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Mündliche und schriftliche Zirkulation im Vorfeld der Druckkultur

Deanna Pellerano

Bereits im Vorfeld der Druckkultur gab es im 14. und 15. Jahrhundert eine ausgeprägte mündliche und schriftliche Zirkulation von politischen Liedern über den Krieg. Eine große Anzahl an Liedern aus diesem Korpus sind in den handschriftlichen Liederbüchern, Dichtersammlungen und Streuüberlieferungen des 15. Jahrhunderts zu finden. Insbesondere aus dem österreichischen Umfeld sind die Dichter Peter Suchenwirt, Peter von Retz, Oswald von Wolkenstein und Michel Beheim in diesem Kontext zu nennen, die ein enges Verhältnis zu den österreichischen höfischen Netzwerken hatten und sich in ihren politischen Liedern weitgehend auf die militärischen Entwicklungen in ihrem unmittelbaren geographischen Umfeld konzentrieren.[17] In diesem Kontext sind die in der Osterweise vertonten Lieder von Beheim über die Schlacht bei Körmönd (1459), die Schlacht bei Losontz (1451) und die Belagerung von Wien durch Herzog Albrecht (1462) sowie die in der Verkerteweise vertonten Klagen über die Unfähigkeit des Adels gegen die Osmanen (1455–56) von Bedeutung: (» Hörbsp. ♫ Dises getiht sagt von den turken).[18] Beheims in der Angstweise vertonte Reimchronik Das Buch von den Wienern ist relevant, da sie über die Belagerung von Wien im Jahr 1462 auch Details berichtet (» Abb. Michel Beheims Buch von den Wienern). Aus der Region Österreich stammende Liedquellen stellen zwar insgesamt eine wesentliche Quellengruppe zur Überlieferung von Liedern im 15. Jahrhundert dar,[19] kriegerische Themen sind in ihnen allerdings unterrepräsentiert. Jedoch kann das im Trienter Codex 89 erhaltene Lied „Heya, heya nun wie si grollen“, das wahrscheinlich Oswald von Wolkenstein zuzuordnen ist und sich auf den „Villanderer Almstreit“ beziehen dürfte, Erwähnung finden. (» Hörbsp. ♫ Heya, heya)

