Der Vorwurf des Gottesmordes
Im Spätmittelalter waren jüdische Gemeinden in der Region Österreich im christlichen Umfeld – wie auch zu anderen Zeiten und an anderen Orten – der Bedrohung gesellschaftlicher Ausgrenzung bis hin zur Vertreibung, Verfolgung und Tötung ausgesetzt. Quelle und Nährboden für diese lebensbedrohlichen gesellschaftlichen Vorgänge war ein entsprechend stigmatisierender Diskurs: „Jüdischer Gottesmord“ lautete der Vorwurf, der in der christlichen Gesellschaft deshalb besonders tief verwurzelt erscheint, weil er vermeintlich in der Heiligen Schrift, der Bibel, bereits vorgeprägt sein soll. Seit den Anschuldigungen der Kirchenväter sind diese verleumderischen Züge gleichsam in ein christliches Glaubensbild eingegossen[1] – ein Zerrbild: Erst 1965 sprach das II. Vatikanische Konzil die Juden von der Kollektivschuld am Tode Christi frei.[2]
Ein weithin bekanntes, aufsehenerregendes und folgenschweres Beispiel für Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung im 15. Jahrhundert in der Region Österreich ist der Fall Simon von Trient, der zum Tod und zur Vertreibung jüdischer Familien in der Stadt führte. Der zweijährige Simon soll Opfer eines jüdischen Ritualmordes gewesen sein, denn – so die zum jüdischen Glauben völlig konträr stehende Meinung – für jüdische Rituale sei christliches Blut vonnöten, das sich die Juden durch den Raub und den Mord christlicher Kinder beschafften.[3] Das Beispiel dokumentiert die schwerwiegenden Auswirkungen eines zum Stereotyp verfestigten Klischees,[4] das sich nicht allein sprachlich formierte. In den verschiedenen Kunstformen, darunter Musik, zeigt sich die Durchschlagskraft der ideologischen, antijüdischen Indoktrinierung. Als deren Träger fungierten insbesondere all die Formen, in denen die Kreuzigung und das Leiden Christi und der Märtyrer festgehalten sind.[5]
[1] Siehe hierzu Schreckenberg 1990; Schreckenberg 1991.
[2] Einen theologischen Zugang zur Aufarbeitung dieser Problematik erprobt Jozef Niewiadomski, der die Ritualmordanschuldigung als Entfernung des christlichen Glaubens vom Zentrum sieht: Niewiadomski 2003. Zum Verhältnis von Ritualmordvorwurf und Christentum siehe auch Banning 2003 und Rouart 2003.
[3] Zur Historie der Ritualmordlegenden und deren Stereotypen siehe beispielsweise Erb 2003.
[4] Schoeps 1995, 10, verweist auf die Wichtigkeit, nicht allein die Geschichte der antisemitischen Vorurteile zu dokumentieren, sondern auch deutlich zu machen „wie ein Klischee entsteht, wie es sich in den Köpfen zu einem Stereotyp verfestigt und welche Wirkungen es haben kann“.
[5] Oder wie Schoeps formuliert: „Jede Skulptur und jedes Gemälde über Kreuzigung und Leiden des Heilands und der Märtyrer, mit denen die Kirchen ausgeschmückt sind, erinnern daran und verdeutlichen es. Im Lied, im Märchen, aber auch im Passionsspiel – überall taucht dieses Bild auf, das nicht nur alle tradierten antijüdischen Vorurteile bündelt, sondern vielfach als Aufforderung begriffen worden ist, sich gegen die Juden abzusetzen und sich ihrer handgreiflich zu erwehren.“ (Schoeps 1995, 9).
[1] Siehe hierzu Schreckenberg 1990; Schreckenberg 1991.
[2] Einen theologischen Zugang zur Aufarbeitung dieser Problematik erprobt Jozef Niewiadomski, der die Ritualmordanschuldigung als Entfernung des christlichen Glaubens vom Zentrum sieht: Niewiadomski 2003. Zum Verhältnis von Ritualmordvorwurf und Christentum siehe auch Banning 2003 und Rouart 2003.
