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Aggressionen und Ängste. Judenhass

Andrea Horz
  • Der Vorwurf des Gottesmordes

    Im Spätmittelalter waren jüdische Gemeinden in der Region Österreich im christlichen Umfeld – wie auch zu anderen Zeiten und an anderen Orten – der Bedrohung gesellschaftlicher Ausgrenzung bis hin zur Vertreibung, Verfolgung und Tötung ausgesetzt. Quelle und Nährboden für diese lebensbedrohlichen gesellschaftlichen Vorgänge war ein entsprechend stigmatisierender Diskurs: „Jüdischer Gottesmord“ lautete der Vorwurf, der in der christlichen Gesellschaft deshalb besonders tief verwurzelt erscheint, weil er vermeintlich in der Heiligen Schrift, der Bibel, bereits vorgeprägt sein soll. Seit den Anschuldigungen der Kirchenväter sind diese verleumderischen Züge gleichsam in ein christliches Glaubensbild eingegossen[1] – ein Zerrbild: Erst 1965 sprach das II. Vatikanische Konzil die Juden von der Kollektivschuld am Tode Christi frei.[2]

    Ein weithin bekanntes, aufsehenerregendes und folgenschweres Beispiel für Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung im 15. Jahrhundert in der Region Österreich ist der Fall Simon von Trient, der zum Tod und zur Vertreibung jüdischer Familien in der Stadt führte. Der zweijährige Simon soll Opfer eines jüdischen Ritualmordes gewesen sein, denn – so die zum jüdischen Glauben völlig konträr stehende Meinung – für jüdische Rituale sei christliches Blut vonnöten, das sich die Juden durch den Raub und den Mord christlicher Kinder beschafften.[3] Das Beispiel dokumentiert die schwerwiegenden Auswirkungen eines zum Stereotyp verfestigten Klischees,[4] das sich nicht allein sprachlich formierte. In den verschiedenen Kunstformen, darunter Musik, zeigt sich die Durchschlagskraft der ideologischen, antijüdischen Indoktrinierung. Als deren Träger fungierten insbesondere all die Formen, in denen die Kreuzigung und das Leiden Christi und der Märtyrer festgehalten sind.[5]

  • Simon von Trient – Auswirkungen gesellschaftlicher Vorurteile

    Was war Ostern 1475 in Trient passiert? Ein seit dem Gründonnerstag vermisstes zweijähriges Kind wurde in der Nacht von Ostersonntag auf Ostermontag, am 26./27. März, in Trient am Hause des jüdischen Geldhändlers Samuel tot aufgefunden.[6] Sofort stand der Verdacht im Raum, die ortsansässige jüdische Gemeinde habe das Kind entführt und bei rituellen Handlungen getötet – eine Vermutung, die im 15. Jahrhundert den landläufigen, häufig in judenfeindlichen Predigten[7] erhobenen Blutbeschuldigungen gegen Juden entgegenkam. Es folgte ein bereits damals umstrittener, formal unrechtmäßiger Prozess.[8] An dessen Ende, auf Basis der unter mehrfacher Folter erpressten Geständnisse der Angeklagten,[9] stand die Hinrichtung der männlichen Mitglieder der jüdischen Familien. Die Frauen kamen nach der Bekehrung zum Christentum frei.[10]

    Der Fall schlug (und schlägt[11]) sehr hohe Wellen, die publizistische und literarische Verarbeitung des Vorfalls ist nur mit der Berichterstattung über den Fall Konstantinopels vergleichbar.[12] Kaum ein weiteres Ereignis der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts erfuhr solche Aufmerksamkeit.[13] Diese Publikationsflut ist kein Zufall. Johannes Hinderbach, der mit dem habsburgischen Kaiserhof eng verbundene Fürstbischof von Trient, war nicht nur für das Verfahren gegen die Juden verantwortlich. Er sorgte außerdem für die mediale Inszenierung des Geschehens. Einen wichtigen Helfer fand er in Johannes Matthias Tiberinus, seinem Leibarzt, der von Anfang an den Prozessverlauf begleitete. Dieser protokollierte nicht nur den medizinischen Befund der Kindesleiche, sondern dokumentierte auch die Trienter Vorgänge für die Öffentlichkeit. Mit der Passio Beati Simonis schuf er die Vorlage für die weiteren Bearbeitungen des Stoffes. Mehrfach in verschiedenen medialen Formaten umgesetzt erreichte die Nachricht von den Trienter Vorfällen alle lesenden Schichten: Die judenfeindlichen und hagiographischen Publikationen umfassten lateinische Ereignisberichte samt Übersetzungen in Volkssprache, Epigramm, elegisches Carmen, heroisches Epos, Einblattholzschnitte und Reimpaarerzählung; in Chroniken und Legendaren ist davon zu lesen.[14]

  • Etablierung eines Kultes

    Als Kindsmörder zu Tode verurteilte Juden sowie die Vertreibung der in Misskredit gebrachten jüdischen Bevölkerung aus Trient waren nur eine Seite der Folgen des Todesfalls Simons. Ein weiteres Bestreben von Hinderbach lag darin, Simon als heiligen Märtyrer zu etablieren und Trient zu einem Wallfahrtsort zu machen. Im Umfeld der Leiche sollen sich Wunder ereignet haben.[15]

    1478 erreichte Hinderbach zwar die päpstliche Sanktion des umstrittenen Verfahrens gegen die Trienter Juden, jedoch erfüllte sich zu seinen Lebzeiten das ehrgeizige Ziel einer päpstlichen Legitimation des Kultes um einen „Märtyrer“ Simon nicht. Erst 1588, mehr als hundert Jahre später, erkannte Papst Sixtus V. den Kult um Simon von Trient offiziell an. Simon wurde zudem einer der Patrone des Landes Tirol.[16] 1965 wurde der Kult jedoch nach wissenschaftlicher Aufarbeitung der historischen Quellen durch ein päpstliches Dekret wieder abgeschafft.[17]

