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Der Vorwurf des Gottesmordes

Andrea Horz

Im Spätmittelalter waren jüdische Gemeinden in der Region Österreich im christlichen Umfeld – wie auch zu anderen Zeiten und an anderen Orten – der Bedrohung gesellschaftlicher Ausgrenzung bis hin zur Vertreibung, Verfolgung und Tötung ausgesetzt. Quelle und Nährboden für diese lebensbedrohlichen gesellschaftlichen Vorgänge war ein entsprechend stigmatisierender Diskurs: „Jüdischer Gottesmord“ lautete der Vorwurf, der in der christlichen Gesellschaft deshalb besonders tief verwurzelt erscheint, weil er vermeintlich in der Heiligen Schrift, der Bibel, bereits vorgeprägt sein soll. Seit den Anschuldigungen der Kirchenväter sind diese verleumderischen Züge gleichsam in ein christliches Glaubensbild eingegossen[1] – ein Zerrbild: Erst 1965 sprach das II. Vatikanische Konzil die Juden von der Kollektivschuld am Tode Christi frei.[2]

Ein weithin bekanntes, aufsehenerregendes und folgenschweres Beispiel für Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung im 15. Jahrhundert in der Region Österreich ist der Fall Simon von Trient, der zum Tod und zur Vertreibung jüdischer Familien in der Stadt führte. Der zweijährige Simon soll Opfer eines jüdischen Ritualmordes gewesen sein, denn – so die zum jüdischen Glauben völlig konträr stehende Meinung – für jüdische Rituale sei christliches Blut vonnöten, das sich die Juden durch den Raub und den Mord christlicher Kinder beschafften.[3] Das Beispiel dokumentiert die schwerwiegenden Auswirkungen eines zum Stereotyp verfestigten Klischees,[4] das sich nicht allein sprachlich formierte. In den verschiedenen Kunstformen, darunter Musik, zeigt sich die Durchschlagskraft der ideologischen, antijüdischen Indoktrinierung. Als deren Träger fungierten insbesondere all die Formen, in denen die Kreuzigung und das Leiden Christi und der Märtyrer festgehalten sind.[5]

[1] Siehe hierzu Schreckenberg 1990Schreckenberg 1991.

[2] Einen theologischen Zugang zur Aufarbeitung dieser Problematik erprobt Jozef Niewiadomski, der die Ritualmordanschuldigung als Entfernung des christlichen Glaubens vom Zentrum sieht: Niewiadomski 2003. Zum Verhältnis von Ritualmordvorwurf und Christentum siehe auch Banning 2003 und Rouart 2003.

[3] Zur Historie der Ritualmordlegenden und deren Stereotypen siehe beispielsweise Erb 2003.

[4] Schoeps 1995,  10, verweist auf die Wichtigkeit, nicht allein die Geschichte der antisemitischen Vorurteile zu dokumentieren, sondern auch deutlich zu machen „wie ein Klischee entsteht, wie es sich in den Köpfen zu einem Stereotyp verfestigt und welche Wirkungen es haben kann“.

[5] Oder wie Schoeps formuliert: „Jede Skulptur und jedes Gemälde über Kreuzigung und Leiden des Heilands und der Märtyrer, mit denen die Kirchen ausgeschmückt sind, erinnern daran und verdeutlichen es. Im Lied, im Märchen, aber auch im Passionsspiel – überall taucht dieses Bild auf, das nicht nur alle tradierten antijüdischen Vorurteile bündelt, sondern vielfach als Aufforderung begriffen worden ist, sich gegen die Juden abzusetzen und sich ihrer handgreiflich zu erwehren.“ (Schoeps 1995, 9).