[4] Schoeps 1995, 10, verweist auf die Wichtigkeit, nicht allein die Geschichte der antisemitischen Vorurteile zu dokumentieren, sondern auch deutlich zu machen „wie ein Klischee entsteht, wie es sich in den Köpfen zu einem Stereotyp verfestigt und welche Wirkungen es haben kann“.
[5] Oder wie Schoeps formuliert: „Jede Skulptur und jedes Gemälde über Kreuzigung und Leiden des Heilands und der Märtyrer, mit denen die Kirchen ausgeschmückt sind, erinnern daran und verdeutlichen es. Im Lied, im Märchen, aber auch im Passionsspiel – überall taucht dieses Bild auf, das nicht nur alle tradierten antijüdischen Vorurteile bündelt, sondern vielfach als Aufforderung begriffen worden ist, sich gegen die Juden abzusetzen und sich ihrer handgreiflich zu erwehren.“ (Schoeps 1995, 9).
[7] Worstbrock 1992, 1260, verweist auf die judenfeindlichen Predigten des Bernardino da Feltre.
[8] Zum Inquisitionsverfahren siehe beispielsweise Hsia 1997 oder Quaglioni 2003, 90 ff. Mit reichlichen Zitaten aus dem Quellenmaterial, vor allem den Prozessakten, arbeitet Anna Esposito das Stereotyp der Anschuldigungen heraus: Esposito 2003.
[9] Zu dem Vorgehen und der Art der Folteranwendungen siehe ebenfalls die Rekonstruktion nach den Protokollen von Esposito 2003, 137 ff.
[10] Siehe die Zusammenfassung bei Worstbrock 1992, 1260 ff.
[11] Die Publikationswelle hält immer noch an, kaum ein Jahr vergeht ohne Publikation zu diesem Vorfall. Zu dieser Bemerkung siehe Quaglioni 2003, 85. Allgemein zu den medialen Mitteln, mit deren Hilfe Judenfeindlichkeit verbreitet wurde, siehe Frey 2013.
[12] Siehe hierzu auch » J. Türken.
[13] Diesen Vergleich zog Worstbrock 1992, 1262.
[14] Worstbrock 1992, 1262. Bei dieser publizistischen Flut erscheint es nicht zufällig, dass dieses Ereignis den Einzug des Buchdruckes in Trient markierte. Das erste Werk des Verlegers Albert Kunne ist über Simon. (siehe hierzu Esposito 2003, 149).
[15] Zu den Wundern, siehe Esposito 2003, 144 ff.
[16] Zur historischen Entwicklung des Kanonisationsverfahrens von Heiligen siehe die aufschlussreiche Darstellung bei Hausberger 1985.
[17] Quaglioni 2003, 100.
[18] Daten aus Worstbrock 1992, 1261.
[19] Siehe hierzu das 1588 herausgegebene Formular zum Ablauf der Feierlichkeiten, online unter: http://www.stabat.it/?q=scheda/62 [03.09.2015].
[20] Die Übersetzungen in diesem Beitrag stammen, soweit nicht anders ausgewiesen, von der Verfasserin.
[21] Die Wunder Simons sind in einem Kodex, aufbewahrt im Fürstbischöflichen Archiv des Stadtarchivs Trient, registriert (AST, APV, S.1, Karton 69, Nr. 5a; nach Esposito 2003, 157). Weitere Ausführungen in Esposito 2003, 144 ff.
[22] Da der Fall des Andreas von Rinn eng mit Simon von Trient verbunden ist, verwundert es nicht, dass dieser Hymnus auch zu Ehren des „Anderle“ gesungen wurde. Zum Zusammenhang der Fälle siehe die Ausführungen von Schroubek 2003.
[23] Mit der Vermehrung der Heiligenfeste im Spätmittelalter war das eigentlich festliche Heiligenoffizium fast Normalfall, nicht das Tagesoffizium. Siehe hierzu Häussling 2000, 1234.
[24] Siehe zur spätmittelalterlichen Klangatmosphäre die paradigmatischen Ausführungen von Strohm 1985, insbesondere 2 ff.