    Mit der Aufnahme in das Martyrologium Romanum – also dem Verzeichnis aller Heiligen und Seligen der Römisch-Katholischen Kirche – war bis 1965 dem jährlichen Gedenken Simons von Trient ein fixer Platz im Jahreskreis eingeräumt.[18] In dem von Papst Sixtus V. sanktionierten Formular zum Ablauf des an diesem Tag zu vollziehenden Stundengebets[19] ist insbesondere im musikalisch auszuführenden Hymnus zur Matutin die Geschichte Simons thematisiert:

    SCELESTUS haurit sanguinem
    Judaeus integerrimum.
    Nec guttur obstrictum potest
    Lenire luctus questibus.
    Sed hostis immanissimus
    Tibi nequivit tam pio
    Prodesse corde, quam fera
    Crudelitate profuit.
    Tu nempe mundi lacrymis
    Praereptus emisti bona
    Immensa parvo impendio,
    O nosque Simon adjuva.
    Laus, et perennis gloria
    Deo Patri, et Filio
    Sancto simul Paraclito
    In saeculorum secula. Amen.

    Der verbrecherische Jude schöpft
    das ganz unschuldige Blut.
    Auch die zugeschnürte Kehle vermag nicht
    die traurigen Klagen zu dämpfen.
    Aber der ungeheure Feind
    hätte dir nicht einmal mit frommem
    Herzen so viel Gutes tun können,
    wie er durch wilde Rohheit genützt hat.
    Du nämlich, den Tränen der Welt
    entrissen, hast unendlich viel Gutes
    mit geringem Aufwand erworben.
    O hilf, Simon, auch uns.
    Lob und ewiger Ruhm
    sei Gott dem Vater und dem Sohn
    und zugleich dem Heiligen Geist
    in Ewigkeit. Amen.[20]

    In nuce sind im Hymnus die Eckpunkte des „Martyriums“ aus christlicher Sicht benannt: das vermeintliche Verbrechen, das sündlose Herz des Knaben Simon und seine Wohltätigkeit – womit auf die Wunder verwiesen sein mag, die an seinem Leichnam geschahen.[21] Und es steht fest: Der „verbrecherische Jude“ ist laut Liedtext schuld an Simons Tod.[22]

    Simons Aufnahme in das Martyrologium war für das damalige Leben keine Nebensächlichkeit. Die Ereignisse um Simon und somit die angeblichen jüdischen Taten waren nun fest im Leben der römisch-katholischen Bevölkerung im Fürstbistum Trient verankert. Der für das Gedenken vorgesehene Tag war Teil des Kirchenjahres, das die Tage, Wochen und Jahre der Menschen ordnete; das Formular für das Stundengebet war ein Bestandteil derjenigen Signale, die den Arbeitstag gliederten.[23] Denn die Einteilung des Stundengebets war für sämtliche Bevölkerungsschichten maßgeblich: Der Klang der Kirchenglocken gab über die Kirchenmauern hinaus den Tagesbeginn und das -ende bekannt, die akustischen Signale gliederten den Arbeitstag im Rhythmus der kirchlichen Horen.[24] Jährlich erinnerten nun diese Glocken sowie der Gesang des Offiziums am 23. März auch an die Geschehnisse von Trient.[25]

  • Die Passion Christi

    Die grundlegende christliche Typologie des Leidens diente als Präfiguration des jüdischen Feindbildes. Die Verweise im Hymnus Scelestus haurit sanguinem auf die Unschuld des Kindes einerseits und auf den verbrecherischen, angeblich das unschuldige Blut begehrenden Juden andererseits legen bereits den Bezugsrahmen offen, in dem sich seit dem Mittelalter die „Ritualmordvorwürfe“ bewegten.[26] Es ist die Wiederholung der Passion Christi: Ein unschuldiges Kind – gleich der Unschuld des Erlösers – wird von den Juden hingerichtet, die Wundmale des kindlichen Martyriums entsprechen den Verwundungen Jesu.[27] Im Bestreben, die Heiligsprechung Simons zu erreichen, hoben Hinderbach und seine Anhänger die Analogie zwischen der Passion Christi und dem „Martyrium“ Simons hervor – ein Motiv, das auch von den folgenden Publikationen aufgegriffen wurde.[28]

    Die Anklage gegen die Trienter Juden griff somit zurück auf tiefsitzende Vorurteile. Diese generierten sich als Teil der Glaubensvorstellungen, die der Bevölkerung schon lange vor dem Trienter Vorfall als Wahrheit präsentiert und über verschiedene Kanäle – unter anderen die musikalische Praxis –indoktriniert worden waren. Der Jude als Mörder und ungläubiger Verspotter des unschuldigen Christus: Von je her ist diese Figur bekannt.[29] Insbesondere bei der Erzählung und künstlerischen Ausgestaltung des Osterereignisses kommt sie zum Tragen. Auf welche Weise wird das Bild von den Juden in den musikalischen Partes, insbesondere rund um die Passions- und Osterfeierlichkeiten, in der Region Österreich im Spätmittelalter tradiert?

  • Musikalisch-liturgische Reflexionen eines Konfliktes

    Das Andenken an das Leiden und die Auferstehung Christi, das Ostergeschehen, ist im christlichen Glauben und Volksbrauch zentral: Erst der Kreuzestod Christi, der die Sünde der Welt auf sich nimmt, erlöst die Gläubigen und führt zum ewigen Leben. Bestandteil der biblischen Erzählungen um dieses Erlösungsereignis ist die jüdische Beteiligung an diesen Geschehnissen. Die Juden treten als diejenigen auf, die Christus – mithilfe des geldgierigen und verräterischen Christusjüngers Judas – an das Kreuz bringen.