Gemessen am reichhaltigen Material in den Quellen insgesamt liefern die Lieder in Dichtersammlungen, die im Fall Beheims vornehmlich nach Melodien geordnet sind, sowie die übrigen Liederbücher nur geringe Hinweise auf eine spezifische Rezeption des Krieges. Diese lässt sich vielmehr aus der schriftlichen Zweitrezeption oder der mündlichen Überlieferung erschließen, also einer breiteren Quellengrundlage, die Streuüberlieferungen, Chroniken und archivalisches Material umfasst. Genauere Hinweise auf die Rolle der Zweitrezeption von Kriegserzählungen sind z.B. in Streuüberlieferungen und Chroniken zu finden, aus denen deutlich wird, dass Texte über Krieg eine bedeutende Funktion bei der Dokumentation lokaler und politischer Geschichte in österreichischen Ländern hatten. Zum Beispiel enthält eine in Oberösterreich aufgetauchte Handschrift (» GB-Lbl Add. 16592), ein Lied über die von Friedrich III. angeführte Belagerung der Burg Wildon im Jahr 1441 von Christoph von Wolfsau: „Ich weiß ain Haus/das haißt Wildon“ (» B. Kap. Liedtexte).[20] Ein Blick auf die Stellung des Liedes innerhalb der Handschrift legt eine historisierende Intention nahe. In Abschnitt Nr. 2–6 in der Handschrift, der thematisch Kaiser Friedrich III. gewidmet ist, erscheint das Lied erst nach einem Bericht über die Jerusalemfahrt Friedrichs von 1436 bis 1437 (fol. 12r–21r) und einer Zusammenfassung der Geschichte Friedrichs von 1431 bis 1439 (21v). Nach dem Lied sind ein Bericht über die Krönungsfahrt nach Aachen von 1442 bis 1443 (24r–77v) und eine zweite Zusammenfassung seines Lebens von 1443 bis 1444 (78r–79r) überliefert.[21] In dieser chronologischen Reihenfolge scheint das Lied über die im Jahr 1441 erfolgte Belagerung eine präzise Funktion als Ergänzung einer chronologischen Lücke zu erfüllen.[22] Ein ähnlicher Fall liegt in der Handschrift » D-Mbs Cgm 1113 vor. Sie enthält unter anderem Werke von Suchenwirt und Retz, darunter einen Reimpaarspruch über die Schlacht bei Schiltern (1396) von Retz (fol. 76ra–77rb) sowie die Dichtung Von den fünf Fürsten über die Niederlage bei Sempach (1386) (ff. 112va–114rb). Im ersten Teil der Handschrift finden sich darüber hinaus Wiener Privilegien und Urkunden aus den Jahren 1237 bis 1375 sowie Gerichtsurteile aus den Jahren 1375 bis 1387. Der ca. 1400 entstandene zweite Teil, in dem die zwei oben genannten Dichtungen überliefert sind, umfasst historische Berichte, darunter mehrere Dichtungen, einen Bericht über einen im März 1402 erschienenen Kometen sowie Leopold von Wiens Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften.[23] Es ist anzunehmen, dass die Werke innerhalb eines kurzen Zeitraums verfasst, aufgeführt und übertragen wurden, was auf eine Nähe der Handschrift zu einem Erstrezeptionskontext hindeutet. Allerdings lässt sich vermuten, dass die berichtende Funktion von Liedern über Krieg ein wesentlicher Faktor für ihre Bewahrung spielte.

Leider liefern die oben genannten Quellen nur wenige Hinweise auf einen mündlichen Erstrezeptionskontext. Dieser kann in den meisten Fällen lediglich vermutet und allenfalls durch die zeitliche und geographische Nähe einer Handschrift zu einem möglichen Aufführungskontext erschlossen werden. Nur in wenigen, sporadisch dokumentierten Fällen finden sich Beschreibungen des Singens von Liedern über und während des Krieges. Zu den erhaltenen Spuren gehören beispielsweise eine Anekdote über eine Gruppe junger Personen, die 1492 in einer Tiroler Taverne eine mehrstimmige Battaglia gesungen haben (» H. Kap. Ansingen: an introduction), oder eine Beschreibung über die Aufführung von Liedern im oben genannten Buch von den Wienern zur Unterhaltung während der Belagerung Wiens im Jahre 1462 (» B. Kap. Kontexte des Singens).[24] Beheims eigene Angst vor der Reaktion der Wiener Adelsschicht auf sein obengenanntes Buch kann vermutlich auch als Hinweis auf die Rezeption der Lieder in der Stadt interpretiert werden.[25] 

[17] Zu Beheim siehe » B. Spruchsang.

[18] Gille/Spriewald 1968–1972, Bd. 1, Nr. 105, Nr. 106, Nr. 112, Bd. 2 Nr. 238 f.

[19] » B. Lieder in der Region Österreich.

[20] GB-Lbl Add. 16592, fol. 22r–23v; Schmidt 1970, 520; Seemüller 1897, 170; Seemüller 1897, 587.

[21] Seemüller 1897, 587 f.

[22] Seemüller identifiziert zwei Hände aus dem 16. Jahrhundert für die ersten sechs Nummern, einschließlich des Abschnitts über Friedrich III. Seemüller 1897, 589.

[23] Schneider 1991, 85–95; Neugart 1989, 451 f.; Müller 1986, 439.

[24] Vgl. ferner Strohm 2001, 58.

[25] Thum nennt einige Verse in der Ichform aus dem Text, die auf Beheims Furcht hinweisen: Thum 1984, 323.