[25] Zudem kam im Mittelalter, vor allem im Spätmittelalter, unter den Laien das Bedürfnis auf, das tägliche Gebet an den Klerus anzugleichen. Eine Folge davon war die Verbreitung von Stundenbüchern, die sich inhaltlich an das Brevier des Klerus anlehnen, aber beispielsweise durch Textauswahl persönliche Züge tragen können. Zur Praxis des Stundengebets und vor allem zu dessen Bedeutung für Kloster, Weltklerus und Laien siehe die Ausführungen von Waldhoff 2012.
[27] Von Anfang an setzte man die angebliche Passion des Kindes Simon mit dem Leiden und Sterben Christi in Beziehung. Bereits das unter Folter von den Juden erzwungene und von der Inquisition in bestimmte Richtungen gelenkte Geständnis verweist auf diese Parallele. Die für Juden wohltuende Wirkung des christlichen Blutes trete nur dann ein – so die in den Prozessakten festgehaltene jüdische Aussage –, wenn das christliche Kind in derselben Form wie Jesus getötet werde und zudem nicht älter als sieben Jahre – also unschuldig – sei. Kinder unter sieben Jahre galten als unschuldig, da sie nach der allgemeinen Auffassung ihre Taten gegenüber Gott noch nicht verantworten mussten. Siehe hierzu Esposito 2003, 142 f. Ebenfalls spricht dies Worstbrock 1992, 1263 f. an.
[28] Siehe Esposito 2003, 144 ff. Zu Hinderbach und seinem Glaubensverständnis, insbesondere seiner Heiligenverehrung und seinem Bemühen um Etablierung von Heiligenkulten und Reliquienverehrung, siehe Rando 2008, insbesondere das Kapitel aus dem zweiten Teil: II. Seele und Seelenheil, sowie S. 213.
[29] Zum Stereotyp des „Gottesmordes“ im deutschsprachigen Raum vgl. beispielsweise den Überblick von Weinzierl 1995.
[30] Zur Bedeutung der Prozession siehe Felbecker/Rausch 1999, 678–681 sowie Gerhards1996.
[31] Gerhards 1996, 595.
[32] Zu anderen Prozessionen und Gebräuchen an St. Stephan vgl. » E. Musik im Gottesdienst und » E. SL Fronleichnamsprozession.
[33] Am Beginn der Handschrift Historia ecclesiastica urbis Viennensis (» A-Wn Cod. 8227) gibt der Verfasser Johannes Matthias Testarello della Massa an, seine Berichte nach alten Archivalien, Geschichtsbüchern, Dokumenten, Nachrichten und Urkunden ausgearbeitet zu haben. Wenngleich die Handschrift aus dem 17. Jahrhundert stammt, so verweist sie also doch auf alte Praktiken. Einleitend zur Beschreibung der Osterfestlichkeiten schreibt er folgende Worte: „Es wurden auch in dieser Kirchen von uralter Zeit hero bis an heutigen Tag […] gewisse Ceremonien observiert […]“ (A-Wn Cod. 8227, S. 374). Der bei den Spielen eingesetzte Palmesel trägt nach Testarello die Jahreszahl 1435. (A-Wn Cod. 8227, S. 374) Siehe hierzu auch den Kommentar von Albert Ritter von Camesina, der diese Seiten transkribierte: Camesina 1869, 340.
[34] Sie fanden am Mittwoch, Donnerstag und Freitag statt.
[35] Siehe auch Lipphardt 1961. Geht es in diesem Beitrag zwar vorrangig darum, das Lied in seiner langen Entwicklung aus dem Hymnus Rex Christe factor omnium zu skizzieren, so ist zugleich ein Eindruck von den unterschiedlichsten Fassungen des Liedes zu gewinnen, das in Kontrafaktur in zahlreichen kirchlichen wie auch weltlichen Kontexten verwendet wurde. Zur mehrstimmigen Fassung Senfls und der daraus stammenden „Judasstrophe“ im Speziellen siehe Wagner-Oettinger 2001.
[36] Camesina 1869, 328.