    Die das Osterereignis begleitenden liturgischen Gesänge reflektierten die einzelnen Szenen der biblischen Erzählung. Das am Gründonnerstag zu singende Responsorium Iudas mercator pessimus lautete beispielsweise in einem Antiphonale aus Rein (» A-Wn Cod. 1799**, um 1240) folgendermaßen:

    Responsorium Iudas mercator pessimus osculo petit Dominum. Ille ut agnus innocens non negat Iudae osculum. Denariorum numero Christum Iudaeis tradidit.

    Versus Melius illi erat, si natus non fuisset. Denariorum numero Christum Iudaeis tradidit.

    Responsorium Judas, der schlimme Händler, bat den Herrn um einen Kuss. Der aber – wie ein unschuldiges Lamm – verweigerte nicht dem Judas den Kuss. Für eine handvoll Geld hat er Christus den Juden verraten.

    Versus Besser wäre es für ihn gewesen, er wäre nicht geboren. Für eine handvoll Geld hat er Christus den Juden verraten.

     

    Abb. Iudas mercator

    Abb. Iudas mercator

    Iudas mercator pessimus: Responsorium zum Gründonnerstag aus dem Antiphonale » A-Wn Cod. 1799** (aus dem Zisterzienserstift Rein, um 1240), fol. 66v (Zeile 5–8).

     

    Ein anderes Responsorium zum Gründonnerstag aus derselben Quelle (fol. 67v) referiert so auf das biblische Ereignis:

    O Iuda, qui dereliquisti consilium pacis et cum Iudaeis consiliatus es triginta argenteis vendidisti sanguinem justum et pacis osculum ferebas quam in pectore non habeas.

    O Judas, der du die friedliche Zusammenkunft verlassen und dich mit den Juden beraten hast,  für dreißig Silberstücke verkauftest du  das Blut eines Gerechten. Du brachtest den Friedenskuss, den Du nicht im Herzen trugst.

    In den Gesängen des gregorianischen Chorals, dem musikalischen Grundbestand des lateinischen Ritus, stehen sich die Christen und die feindlich gesinnten Juden gegenüber. Dort ist das Motiv des verräterischen Judas aufgegriffen, der den Nähe signalisierenden Bruderkuss benutzte, um Christus den Juden auszuliefern. Geldgier und Falschheit – so die im Gesang tradierte Geschichte – verleiteten Judas zu dieser Tat. Der Vers des ersten hier präsentierten Responsoriums verkündet das christliche Urteil über ihn: „Es wäre besser für ihn gewesen, er wäre nicht geboren.“

  • Passions- und Osterfeierlichkeiten: Prozession

    Während die Liturgie und der dazu gehörige Gesang die Passion Christi in der rituellen Sprache gleichsam überformten, symbolträchtig aufluden und verdichteten, begleiteten weitere Handlungen die Osterfeierlichkeiten, an denen das Volk mehr Anteil hatte. Prozessionen und Spiele verbanden weltliche und geistliche Sphäre; in ihnen hatte auch die Gruppe der Juden, respektive die Figur des Judas, ihren Platz– wenig überraschend: als Feinde Christi (» J. Singende Juden).

    Allein durch die räumliche Bewegung vom Kircheninneren nach außen verbanden Prozessionen profanen und sakralen Raum. Gleichsam wie in einem Drama ermöglichten sie der Gemeinde den Nachvollzug eines mythologischen Geschehens und schufen zugleich den Gläubigen durch das gemeinsame, auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtete Tun eine Gruppenidentität.[30] Dabei prägten sich vor allem im Rahmen der Osterfeierlichkeiten im christlichen Ritus volkstümliche Eigenheiten aus, die neben streng liturgisch gebundene Prozessionen traten.[31] 

    Als Beispiel diene hier die Prozession der Karwoche in St. Stephan zu Wien.[32] Hierzu sind in » A-Wn Cod. 8227 Eigentümlichkeiten der Osterfeierlichkeiten festgehalten, die jenseits des Datums der Niederschrift im 17. Jahrhunderts auf lange tradierte Praktiken verweisen.[33] Über die Überlieferung des Passionsspiels hinaus geben die an den Kirchenraum St. Stephan gebundenen präzisen Ortsangaben und die Hinweise auf gemeindetypische Abläufe der Feierlichkeiten einzigartigen Einblick in die damaligen Gepflogenheiten.

    Der Schreiber hob nachdrücklich die sich von anderen Gemeinden unterscheidende Praxis in den Metten der Karwoche[34] zum Gedächtnis Christi, der zwölf Apostel und der drei Heilmarien hervor. Während andernorts ein vor dem Altar aufgestellter Leuchter nur 15 Kerzen umfasste, seien es in St. Stephan 31 gewesen: Jeweils zwei Kerzen wurden nach der Vollendung eines Psalms gelöscht; die höhere Kerzenanzahl ermöglichte es, dass am Ende eine Kerze als Symbol des göttlichen Teils Christi erleuchtet bleiben konnte. Darauf folgte eine Prozession um den Friedhof und um die Kirche unter „ein Teutsches uraltes Gesang“ der Gemeinde, eine Wiener Version des Laus tibi Christe.

