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Emotionalisierung der Passion

Andrea Horz

Juden als „Gottesmörder“, Judas als Verräter: Die in den liturgischen Gesängen bereits vorhandenen Figuren erfuhren in den verschiedenen, in den Lebensalltag der Menschen integrierten musikalischen Formen große Aufmerksamkeit. Innerhalb der Erzählungen stellten sie die „Bösewichte“ dar. Mit dieser vereinfachenden Schwarzweißzeichnung, der extrem kontrastierenden Gegenüberstellung zwischen Gut und Böse, sollten die Zuhörer eindringlicher vom Leiden Christi berührt werden.

Das Begehren nach der Emotionalisierung der Glaubensinhalte, der Wunsch der Gläubigen, die Leiden Christi affektiv nachzuvollziehen, war Teil einer Bewegung, die als „Wende der Wahrnehmung der Passio im Hochmittelalter“ beschrieben worden ist. Die Menschlichkeit und das Leiden Christi rückten gegenüber dem spätantiken und frühmittelalterlichen Christusbild in den Mittelpunkt des Interesses.[49] Volkssprachliches Lied und theatralisches Osterspiel waren unter diesem Gesichtspunkt Mittel, die die Passion weitaus mehr als die liturgischen Gesangspartes des gregorianischen Chorals greifbar und sinnlich wahrnehmbar machten.

Die dramatisierte Darstellung der Passion führte dazu, dass die feindliche Gesinnung gegenüber den Juden untrennbarer Bestandteil des Christusgedenkens wurde.[50] Jenseits der Passionsdarstellung ist dieser Zug auch zu anderen Zeiten, in anderen Kontexten innerhalb des Kirchenjahres zu finden. So ist die in der Klosterneuburger Handschrift A-KN Cod. 1228 überlieferte Version des Liedes Maria zart (» B. Geistliches Lied), das nicht dem Passionskreis im engeren Sinn zugehört, Träger dieses konservierten Vorurteils.[51] Die vierte Strophe handelt vom Schmerz und dem Kummer Marias, den sie deshalb erleiden musste, weil die Juden Ihr liebes Kind töten wollten: [52]

Maria klar, wie gantz vnd gar
w[ar] dir dein freid emfalen [entfallen]
aus synn vn[d] gemuet,
zwang dich dein güet;
mit schr[ey]en vnd mit klagen
te[tstu] nachgen
u[nd]sachest sten
dein liebes kindt jn nötte[n],
das juden wollten töden,
auf seinem rukh [Rücken]
ein swäres [schweres] stukh [Stück]
von holtz er trueg.
Maria klueg,
vor ansten da muest sitzen,
davon dir kam
aus sölich [solcher] scham
vor jamer warest [echtes] switzen.[53]

Wie in vielen der hier betrachteten Beispiele steht die Muttergottes Maria im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie war eine wichtige „Assistenzfigur“ bei der Darstellung der Passion und der Auferstehung, die den gläubigen Betrachter emotional berühren sollten.[54] In ihr spiegelte sich das Leiden Jesu wider. Damit avancierten die ihren Sohn Jesus misshandelnden Juden häufig zu ihren persönlichen Feinden, die ihren mütterlichen Gefühlen unendlich großes Leid zufügt hatten.[55]

Vorbehalte gegenüber Juden bis hin zu ihrer Beschuldigung als „Gottesmörder“ waren also Bestandteil der damaligen Vermittlung des christlichen Glaubens. Es überrascht wenig, dass die nahezu tägliche Indoktrinierung eines Feindbildes, das über die emotional aufgeladenen Vermittlungsmedien wie Osterspiel und Lied eine Bevölkerungsgruppe als „Henker“ des Heilands verunglimpfte, Gift für das  Zusammenleben von Christen und Juden war.

[49] Siehe zu diesem Komplex den sehr kompakten und äußerst aufschlussreichen Artikel Köpf 1996. Zu den Hintergründen dieser Wende mit Blick auf die Abwehr von Häretikern vgl. auch Duby 1992.

[50] Zu den Zusammenhängen zwischen Passionsdarstellung und Judenfeindschaft siehe ebenfalls Köpf 1996, 730.

[51] Zum Lied Maria zart siehe Lodes 2001 sowie Lodes 2008.

[52] Ganz anders in der berühmten Sequenz Stabat mater: Juden werden mit keinem Wort erwähnt. Das bedeutet, dass die Darstellung der Passion auch ohne dieses negative Stereotyp auskommen konnte.

[53] Nach Rzyttka 1952, 273 f.

[54] Köpf 1996, 729 f.

[55] Zur Verbindung von Marienfrömmigkeit und Judenfeindschaft siehe auch die Beiträge in Heil/Kampling 2001.