[37] Zur Zeit der Niederschrift von » A-Wn Cod. 8227 – Mitte des 17. Jahrhunderts – war diese Strophe in St Stephan jedoch nicht mehr in Gebrauch: Testarello verweist darauf, dass nun nur noch das Singen der ersten sieben Strophen üblich sei. Das Prozessionslied endete also mit dem allgemein verbreiteten Judasvers (A-Wn Cod. 8227, S. 378; siehe auch Camesina 1869, 328).
[38] Passions- und Osterspiele waren im Spätmittelalter und bis ins 18. Jahrhundert hinein weit verbreitet (vgl. auch » H. Musik und Tanz in Spielen und » H. Sterzinger Spielarchiv). Das älteste im deutschen Sprachraum bezeugte geistliche Spiel scheint das seit 1187 in Hagenau im Elsass nachweisbare zu sein. (Köpf 1996, 735) Zur Entstehung und Geschichte der deutschen Passionsspiele siehe Bergmann 1972 sowie allgemein Bergmann 1986.
[39] Neumann 1979, 593.
[40] Kummer 1882, 139. Die Melodien der Spiele sind herausgegeben in Suppan/Janota 1990, Zitat auf S. 172.
[41] Siehe auch Frey 2001, sowie insbesondere » J. Singende Juden.
[42] Eggers 1980, 592.
[43] Kummer 1882, 161; Suppan/Janota 1990, 200 f.
[44] „Ier teufel in der helle grunt, tout auf an dieser stund! Eur gewalt mous haben ein end, di sel sind euch all enphremd, mit meinem tod ich seu erlost han. Die christenhait, al fraun und man, die seullen dir uebrig sein; stoezt Juden und checzer dar ein! Wol aus her, Eva und Adam und all di gelaubent an menen nam, ich will euch feuren sicherleich zu meinem vater in das himelreich“ (Kummer 1882, 142; Suppan/Janota 1990, 174).
[45] Auf diese Parallele verweist Lipphardt 1961, 72.
[46] Auf diese Parallele macht Kummer 1882, 161, bereits beiläufig aufmerksam.
[47] Siehe zu diesem im Hochmittelalter entwickelten Verständnis Häussling 2000, 1234, sowie Köpf 1996, insbesondere 733.
[48] Zu weiteren Tagzeitengedichten (und Liedern) vgl. Palmer 1995.
[49] Siehe zu diesem Komplex den sehr kompakten und äußerst aufschlussreichen Artikel Köpf 1996. Zu den Hintergründen dieser Wende mit Blick auf die Abwehr von Häretikern vgl. auch Duby 1992.
[50] Zu den Zusammenhängen zwischen Passionsdarstellung und Judenfeindschaft siehe ebenfalls Köpf 1996, 730.
[51] Zum Lied Maria zart siehe Lodes 2001 sowie Lodes 2008.
[52] Ganz anders in der berühmten Sequenz Stabat mater: Juden werden mit keinem Wort erwähnt. Das bedeutet, dass die Darstellung der Passion auch ohne dieses negative Stereotyp auskommen konnte.
[53] Nach Rzyttka 1952, 273 f.
[55] Zur Verbindung von Marienfrömmigkeit und Judenfeindschaft siehe auch die Beiträge in Heil/Kampling 2001.
[56] Wenninger 2003, 206.
[57] Wenninger 2003, 206.
[58] Das Lied ist in der sogenannten Toller-Melodie zu singen. Es ist eines von fünf Liedern und Gedichten, das in Liliencron 1966, 332, zu finden ist. Die Ausführungen von Liliencron 1966, 316–319, geben Einblick in die Umstände der Vertreibung. Weitere Lieder über Judenverfolgungen finden sich ebenfalls in diesem Band. Zur Synagogenzerstörung und zum Marienkirchenbau siehe beispielsweise Glüber 2001.
[59] Strohm 2014, 18 f. Vgl. auch » B. Kap.
Empfohlene Zitierweise:
Andrea Horz: „Aggressionen und Ängste. Judenhass“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/aggressionen-und-angste-judenhass> (2016).