    Bei diesem Gesang handelt es sich um ein traditionsreiches und weitverbreitetes Lied, das in verschiedenen Textversionen überliefert ist und seinen Ort (nicht nur) in der „Vinstermetten“ hat (» A. Osterfeier; » Notenbsp. Laus tibi Christe).[35] Dem Aufführungsanlass gemäß ist die Passion Christi der Gegenstand. Die Besonderheit des von Camesina transkribierten Wiener Textes, der in der einschlägigen Forschungsliteratur bislang keine Beachtung fand, besteht in der vergleichsweise starken Akzentuierung des durch die Juden veranlassten Unrechts, das Christus erleiden musste. „König Schöpffer Lobesamb der reinen Jungfraw Kindt, Wie bitterlich die Juden auf Dich gefallen sindt“[36] lautet eine (auch anderswo gesungene) Strophe. Der bekannten, auch für sich allein stehend und in zahlreichen Umdichtungen als reformatorisches Kampflied verbreiteten Judasstrophe – hier: „O du Armer Judas, was hast du gethan, Das du Unssern Herrn, also verrathen hast, Darumb so mustu leiden, die höllische Pein, Lucifers geselle mustu Ewig sein. Kyrie etc.“ – ist zum Schluss eine zweite, auf Judas gemünzte Strophe zur Seite gestellt, die in anderen Quellen offenbar nicht zu finden ist. Damit ist Judas in der Wiener Liedversion nicht nur in der üblichen Weise als Verräter charakterisiert, sondern darüber hinaus sind seine „Nachkommen“ als Feiglinge ausgezeichnet:[37] „O du armer Judas, wie dein Vatter hiess, Er hatt ein staubigs Hütel auff, darzu ein rostigen spiess, Er thet sich ritterlich wehren, er stundt wohl hinter der Thür, Alss baldt die schlacht fürüber, da tratt er wider herfur. Kyrie“ etc. (» Notenbsp. O du armer Judas)

     

     

    In diesem Prozessionslied sind also auch die negativen Stereotypen um Judas und die Juden konserviert. Im sakralen Raum gesungen und als Teil des durch die Prozession besonders anschaulich gestalteten Gedenkens an die Passion Christi erhielten solche Aussagen große Schlagkraft bei der öffentlichen Meinungsbildung.

  • Passions- und Osterspiele

    Die Osterfeierlichkeiten begleiteten an vielen Orten Spiele, die das Heilsgeschehen besonders anschaulich machten.[38] In dieser dramatischen Form sind meist dem „guten Helden“ Christus die „bösen“ Juden entgegengesetzt. Innerhalb des Spiels beklagen häufig christliche Autoritätsfiguren deren Schuld und Bosheit. So etwas geschieht in dem hier exemplarisch herausgegriffenen Wächterspiel der wohl in Kärnten beheimaten Erlauer Spiele aus dem 15. Jahrhundert [39] (vgl. auch » J. Singende Juden). Ein Engel will unter Einsatz seines Schwertes den Tod Christi und die Leiden der Mutter Maria rächen: „Der von den Juden hat erliten den tot, da von seiner Mouter ist warden chunt so große not. Mit meinem swert Feurein, Will ich rechen die große marter sein“[40]

    Auch Maria verurteilt in diesen Spielen die Taten der Juden.[41] In der Erlauer Marienklage, dem sechsten in dieser Handschrift überlieferten Stück, tritt sie als Schmerzensmutter unter dem Kreuz auf – ein im Spätmittelalter vielfach in Bildern, Gedichten, Gebeten und Gesängen umgesetztes Bild ist hiermit szenisch gestaltet (weiter zur Marienklage vgl. » H. Musik und Tanz in Spielen und » H. Sterzinger Spielarchiv). Maria richtet in diesem von Aufforderungen zur Mittrauer durchzogenen Stück ihre Worte auch an Judas.[42] Sie macht ihn für den Tod ihres Kindes verantwortlich:

    „O Juda, du ungetreuer man, was hat dir mein chin getan, das du willichleichen in den tod verchauft hast sein plout so rat? Das chlag ich ewichleichen.“[43] (» Notenbsp. O Juda, du ungetreuer man)

     

     

    Selbst Christus rächt sich in der Höllenfahrt im Erlauer Wächterspiel persönlich an seinen jüdischen Widersachern. Er gibt den Teufeln die Anweisung, Juden und Ketzer in die Hölle zu schicken. Allein die Christen sollen durch ihn in den Himmel kommen.[44]

    Trotz der erzählerischen Eigenmächtigkeiten der paraliturgischen Form der Spiele schimmert an manchen Stellen die liturgische Gesangsvorlage durch. Die Anklage Judas‘ durch die Gottesmutter in der Erlauer Marienklage beispielsweise und auch die berühmte Judasstrophe[45] des Prozessionsliedes beginnen wie das Responsorium O Iuda,

    qui dereliquisti mit „O Iuda“.[46] In allen Texten wird Judas verurteilt, weil er das Blut des Gerechten verkauft hat. Dramaturgisch gesprochen kommt den Juden in den volksnahen Spielen die Rolle der bösen Widersacher zu. Die direkte Anklage durch christliche Autoritätsfiguren wie die Engel, die Mutter Gottes und den Heiland Christus unterstreicht die „verbrecherische“ jüdische Haltung. Der Gegensatz zwischen Gut und Böse, zwischen Juden und den Anhängern Christi erhält sehr großes Gewicht.

