Das „Kriegslied“
So wie Liebe und Herrschaft gehört Krieg dauerhaft zu den meistrepräsentierten weltlichen Themen in der Musikgeschichte, nicht zuletzt in der Liedproduktion des Spätmittelalters. Eine Vielzahl von Liedtexten, deren Produktion ungeachtet der Veränderungen in der Kriegsführung und der Drucktechnik im 15. und 16. Jahrhundert relativ konstant geblieben ist, befasste sich mit kriegerischen Auseinandersetzungen. Man behandelte nicht nur das Thema des Kriegswesens selbst, sondern auch die Neuigkeiten aktueller Feldzüge, Schlachten und Belagerungen, die immer wieder zum Erscheinen polemischer Dichtungen führten. So sind beispielsweise neun Lieder allein über den Markgrafenkrieg von 1449/50 in handschriftlichen Quellen überliefert; sieben Flugblätter existieren zum Landshuter Krieg von 1504.[1] Historische Ereignisse wie diese Kriege führten zu einer großen Anzahl von Dichtungen, die den erhaltenen Korpus spätmittelalterlicher Lieder deutlich mitbestimmen. In der von Rochus von Liliencron zusammengestellten Sammlung von Hunderten historisch-politischer Lieder bilden Texte über Krieg, im Vergleich zu nicht-kriegerischen Ereignissen wie dem Tod oder der Krönung von Herrschern, ohne Zweifel die Mehrheit.[2]
Ungeachtet dieses Quellenreichtums kennt der aktuelle Forschungsstand keine begriffliche Übereinstimmung zum Thema Krieg. Eine Überprüfung überkommener Begrifflichkeiten wurde in der jüngeren Liedforschung angemahnt. In diesem Zuge wurde auch die Bezeichnung „Volkslied“ zunehmend in Frage gestellt (» B. Kap. Definitionen für den Begriff „Volkslied“), aber es besteht noch wissenschaftlicher Bedarf an einer terminologischen Abgrenzung des sogenannten „Kriegsliedes“.[3] Dieser Begriff, der bereits in den wichtigsten Liedsammlungen des 19. Jahrhunderts im Umlauf war, wurde für verschiedenartige historische Textgattungen, Rezeptionskontexte und musikalische Formen benutzt. Einige Autoren verwendeten den Begriff lediglich in Verbindung mit dem Soldatenwesen selbst und mit beruflichen Bezeichnungen wie „Soldatenlieder“ und „Landsknechtslieder“, um deren Nähe zum Krieg zu betonen.[4] Mitunter wurden auch historisch-politische Lieder unter die Bezeichnung „Kriegslied“ subsumiert, aber ohne klare Kennzeichnung ihrer typologischen Unterschiede.[5] Im Zusammenhang neuerer Bemühungen um differenziertere Beschreibungen des Liedrepertoires begegnen Klassifizierungen wie „Kampfgedicht“, „Schmähgedicht“ oder „Schlachtlied“, um die Typologie der „Kriegslieder“ zu präzisieren.[6] Diese Klassifizierungen stoßen jedoch nicht auf einhellige Zustimmung: Erstens führen sie zu einer Uneinheitlichkeit der Gattungsbegriffe, da die Terminologie nur selten von Studie zu Studie übertragen wurde.[7] Zweitens blendet eine rigide Klassifizierung die Vielfältigkeit der Kriegsrezeption im Lied aus.[8] In neueren Beiträgen mit dem Fokus auf Krieg wird auf eine gattungsspezifische Terminologie meist verzichtet, um stattdessen eine umfassendere Betrachtung der sozialen Beziehung zwischen Lied und Krieg zu ermöglichen.[9] Ohne terminologischen Konsens scheint es hier daher angebracht, nicht von einem einheitlichen Typus des „Kriegsliedes“ zu sprechen, sondern die Breite und Vielfalt der Einflüsse des Krieges auf Lied und Gesellschaft zu betonen. Spätmittelalterliche Lieder über Krieg waren ebenso vielfältig wie das Lied selbst. Sie unterscheiden sich nicht nur durch ihre textlichen Formen und musikalischen Vertonungsweisen, sondern auch durch ihre erzählenden Funktionen, Überlieferungen, Aufführungen und schließlich durch ihre jeweilige Behandlung des Kriegsstoffes selbst. Zum umfangreichen Korpus zählen Literaturformen wie Reimpaarsprüche, historisch-politische Ereignislieder und Berufslieder, z.B. von Landsknechten, die unterschiedlich durch Spruchtöne, Kontrafakturen und sowohl einstimmige als auch mehrstimmige Vertonungen realisiert wurden. Auch die chronologische Spanne dieser Produktion deckt ein breites Spektrum an Ursprungs- und Rezeptionskontexten ab. So lassen sich z.B. die überwiegend handschriftlich überlieferten Lieder früherer Berufsdichter kaum mit den in Druck verbreiteten Werken späterer Gelegenheitsdichter vergleichen, ebenso wenig wie die mündliche Rezeption von Liedern auf städtischen Straßen mit den mehrstimmigen Vertonungen höfischer Komponisten in Musikdrucken gleichzusetzen ist.
