeweils zwei Kerzen wurden nach der Vollendung eines Psalms gelöscht; die höhere Kerzenanzahl ermöglichte es, dass am Ende eine Kerze als Symbol des göttlichen Teils Christi erleuchtet bleiben konnte. Darauf folgte eine Prozession um den Friedhof und um die Kirche unter „ein Teutsches uraltes Gesang“ der Gemeinde, eine Wiener Version des Laus tibi Christe.

Bei diesem Gesang handelt es sich um ein traditionsreiches und weitverbreitetes Lied, das in verschiedenen Textversionen überliefert ist und seinen Ort (nicht nur) in der „Vinstermetten“ hat (» A. Osterfeier; » Notenbsp. Laus tibi Christe).[35] Dem Aufführungsanlass gemäß ist die Passion Christi der Gegenstand. Die Besonderheit des von Camesina transkribierten Wiener Textes, der in der einschlägigen Forschungsliteratur bislang keine Beachtung fand, besteht in der vergleichsweise starken Akzentuierung des durch die Juden veranlassten Unrechts, das Christus erleiden musste. „König Schöpffer Lobesamb der reinen Jungfraw Kindt, Wie bitterlich die Juden auf Dich gefallen sindt“[36] lautet eine (auch anderswo gesungene) Strophe. Der bekannten, auch für sich allein stehend und in zahlreichen Umdichtungen als reformatorisches Kampflied verbreiteten Judasstrophe – hier: „O du Armer Judas, was hast du gethan, Das du Unssern Herrn, also verrathen hast, Darumb so mustu leiden, die höllische Pein, Lucifers geselle mustu Ewig sein. Kyrie etc.“ – ist zum Schluss eine zweite, auf Judas gemünzte Strophe zur Seite gestellt, die in anderen Quellen offenbar nicht zu finden ist. Damit ist Judas in der Wiener Liedversion nicht nur in der üblichen Weise als Verräter charakterisiert, sondern darüber hinaus sind seine „Nachkommen“ als Feiglinge ausgezeichnet:[37] „O du armer Judas, wie dein Vatter hiess, Er hatt ein staubigs Hütel auff, darzu ein rostigen spiess, Er thet sich ritterlich wehren, er stundt wohl hinter der Thür, Alss baldt die schlacht fürüber, da tratt er wider herfur. Kyrie“ etc. (» Notenbsp. O du armer Judas)

 

 

In diesem Prozessionslied sind also auch die negativen Stereotypen um Judas und die Juden konserviert. Im sakralen Raum gesungen und als Teil des durch die Prozession besonders anschaulich gestalteten Gedenkens an die Passion Christi erhielten solche Aussagen große Schlagkraft bei der öffentlichen Meinungsbildung.

[30] Zur Bedeutung der Prozession siehe Felbecker/Rausch 1999, 678–681 sowie Gerhards1996.

[31] Gerhards 1996, 595.

[32] Zu anderen Prozessionen und Gebräuchen an St. Stephan vgl. » E. Musik im Gottesdienst und » E. SL Fronleichnamsprozession.

[33] Am Beginn der Handschrift Historia ecclesiastica urbis Viennensis (» A-Wn Cod. 8227) gibt der Verfasser Johannes Matthias Testarello della Massa an, seine Berichte nach alten Archivalien, Geschichtsbüchern, Dokumenten, Nachrichten und Urkunden ausgearbeitet zu haben. Wenngleich die Handschrift aus dem 17. Jahrhundert stammt, so verweist sie also doch auf alte Praktiken. Einleitend zur Beschreibung der Osterfestlichkeiten schreibt er folgende Worte: „Es wurden auch in dieser Kirchen von uralter Zeit hero bis an heutigen Tag […] gewisse Ceremonien observiert […]“ (A-Wn Cod. 8227, S. 374). Der bei den Spielen eingesetzte Palmesel trägt nach Testarello die Jahreszahl 1435. (A-Wn Cod. 8227, S. 374) Siehe hierzu auch den Kommentar von Albert Ritter von Camesina, der diese Seiten transkribierte: Camesina 1869, 340.

[34] Sie fanden am Mittwoch, Donnerstag und Freitag statt.

[35] Siehe auch Lipphardt 1961. Geht es in diesem Beitrag zwar vorrangig darum, das Lied in seiner langen Entwicklung aus dem Hymnus Rex Christe factor omnium zu skizzieren, so ist zugleich ein Eindruck von den unterschiedlichsten Fassungen des Liedes zu gewinnen, das in Kontrafaktur in zahlreichen kirchlichen wie auch weltlichen Kontexten verwendet wurde. Zur mehrstimmigen Fassung Senfls und der daraus stammenden „Judasstrophe“ im Speziellen siehe Wagner-Oettinger 2001.

[36] Camesina 1869, 328.

[37] Zur Zeit der Niederschrift von » A-Wn Cod. 8227 – Mitte des 17. Jahrhunderts – war diese Strophe in St Stephan jedoch nicht mehr in Gebrauch: Testarello verweist darauf, dass nun nur noch das Singen der ersten sieben Strophen üblich sei. Das Prozessionslied endete also mit dem allgemein verbreiteten Judasvers (A-Wn Cod. 8227, S. 378; siehe auch Camesina 1869, 328).