  • Das Lied: Die Passion Christi in alltäglicher Erinnerung

    Das Andenken an die Passion Christi durchdrang im Mittelalter immer mehr den Lebensalltag der Menschen. Eine spezielle Form dieses Gedenkens bestand darin, den Leidensweg Jesu auf den Tagesablauf zu projizieren. Den Stationen der Christuspassion wurden dabei die einzelnen Tageszeiten zugeordnet.[47] In Bilderzyklen, Gedichten und Gebeten, aber auch in musikalischen Fassungen wurde diese Idee umgesetzt (» Notenbsp. Patris sapientia; » B. Geistliches Lied). In der „Mondsee-Wiener Liederhandschrift“ » A-Wn Cod. 2856 ist ein solches Lied vom Mönch von Salzburg mit dem Titel „Des Munichz passion“ überliefert (Die nacht wirt schir des himels gast, G 23 (» B. Geistliche Lieder des Mönchs von Salzburg).[48]

    Auch in diesem Lied wird mit dem Gegensatz von Gut und Böse gearbeitet, die „bösen“ Juden sind mit feindseligen Stereotypen belegt: Nach der Bitte um den Beistand Gottes und „all himlische ritterschaft“, setzt in der zweiten Strophe die Erzählung vom Leidensweg Jesu mit dem verräterischen Kuss Judas im Garten Gesemaneth ein. Zur Prim sammelt sich die „judisch rot“ vor Pilatus. Trotz des Verweises des römischen Statthalter auf die Unschuld Christi verlangen die Juden die Freilassung des Verbrechers Barrabas („sie ziehen in vil valscher sund, der juden mund versputen sin gesicht“). Zur Terz setzen sie Jesus die stechende Dornenkrone auf. Der Mönch kommentiert: „Der judisch gruß waz valsch vnd suß, ob er ein künig wer“. Der „juden valscher sin“ fordert die Kreuzigung Christi: „‘heb uff, heb vff vnd cruczget in!‘“. Zur Sext sind es die Juden, die das Gewand Jesu teilen und den „gallen tranck“ bieten; sie verspotten den bereits am Kreuz hängenden Christus. Der zur None den Juden gegebene Hinweis des römischen Centurio „Vorwar, der hie gemarttelt ist, der ist von got geboren zwar, messyas, Jhesus Crist“ unterstreicht aus christlicher Sicht die jüdische Verblendung und ihren Unglauben.

    In dramatisierender Weise sind den bösen Juden die einsichtigen Römer gegenübergestellt. Die ausführliche Beschreibung der Sicht Marias auf Jesus (vgl. beispielsweise die Pietà-Szene der siebten Strophe) bewirkt beim Hörer zudem tiefere Betroffenheit. Das negative Klischee von falschen, spottenden und ungläubigen Juden ist mit diesem Lied zu jeder Stunde präsent.

  • Emotionalisierung der Passion

    Juden als „Gottesmörder“, Judas als Verräter: Die in den liturgischen Gesängen bereits vorhandenen Figuren erfuhren in den verschiedenen, in den Lebensalltag der Menschen integrierten musikalischen Formen große Aufmerksamkeit. Innerhalb der Erzählungen stellten sie die „Bösewichte“ dar. Mit dieser vereinfachenden Schwarzweißzeichnung, der extrem kontrastierenden Gegenüberstellung zwischen Gut und Böse, sollten die Zuhörer eindringlicher vom Leiden Christi berührt werden.

    Das Begehren nach der Emotionalisierung der Glaubensinhalte, der Wunsch der Gläubigen, die Leiden Christi affektiv nachzuvollziehen, war Teil einer Bewegung, die als „Wende der Wahrnehmung der Passio im Hochmittelalter“ beschrieben worden ist. Die Menschlichkeit und das Leiden Christi rückten gegenüber dem spätantiken und frühmittelalterlichen Christusbild in den Mittelpunkt des Interesses.[49] Volkssprachliches Lied und theatralisches Osterspiel waren unter diesem Gesichtspunkt Mittel, die die Passion weitaus mehr als die liturgischen Gesangspartes des gregorianischen Chorals greifbar und sinnlich wahrnehmbar machten.

    Die dramatisierte Darstellung der Passion führte dazu, dass die feindliche Gesinnung gegenüber den Juden untrennbarer Bestandteil des Christusgedenkens wurde.[50] Jenseits der Passionsdarstellung ist dieser Zug auch zu anderen Zeiten, in anderen Kontexten innerhalb des Kirchenjahres zu finden. So ist die in der Klosterneuburger Handschrift A-KN Cod. 1228 überlieferte Version des Liedes Maria zart (» B. Geistliches Lied), das nicht dem Passionskreis im engeren Sinn zugehört, Träger dieses konservierten Vorurteils.[51] Die vierte Strophe handelt vom Schmerz und dem Kummer Marias, den sie deshalb erleiden musste, weil die Juden Ihr liebes Kind töten wollten: [52]

    Maria klar, wie gantz vnd gar
    w[ar] dir dein freid emfalen [entfallen]
    aus synn vn[d] gemuet,
    zwang dich dein güet;
    mit schr[ey]en vnd mit klagen
    te[tstu] nachgen
    u[nd]sachest sten
    dein liebes kindt jn nötte[n],
    das juden wollten töden,
    auf seinem rukh [Rücken]
    ein swäres [schweres] stukh [Stück]
    von holtz er trueg.
    Maria klueg,
    vor ansten da muest sitzen,
    davon dir kam
    aus sölich [solcher] scham
    vor jamer warest [echtes] switzen.[53]

    Wie in vielen der hier betrachteten Beispiele steht die Muttergottes Maria im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie war eine wichtige „Assistenzfigur“ bei der Darstellung der Passion und der Auferstehung, die den gläubigen Betrachter emotional berühren sollten.[54] In ihr spiegelte sich das Leiden Jesu wider. Damit avancierten die ihren Sohn Jesus misshandelnden Juden häufig zu ihren persönlichen Feinden, die ihren mütterlichen Gefühlen unendlich großes Leid zufügt hatten.[55]

    Vorbehalte gegenüber Juden bis hin zu ihrer Beschuldigung als „Gottesmörder“ waren also Bestandteil der damaligen Vermittlung des christlichen Glaubens. Es überrascht wenig, dass die nahezu tägliche Indoktrinierung eines Feindbildes, das über die emotional aufgeladenen Vermittlungsmedien wie Osterspiel und Lied eine Bevölkerungsgruppe als „Henker“ des Heilands verunglimpfte, Gift für das  Zusammenleben von Christen und Juden war.