Trotz dieser Unterschiede können zwei wichtige übergreifende Funktionen des Krieges im Lied identifiziert werden. Die erste bezieht sich auf die charakteristische polemische Funktion des historisch-politischen Liedes.[10] Konflikte und Gewalt bildeten eine ideale Grundlage für politische Texte. Ein Herrscher benötigte Unterstützung für seine Kriege sowie die religiöse Legitimität seines Vorhabens. Dennoch war es möglich, Handlungen zu kritisieren, Fürsten für Misserfolge verantwortlich zu machen und zu einem Kurswechsel aufzurufen. Des Weiteren bestand die Möglichkeit, durch Verspottung des Feindes oder einen Kampfaufruf öffentliche Zustimmung zu gewinnen.[11] Die durchgehende Präsenz solcher Lieder in den Liedverboten des 15. und 16. Jahrhunderts belegt, wie derartige „Agitationen“ zu realen Auswirkungen führen konnten.[12] Eine zweite soziale Funktion findet sich in der zeitgenössischen Neugierde auf den Krieg selbst. Der erstmalige Einsatz von Schusswaffen und Söldnertruppen im Spätmittelalter führte zu einer neuen Begeisterung für den Krieg und seine Teilnehmer. Diese erzeugte auch eine Faszination für stilisierte visuelle Darstellungen von Soldaten,[13] die von Dichtern und Druckern als kommerziell lukrativ erkannt wurden. In ähnlicher Weise verherrlichen Lieder wie die sogenannten Landsknechtslieder oder die Battaglia das gefährliche, aufregende Leben des Soldaten. Sie unterscheiden sich von den historisch-politischen Liedern insbesondere durch ihre Erzählweise, indem sie sich auf die aktuellen Bedingungen des militärischen Lebens konzentrieren, im Gegensatz zur kritischen Schilderung vergangener Ereignisse. Eine umfassende Betrachtung aller Lieder über Kriege und deren Unterschiede kann in diesem kurzen Beitrag natürlich nicht geleistet werden. Es sollen im Folgenden aber einige exemplarische Fallbeispiele vorgestellt werden.
[1] Schanze 1999b, 305–306; Brednich 1975, Bd. 2, 59–61.
[3] Vgl. Kellermann 2000, 35; Honemann 1997, 399–401.
[4] Z.B. Erk/Böhme 1893/1894, Bd. 1, vii; Janicke 1871, 3; Suppan 1966, 38.
[5] Sauermann 1975, 301; Hampe 1919, 52.
[6] Müller 1974, 26 f.; Sauermann 1975, 301 f.
[7] Kellermann 2000, 13, 86 f.; Kerth 1997, 9.
[8] Kerth 1997, 9.
[9] Kellermann 2000; Kerth 1997; Seibert 1978; Wenzel 2018.
[10] Vgl. Eickmeyer 2017, 29; Honemann 1997, 418 f.; Brednich 1974, Bd. 1, 154; Straßner 1970, 242; Kellermann 2000, 311.
[11] Vgl. Kellermann 2000, 92–98, 155 f., 277; Wenzel 2018, 247–262.
[12] Zum „Agitationszweck“ vgl. Völker 1981, 23; Vgl. auch Hampe 1928, 251–278; von Liebenau 1873, 346 f.
[13] Vgl. Hermann 2006, 65; Rogg 2002, 274–276.
[1] Schanze 1999b, 305–306; Brednich 1975, Bd. 2, 59–61.
[3] Vgl. Kellermann 2000, 35; Honemann 1997, 399–401.
[4] Z.B. Erk/Böhme 1893/1894, Bd. 1, vii; Janicke 1871, 3; Suppan 1966, 38.
[5] Sauermann 1975, 301; Hampe 1919, 52.
[6] Müller 1974, 26 f.; Sauermann 1975, 301 f.
[7] Kellermann 2000, 13, 86 f.; Kerth 1997, 9.
[8] Kerth 1997, 9.
[9] Kellermann 2000; Kerth 1997; Seibert 1978; Wenzel 2018.
[10] Vgl. Eickmeyer 2017, 29; Honemann 1997, 418 f.; Brednich 1974, Bd. 1, 154; Straßner 1970, 242; Kellermann 2000, 311.
[11] Vgl. Kellermann 2000, 92–98, 155 f., 277; Wenzel 2018, 247–262.
[12] Zum „Agitationszweck“ vgl. Völker 1981, 23; Vgl. auch Hampe 1928, 251–278; von Liebenau 1873, 346 f.
[13] Vgl. Hermann 2006, 65; Rogg 2002, 274–276.
[14] Liliencron 1866, Bd. 2, Nr. 138. Dieser Liedtext wurde wahrscheinlich auf den hier unten behandelten Wissbeck-Ton gedichtet: vgl. » F. SL Die Missa O Österreich.
[15] Suppan 1995, 157.
[16] Zu den Begriffen „autrichité“ und „Habsburgisches Spätmittelalter“ vgl. Müller, 1986, Bd. 1, 427 f.; Spechtler 1986, Bd. 1, 470.
[17] Zu Beheim siehe » B. Spruchsang.
[18] Gille/Spriewald 1968–1972, Bd. 1, Nr. 105, Nr. 106, Nr. 112, Bd. 2 Nr. 238 f.
[20] GB-Lbl Add. 16592, fol. 22r–23v; Schmidt 1970, 520; Seemüller 1897, 170; Seemüller 1897, 587.
[21] Seemüller 1897, 587 f.
[22] Seemüller identifiziert zwei Hände aus dem 16. Jahrhundert für die ersten sechs Nummern, einschließlich des Abschnitts über Friedrich III. Seemüller 1897, 589.
[23] Schneider 1991, 85–95; Neugart 1989, 451 f.; Müller 1986, 439.