Melodien für Kriegserzählungen
Einige Melodien, die erst im Zusammenhang mit Kriegserzählungen entstanden sind, blieben eng mit Krieg und Gewalt verbunden. Sie sollen hier kurz beschrieben werden. Als Tonangaben für Kontrafakturen behielten sie beispielsweise den Namen einer belagerten Stadt oder eines beteiligten Protagonisten bei und wurden häufig für Dichtungen über militärische Ereignisse verwendet, die ähnliche Merkmale wie das ursprüngliche Lied aufwiesen, obwohl dies nicht unbedingt erforderlich war. Zu den am häufigsten vertretenen „Kriegsmelodien“ zählen die Toller-Weise und die Benzenauer- und Wißbecken-Töne. Ihre lange Zeit im Umlauf während des 16. und 17. Jahrhunderts belegt die Langlebigkeit kriegerischer Ereignisse im öffentlichen Bewusstsein.
Die älteste in einem Flugblattlied erwähnte Schlacht ist die Einnahme der Stadt Dôle im Jahr 1479 während des Burgunder Erbfolgekriegs. In den ersten zwei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts wurden mehrere Drucke über die Schlacht veröffentlicht. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden nicht weniger als zwölf Kontrafakturen der Melodie hergestellt, darunter zwei Lieder über die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung von Regensburg.[36]
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Eine Überlieferung der Melodie, die erst im 20. Jahrhundert von Walther Lipphardt entdeckt wurde, findet sich im Gesangbuch von Adam Reißner aus dem Jahr 1554. Hier wird sie als „das Lied von tholl“ bezeichnet (» Notenbsp. Toller-Weise).[37]
Die Melodie, bestehend aus drei Teilen mit einem wiederholten Aufgesang, wird von Silke Wenzel als ein Wechselspiel zwischen der Imitation eines militärischen Trommel- oder Trompetensignals, genannt „Fünfschlag“, im ersten Teil und einer Pfeife in den beiden letzten Teilen beschrieben (» Notenbsp. „Fünfschlag“).[38]
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Obwohl eine Assoziation der ersten fünf Töne mit dem als „Fünfschlag“ bezeichneten Trommelrhythmus nachvollziehbar ist, wird die für einen guten Marschrhythmus essenzielle Regelmäßigkeit des Pulses im verbleibenden ersten Teil nicht konsequent beibehalten.[39] In diesem Fall ist es wahrscheinlicher, dass die absteigende Quinte zu Beginn der Melodie, die ein Trompetensignal evoziert, den Zuhörern als deutlicheres klangliches Symbol des Schlachtfelds gedient hat.[40]
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Besonders weit verbreitet war der sogenannte „Benzenauer-Ton“.[41] Der Name bezieht sich auf Hans Pienzenau, Hauptmann der Burg und Stadt Kufstein. Im Oktober 1504 während des Landshuter Erbfolgekrieges leitete er den Widerstand gegen die Belagerung von Kufstein durch Maximilian I. und wurde nach der Einnahme der Burg hingerichtet.[42] Im Verlauf des 16. Jahrhunderts wurden nicht weniger als 13 Drucke des ursprünglichen Liedes veröffentlicht. Die Melodie (» H. Kap. Laute als Symbol), deren breite geographische Rezeption sogar Breslau und Stockholm erreichte, wurde im Laufe des 16. und frühen 17. Jahrhunderts nicht weniger als 37 Mal kontrafaktiert und in 24 Lautenfassungen verwendet.[43] Die früheste bekannte Überlieferung der Melodie findet sich in einer Kontrafaktur in der Dresdner Liederhandschrift (» D-Dl M 53) aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, in der die Tonangabe als „Benzenawers Ton” identifiziert wird.[44] Im Jahr 1895 vermerkte Wilhelm Bäumker, dass es Ähnlichkeiten zwischen der Melodie und einer im „Hohenfurter Liederbuch“ (» CZ-VB Ms. 28) aus der Mitte des 15. Jahrhunderts notierten Melodie gibt. Obwohl Ähnlichkeiten zwischen den beiden Melodien evident sind, eignet sich die Hohenfurter Melodie nicht als perfekte Vorlage für den Benzenauer Ton, der, wie Nehlsen und Schlegel festgestellt haben, einen unterschiedlichen Strophenbau hat.[45]