  • Glaubensideologie und Verfolgung

    Der nicht zuletzt mithilfe musikalischer Mittel geschaffene antijüdische Nährboden, auf dem Judenverfolgungen wie beispielsweise in Trient 1475 überhaupt gedeihen konnten, war durch seine religiöse Komponente stark in der christlichen Gesellschaft verankert. Es gab gar die Idee, die jüdischen „Verbrechen“ an Christus und seiner Mutter Maria rächen zu müssen; von manchen wurde die Vertreibung und Tötung von Juden als gottgefällig empfunden. Die Judenvertreibung in Ulm 1499 beispielsweise legitimierten die Verantwortlichen im Nachhinein folgendermaßen: „der König [Maximilian I.] habe sie ‚got dem allmächtigen unnd auch der hochgelopten himelkunigin und junckfraw Marien zu lob unnd eeren‘ von den Juden, die sie als ‚verschmäher und verächter unnsers herren Jhesu Cristi und vyendt [Feinde] siner werden muter der rainen junckfrow Marien und unsers Cristenlichen glaubens‘ bezeichneten, befreit.“[56] Zwar ging die Vertreibung nicht auf Maximilians Willen zurück. Doch legte dieser auf die Erfüllung der als Gegenleistung angebotenen vierteljährlichen Gebete in bestimmten Ulmer Klöstern wert. Nach Markus J. Wenniger rückte er damit die Judenvertreibung in die „Nähe eines gottgefälligen Werks“.[57]

    Ebenfalls als Rache für das Leid Marias, das sie durch die Juden erdulden musste, wurde in Regensburg 1519  die Errichtung einer Marienkapelle auf dem Platz der jüdischen Synagoge gerechtfertigt. In einem Lied, das von dem Ereignis berichtet, spiegelt die letzte Strophe in nuce dieses Zerrbild wider: „Du himelische kaiserin zu lob ich dir das schreib, zu schand der wilden beswichtin, des Mosses Juden weib: si thut dich spötlich nennen, - maria mein behut! – darumb thu ich erkennen, thett man den sack verprennen, so wer die sach vast gut.“[58]

    Auch in gänzlich anderer Weise sind die mittelalterlichen Spuren von den Untaten gegen die jüdischen Nachbarn heute noch für die musikwissenschaftliche Forschung sichtbar, denn auch die materielle Überlieferung von Musik legt davon Zeugnis ab. Auf einem Torafragment ist das Lied Ju ich jag des Mönchs von Salzburg überliefert – partiturartig aufgezeichnet, daher wahrscheinlich als Hilfsmittel für eine instrumentale Aufführung gedacht. Ein Musiker dürfte durch die Wiener Judenverfolgung von 1420/21 an die jüdische Handschrift gekommen sein, die in Fragmente aufgesplittert und quadratisch zurechtgeschnitten fortan als musikalischer Überlieferungsträger fungierte.[59] Ein weiteres Beispiel des Ineinandergreifens von Judenverfolgung und der Aufzeichnung christlicher Musik scheint auch ein Choralcodex (» A-Wda Kirnberger Slg. Wiener Dompropstei, Cod. C-8, ca. 1420–1430) der Wiener Dompropstei zu bieten, in den offenbar geraubte Pergamentfragmente eines hebräischen Werkes über liturgische Gedichte eingebunden sind. (» Abb. Ben Azriel) Auf den Fragmenten hat jemand die Einschiebsel „Benedicamus domino“ (fol. 1r) und „Alleluia“ (fol. 2v) aus der christlichen Liturgie glossenartig hinzugefügt.

     

    Abb. Ben Azriel

    Fragmente von Abraham Ben Azriels Arugat ha-Bosem („Gemüsebeet“), Kommentar zu liturgischen Gedichten (14. Jahrhundert), im Choralcodex » A-Wda, Kirnberger Slg. der Wiener Dompropstei, Cod. C-8 (ca. 1420–1430), fol. 1r und 2v. Auf den Fragmenten wurden nachträglich die Abschnitte „Benedicamus domino“ (fol. 1r) und „Alleluia“ (fol. 2v) aus der christlichen Liturgie notiert.

     

[2] Einen theologischen Zugang zur Aufarbeitung dieser Problematik erprobt Jozef Niewiadomski, der die Ritualmordanschuldigung als Entfernung des christlichen Glaubens vom Zentrum sieht: Niewiadomski 2003. Zum Verhältnis von Ritualmordvorwurf und Christentum siehe auch Banning 2003 und Rouart 2003.

[3] Zur Historie der Ritualmordlegenden und deren Stereotypen siehe beispielsweise Erb 2003.

[4] Schoeps 1995,  10, verweist auf die Wichtigkeit, nicht allein die Geschichte der antisemitischen Vorurteile zu dokumentieren, sondern auch deutlich zu machen „wie ein Klischee entsteht, wie es sich in den Köpfen zu einem Stereotyp verfestigt und welche Wirkungen es haben kann“.

[5] Oder wie Schoeps formuliert: „Jede Skulptur und jedes Gemälde über Kreuzigung und Leiden des Heilands und der Märtyrer, mit denen die Kirchen ausgeschmückt sind, erinnern daran und verdeutlichen es. Im Lied, im Märchen, aber auch im Passionsspiel – überall taucht dieses Bild auf, das nicht nur alle tradierten antijüdischen Vorurteile bündelt, sondern vielfach als Aufforderung begriffen worden ist, sich gegen die Juden abzusetzen und sich ihrer handgreiflich zu erwehren.“ (Schoeps 1995, 9).

