Sie sind hier

Musikalisch-liturgische Reflexionen eines Konfliktes

Andrea Horz

Das Andenken an das Leiden und die Auferstehung Christi, das Ostergeschehen, ist im christlichen Glauben und Volksbrauch zentral: Erst der Kreuzestod Christi, der die Sünde der Welt auf sich nimmt, erlöst die Gläubigen und führt zum ewigen Leben. Bestandteil der biblischen Erzählungen um dieses Erlösungsereignis ist die jüdische Beteiligung an diesen Geschehnissen. Die Juden treten als diejenigen auf, die Christus – mithilfe des geldgierigen und verräterischen Christusjüngers Judas – an das Kreuz bringen.

Die das Osterereignis begleitenden liturgischen Gesänge reflektierten die einzelnen Szenen der biblischen Erzählung. Das am Gründonnerstag zu singende Responsorium Iudas mercator pessimus lautete beispielsweise in einem Antiphonale aus Rein (» A-Wn Cod. 1799**, um 1240) folgendermaßen:

Responsorium Iudas mercator pessimus osculo petit Dominum. Ille ut agnus innocens non negat Iudae osculum. Denariorum numero Christum Iudaeis tradidit.

Versus Melius illi erat, si natus non fuisset. Denariorum numero Christum Iudaeis tradidit.

Responsorium Judas, der schlimme Händler, bat den Herrn um einen Kuss. Der aber – wie ein unschuldiges Lamm – verweigerte nicht dem Judas den Kuss. Für eine handvoll Geld hat er Christus den Juden verraten.

Versus Besser wäre es für ihn gewesen, er wäre nicht geboren. Für eine handvoll Geld hat er Christus den Juden verraten.

 

Abb. Iudas mercator

Abb. Iudas mercator

Iudas mercator pessimus: Responsorium zum Gründonnerstag aus dem Antiphonale » A-Wn Cod. 1799** (aus dem Zisterzienserstift Rein, um 1240), fol. 66v (Zeile 5–8).

 

Ein anderes Responsorium zum Gründonnerstag aus derselben Quelle (fol. 67v) referiert so auf das biblische Ereignis:

O Iuda, qui dereliquisti consilium pacis et cum Iudaeis consiliatus es triginta argenteis vendidisti sanguinem justum et pacis osculum ferebas quam in pectore non habeas.

O Judas, der du die friedliche Zusammenkunft verlassen und dich mit den Juden beraten hast,  für dreißig Silberstücke verkauftest du  das Blut eines Gerechten. Du brachtest den Friedenskuss, den Du nicht im Herzen trugst.

In den Gesängen des gregorianischen Chorals, dem musikalischen Grundbestand des lateinischen Ritus, stehen sich die Christen und die feindlich gesinnten Juden gegenüber. Dort ist das Motiv des verräterischen Judas aufgegriffen, der den Nähe signalisierenden Bruderkuss benutzte, um Christus den Juden auszuliefern. Geldgier und Falschheit – so die im Gesang tradierte Geschichte – verleiteten Judas zu dieser Tat. Der Vers des ersten hier präsentierten Responsoriums verkündet das christliche Urteil über ihn: „Es wäre besser für ihn gewesen, er wäre nicht geboren.“