In derselben Dresdner Handschrift wie der Benzenauer-Ton findet sich an zwei verschiedenen Stellen der ebenfalls weit verbreitete „Wißbecken-Ton“, der auch als der „Schweizer Ton” und „Es geht ein frischer Sommer daher” bekannt ist (» Notenbsp. Ladislaus-Lied).[46] Die Melodie wurde in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts 28 Mal als Kontrafaktur überliefert. In diesem Kontext wurde sie mit Feldzügen, dem Soldatenwesen und der militärischen Bedrohung des Osmanischen Reiches in Verbindung gebracht. Der Ursprung der Melodie ist jedoch bis heute ungeklärt. Der Name „Wißpeck” dürfte sich auf den Ritter Hans Wißbeck beziehen, der am Wiener Hof als Dichter diente und dessen Gedicht über den Tod von König Ladislaus im Jahr 1457 einen ähnlichen Strophenbau wie das Lied aus dem 16. Jahrhundert aufweist (» E. Kap. Lieder für König Lassla).[47] Auch wenn die Versifikation nicht außer Acht gelassen werden darf, sind andere Aspekte der Hypothese kritisch zu hinterfragen. Melodien, die im 16. Jahrhundert einen starken Bezug zum Krieg hatten, verweisen in ihren Namen häufig auf bekannte militärische Ereignisse oder Akteure, die thematisch mit den im Lied beschriebenen neuen Ereignissen in Zusammenhang gebracht werden können. Es wäre sicherlich eine Ausnahme, eine Melodie, deren Überlieferung so eng mit dem Krieg verknüpft ist, unter dem Namen eines längst verstorbenen Dichters zu finden. Es wurden auch bereits Zweifel an der Verbindung mit Hans Wisbeck geäußert.[48] Ein früher Kritiker der Hans-Wisbeck-Hypothese, Goedeke, schlug stattdessen vor, dass der Feldhauptmann Georg Wisbeck, der 1504 in einem Lied über die Böhmerschlacht auftaucht, mit dem Namen der Melodie gemeint sei. Die Relevanz der Wisbecken-Familie in Bezug auf das Thema ist erheblich. Georg Wisbeck zählt zu den wichtigsten Akteuren im Landshuter Erbfolgekrieg gegen Maximilian, dessen Angriff und Niederlage bei Vilshofen auch in einem Lied thematisiert wurde.[49] Darüber hinaus hat Wenzel beobachtet, dass der Wißbecken-Ton eine Assoziation mit der habsburgischen Kriegsführung hat.[50] Obwohl eine eindeutige Bestätigung der Georg-Wisbeck-Hypothese bislang aussteht, lässt sich nicht gänzlich ausschließen, dass die habsburgische Auseinandersetzung mit Georg von Wisbeck den Liedern über die habsburgischen Kriege im 16. Jahrhundert gedanklich und thematisch sehr viel nähergestanden hätte. Dies würde zudem eine auffällige Ähnlichkeit mit der Entstehung, Datierung und Verbreitung des Benzenauer Tons aufweisen, der ebenfalls nach einem bedeutenden besiegten Gegner der Habsburger benannt ist. Für eine sichere Bestätigung beider Hypothesen sind jedoch weitere Belege erforderlich.
[1] Schanze 1999b, 305–306; Brednich 1975, Bd. 2, 59–61.
[3] Vgl. Kellermann 2000, 35; Honemann 1997, 399–401.
[4] Z.B. Erk/Böhme 1893/1894, Bd. 1, vii; Janicke 1871, 3; Suppan 1966, 38.
[5] Sauermann 1975, 301; Hampe 1919, 52.
[6] Müller 1974, 26 f.; Sauermann 1975, 301 f.
[7] Kellermann 2000, 13, 86 f.; Kerth 1997, 9.
[8] Kerth 1997, 9.
[9] Kellermann 2000; Kerth 1997; Seibert 1978; Wenzel 2018.
[10] Vgl. Eickmeyer 2017, 29; Honemann 1997, 418 f.; Brednich 1974, Bd. 1, 154; Straßner 1970, 242; Kellermann 2000, 311.
[11] Vgl. Kellermann 2000, 92–98, 155 f., 277; Wenzel 2018, 247–262.
[12] Zum „Agitationszweck“ vgl. Völker 1981, 23; Vgl. auch Hampe 1928, 251–278; von Liebenau 1873, 346 f.
[13] Vgl. Hermann 2006, 65; Rogg 2002, 274–276.
[14] Liliencron 1866, Bd. 2, Nr. 138. Dieser Liedtext wurde wahrscheinlich auf den hier unten behandelten Wissbeck-Ton gedichtet: vgl. » F. SL Die Missa O Österreich.
[15] Suppan 1995, 157.
[16] Zu den Begriffen „autrichité“ und „Habsburgisches Spätmittelalter“ vgl. Müller, 1986, Bd. 1, 427 f.; Spechtler 1986, Bd. 1, 470.
[17] Zu Beheim siehe » B. Spruchsang.
[18] Gille/Spriewald 1968–1972, Bd. 1, Nr. 105, Nr. 106, Nr. 112, Bd. 2 Nr. 238 f.
[20] GB-Lbl Add. 16592, fol. 22r–23v; Schmidt 1970, 520; Seemüller 1897, 170; Seemüller 1897, 587.
[21] Seemüller 1897, 587 f.
[22] Seemüller identifiziert zwei Hände aus dem 16. Jahrhundert für die ersten sechs Nummern, einschließlich des Abschnitts über Friedrich III. Seemüller 1897, 589.
[23] Schneider 1991, 85–95; Neugart 1989, 451 f.; Müller 1986, 439.