[6] Siehe unter der zahlreichen Literatur, die sich mit dem Vorfall beschäftigt, u. a. Hsia 1997.

[7] Worstbrock 1992,  1260, verweist auf die judenfeindlichen Predigten des Bernardino da Feltre.

[8] Zum Inquisitionsverfahren siehe beispielsweise Hsia 1997 oder Quaglioni 2003, 90 ff. Mit reichlichen Zitaten aus dem Quellenmaterial, vor allem den Prozessakten, arbeitet Anna Esposito das Stereotyp der Anschuldigungen heraus: Esposito 2003.

[9] Zu dem Vorgehen und der Art der Folteranwendungen siehe ebenfalls die Rekonstruktion nach den Protokollen von Esposito 2003, 137 ff.

[10] Siehe die Zusammenfassung bei Worstbrock 1992, 1260 ff.

[11] Die Publikationswelle hält immer noch an, kaum ein Jahr vergeht ohne Publikation zu diesem Vorfall. Zu dieser Bemerkung siehe Quaglioni 2003, 85. Allgemein zu den medialen Mitteln, mit deren Hilfe Judenfeindlichkeit verbreitet wurde, siehe Frey 2013.

[12] Siehe hierzu auch » J. Türken.

[13] Diesen Vergleich zog Worstbrock 1992, 1262.

[14] Worstbrock 1992, 1262. Bei dieser publizistischen Flut erscheint es nicht zufällig, dass dieses Ereignis den Einzug des Buchdruckes in Trient markierte. Das erste Werk des Verlegers Albert Kunne ist über Simon. (siehe hierzu Esposito 2003, 149).

[15] Zu den Wundern, siehe Esposito 2003, 144 ff.

[16] Zur historischen Entwicklung des Kanonisationsverfahrens von Heiligen siehe die aufschlussreiche Darstellung bei Hausberger 1985.

[18] Daten aus Worstbrock 1992, 1261.

[19] Siehe hierzu das 1588 herausgegebene Formular zum Ablauf der Feierlichkeiten, online unter: http://www.stabat.it/?q=scheda/62 [03.09.2015].

[20] Die Übersetzungen in diesem Beitrag stammen, soweit nicht anders ausgewiesen, von der Verfasserin.

[21] Die Wunder Simons sind in einem Kodex, aufbewahrt im Fürstbischöflichen Archiv des Stadtarchivs Trient, registriert (AST, APV, S.1, Karton 69, Nr. 5a; nach Esposito 2003, 157). Weitere Ausführungen in Esposito 2003, 144 ff.

[22] Da der Fall des Andreas von Rinn eng mit Simon von Trient verbunden ist, verwundert es nicht, dass dieser Hymnus auch zu Ehren des „Anderle“ gesungen wurde. Zum Zusammenhang der Fälle siehe die Ausführungen von Schroubek 2003.

[23] Mit der Vermehrung der Heiligenfeste im Spätmittelalter war das eigentlich festliche Heiligenoffizium fast Normalfall, nicht das Tagesoffizium. Siehe hierzu Häussling 2000, 1234.

[24] Siehe zur spätmittelalterlichen Klangatmosphäre die paradigmatischen Ausführungen von Strohm 1985, insbesondere 2 ff.

[25] Zudem kam im Mittelalter, vor allem im Spätmittelalter, unter den Laien das Bedürfnis auf, das tägliche Gebet an den Klerus anzugleichen. Eine Folge davon war die Verbreitung von Stundenbüchern, die sich inhaltlich an das Brevier des Klerus anlehnen, aber beispielsweise durch Textauswahl persönliche Züge tragen können. Zur Praxis des Stundengebets und vor allem zu dessen Bedeutung für Kloster, Weltklerus und Laien siehe die Ausführungen von Waldhoff 2012.

[26] Siehe hierzu Erb 2003.

[27] Von Anfang an setzte man die angebliche Passion des Kindes Simon mit dem Leiden und Sterben Christi in Beziehung. Bereits das unter Folter von den Juden erzwungene und von der Inquisition in bestimmte Richtungen gelenkte Geständnis verweist auf diese Parallele. Die für Juden wohltuende Wirkung des christlichen Blutes trete nur dann ein – so die in den Prozessakten festgehaltene jüdische Aussage –, wenn das christliche Kind in derselben Form wie Jesus getötet werde und zudem nicht älter als sieben Jahre – also unschuldig – sei. Kinder unter sieben Jahre galten als unschuldig, da sie nach der allgemeinen Auffassung ihre Taten gegenüber Gott noch nicht verantworten mussten. Siehe hierzu Esposito 2003, 142 f. Ebenfalls spricht dies Worstbrock 1992, 1263 f. an.

[28] Siehe Esposito 2003, 144 ff. Zu Hinderbach und seinem Glaubensverständnis, insbesondere seiner Heiligenverehrung und seinem Bemühen um Etablierung von Heiligenkulten und Reliquienverehrung, siehe Rando 2008, insbesondere das Kapitel aus dem zweiten Teil: II. Seele und Seelenheil, sowie S. 213.

[29] Zum Stereotyp des „Gottesmordes“ im deutschsprachigen Raum vgl. beispielsweise den Überblick von Weinzierl 1995.

[30] Zur Bedeutung der Prozession siehe Felbecker/Rausch 1999, 678–681 sowie Gerhards1996.

[32] Zu anderen Prozessionen und Gebräuchen an St. Stephan vgl. » E. Musik im Gottesdienst und » E. SL Fronleichnamsprozession.

[33] Am Beginn der Handschrift Historia ecclesiastica urbis Viennensis (» A-Wn Cod. 8227) gibt der Verfasser Johannes Matthias Testarello della Massa an, seine Berichte nach alten Archivalien, Geschichtsbüchern, Dokumenten, Nachrichten und Urkunden ausgearbeitet zu haben. Wenngleich die Handschrift aus dem 17. Jahrhundert stammt, so verweist sie also doch auf alte Praktiken. Einleitend zur Beschreibung der Osterfestlichkeiten schreibt er folgende Worte: „Es wurden auch in dieser Kirchen von uralter Zeit hero bis an heutigen Tag […] gewisse Ceremonien observiert […]“ (A-Wn Cod. 8227, S. 374). Der bei den Spielen eingesetzte Palmesel trägt nach Testarello die Jahreszahl 1435. (A-Wn Cod. 8227, S. 374) Siehe hierzu auch den Kommentar von Albert Ritter von Camesina, der diese Seiten transkribierte: Camesina 1869, 340.

[34] Sie fanden am Mittwoch, Donnerstag und Freitag statt.

[35] Siehe auch Lipphardt 1961. Geht es in diesem Beitrag zwar vorrangig darum, das Lied in seiner langen Entwicklung aus dem Hymnus Rex Christe factor omnium zu skizzieren, so ist zugleich ein Eindruck von den unterschiedlichsten Fassungen des Liedes zu gewinnen, das in Kontrafaktur in zahlreichen kirchlichen wie auch weltlichen Kontexten verwendet wurde. Zur mehrstimmigen Fassung Senfls und der daraus stammenden „Judasstrophe“ im Speziellen siehe Wagner-Oettinger 2001.

[37] Zur Zeit der Niederschrift von » A-Wn Cod. 8227 – Mitte des 17. Jahrhunderts – war diese Strophe in St Stephan jedoch nicht mehr in Gebrauch: Testarello verweist darauf, dass nun nur noch das Singen der ersten sieben Strophen üblich sei. Das Prozessionslied endete also mit dem allgemein verbreiteten Judasvers (A-Wn Cod. 8227, S. 378; siehe auch Camesina 1869, 328).

[38] Passions- und Osterspiele waren im Spätmittelalter und bis ins 18. Jahrhundert hinein weit verbreitet (vgl. auch » H. Musik und Tanz in Spielen und » H. Sterzinger Spielarchiv). Das älteste im deutschen Sprachraum bezeugte geistliche Spiel scheint das seit 1187 in Hagenau im Elsass nachweisbare zu sein. (Köpf 1996, 735) Zur Entstehung und Geschichte der deutschen Passionsspiele siehe Bergmann 1972 sowie allgemein Bergmann 1986.

[40] Kummer 1882, 139. Die Melodien der Spiele sind herausgegeben in Suppan/Janota 1990, Zitat auf S. 172.

[41] Siehe auch Frey 2001, sowie insbesondere » J. Singende Juden.

[42] Eggers 1980, 592.

[44] „Ier teufel in der helle grunt, tout auf an dieser stund! Eur gewalt mous haben ein end, di sel sind euch all enphremd, mit meinem tod ich seu erlost han. Die christenhait, al fraun und man, die seullen dir uebrig sein; stoezt Juden und checzer dar ein! Wol aus her, Eva und Adam und all di gelaubent an menen nam, ich will euch feuren sicherleich zu meinem vater in das himelreich“ (Kummer 1882, 142; Suppan/Janota 1990, 174).

[45] Auf diese Parallele verweist Lipphardt 1961, 72.

[46] Auf diese Parallele macht Kummer 1882, 161, bereits beiläufig aufmerksam.

[47] Siehe zu diesem im Hochmittelalter entwickelten Verständnis Häussling 2000, 1234, sowie Köpf 1996, insbesondere 733.

[48] Zu weiteren Tagzeitengedichten (und Liedern) vgl. Palmer 1995.

[49] Siehe zu diesem Komplex den sehr kompakten und äußerst aufschlussreichen Artikel Köpf 1996. Zu den Hintergründen dieser Wende mit Blick auf die Abwehr von Häretikern vgl. auch Duby 1992.

[50] Zu den Zusammenhängen zwischen Passionsdarstellung und Judenfeindschaft siehe ebenfalls Köpf 1996, 730.

[51] Zum Lied Maria zart siehe Lodes 2001 sowie Lodes 2008.

[52] Ganz anders in der berühmten Sequenz Stabat mater: Juden werden mit keinem Wort erwähnt. Das bedeutet, dass die Darstellung der Passion auch ohne dieses negative Stereotyp auskommen konnte.

[53] Nach Rzyttka 1952, 273 f.

[54] Köpf 1996, 729 f.

[55] Zur Verbindung von Marienfrömmigkeit und Judenfeindschaft siehe auch die Beiträge in Heil/Kampling 2001.

[58] Das Lied ist in der sogenannten Toller-Melodie zu singen. Es ist eines von fünf Liedern und Gedichten, das in Liliencron 1966, 332, zu finden ist. Die Ausführungen von Liliencron 1966, 316–319, geben Einblick in die Umstände der Vertreibung. Weitere Lieder über Judenverfolgungen finden sich ebenfalls in diesem Band. Zur Synagogenzerstörung und zum Marienkirchenbau siehe beispielsweise Glüber 2001.

[59] Strohm 2014, 18 f. Vgl. auch » B. Kap. 


Empfohlene Zitierweise:
Andrea Horz: „Aggressionen und Ängste. Judenhass“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/aggressionen-und-angste-judenhass> (2016).