Sie sind hier

Fragmente einer (Wiener?) Organistenwerkstatt

Klaus Aringer

Nicht gesichert ist die österreichische Entstehung von drei Blättern mit früher Tastenmusik aus einem Codex überwiegend juristischen Inhalts aus dem 1. Viertel des 15. Jahrhunderts (» A-Wn Cod. 5094). Die von verschiedenen Schreibern stammenden Blätter wurden dem Codex, dessen (teilweise?) Herkunft aus dem Münchner Augustinerkloster,[7] Schwaben oder aus dem Wiener Raum[8] (möglicherweise bei den Augustiner Eremiten oder im Kloster St. Dorothea) vermutet worden ist, nachträglich beigeheftet. (Zur Provenienz des Codex und der Musikblätter vgl. » K. A-Wn Cod. 5094: Souvenirs aus einem Wiener „Organistenmilieu“). Es handelt sich bei ihnen um bemerkenswerte, vielleicht aus primär didaktischen Gründen[9] angefertigte Dokumente für den arbeitstechnischen Prozess der Umformung einer mehrstimmigen vokalen Komposition in tasteninstrumentale Schrift und deren spezifischen Gegebenheiten.

Fol. 148va überliefert auf vier Doppelsystemen zu je fünf Linien eine Spartierung von Dufays Ballade Ce jour le doibt[10] in der Handschrift von Wolfgang Chranekker, der 1441 in St. Wolfgang/Oberösterreich als Organist urkundlich belegt ist (» Abb. Ce jour le doibt).[11]

Abb. Ce jour le doibt

Abb. Ce jour le doibt

Guillaume Dufays dreistimmige Ballade Ce jour le doibt in früher Notation für Tasteninstrument, geschrieben von Organist Wolfgang Chranekker, ca. 1440–1450 (» A-Wn Cod. 5094, fol. 148av; das Blatt ist in der Handschrift auf den Kopf gestellt). Mit Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek.

 

In der Verteilung der Stimmen (Diskant: oberes System, Tenor und Contratenor: unteres System) spiegelt sich die für die ältere deutsche Orgeltabulatur gültige Zuweisung auf zwei Hände bzw. Hände und Pedal. Die c-Schlüsselung beider Systeme (unten c4, oben c1) gibt den Bezug zur ursprünglichen Einheit der scala decemlinealis wie im Groningen Traktat (» NL-G Incunabulum n. 70) bereits latent preis.[12] Die äußere Anlage des Doppelsystems gleicht der italienischen Tabulaturschrift, wie sie im Codex Faenza (» I-FZc Ms. 117, um 1410–1420; » G. Hermann Poll) vertreten ist und die als Vorfahr des späteren Klaviersystems angesehen wird. Die vokale mensurale Schrift aber ist durch den Organisten bereits verändert: Der Contratenor ist zur Unterscheidung von den in weißer Mensuralnotation geschriebenen anderen Stimmen in schwarzer Notation aufgezeichnet, Ligaturen in den Unterstimmen und Notenwerte über einer dreizeitigen Brevis sind in Einzelnoten aufgeteilt, die zweizeitige Semibrevis bildet innerhalb der durch die senkrechten Striche gebildeten graphischen Zellen die gültige Maßeinheit. Dahinter steht der „Durchbruch zu einer neuen musikalischen Zeitvorstellung, für die das Taktprinzip maßgebend wird.“[13] Eigentümlichkeit und Rang der Quelle bestehen darin, dass sie das gewöhnlich nicht aufgezeichnete Stadium zwischen vokaler Komposition und instrumentaler Wiedergabe zeigt.

Auf fol. 155v von A-Wn Cod. 5094 findet sich ein dreistimmiges Ave maris stella in drei verschiedenen Aufzeichnungsformen:[14] Zunächst in untereinander angeordneten, aber nicht durch vertikale Striche koordinierten Stimmen, bei denen der vokale Satz, der im Codex an anderer Stelle (fol. 148v) in regulärer Vokalnotierung niedergeschrieben ist, in Semibrevis-Ketten verändert wurde. Mutmaßlich in einem zweiten Schritt versuchte man unmittelbar darunter diesen Satz innerhalb eines großen, neun Linien umfassenden Tabulatursystems aufzuzeichnen, jedoch wurde der Versuch nach dem Tenor und einiger weniger Contratenortöne abgebrochen. Zuunterst steht eine Version, in der alle drei Stimmen in eine reine Buchstaben-Tabulatur überführt sind. Alle drei Versionen entfernen sich in einer für das instrumentale Spiel charakteristischen Weise von der vokalen Vorlage, ohne im eigentlichen Sinne schon eine tasteninstrumentale Version darzustellen (vgl. auch » C. Organisten und Kopisten).

Mit genuiner Tastenmusik haben wir es hingegen im dritten Zeugnis aus A-Wn Cod. 5094 zu tun. Es handelt sich um ein Blatt (fol. 158r–v),[15] auf dem in Gestalt der älteren deutschen Orgeltabulatur Motetus und Contratenor der Ars nova-Motette Apollinis eclipsatur intavoliert sind.[16] (» Abb. Apollinis eclipsatur).

 

Abb. Apollinis eclipsatur

Abb. Apollinis eclipsatur

Die oft überlieferte Motette Apollinis eclipsatur (entstanden in Frankreich um 1400)  steht in » A-Wn Cod. 5094, fol. 158r–v, in einer reduzierten Fassung (nur Motetus und Contratenor) in älterer Orgeltabulatur. Am Ende der ersten Seite (fol. 158r) heißt es „finis huius rundeli etc.:“ (Ende dieses Rondellus), was eine weltliche Verwendung des Stücks andeutet. Mit Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek.

 

Die Oberstimme steht in einem Fünfliniensystem (c2- und g4-Schlüssel), der Tenor ist mit Buchstaben notiert. Die senkrechten Striche grenzen hier nicht identische metrische Einheiten voneinander ab, sondern fassen in unterschiedlicher Länge zusammen, „was gemeinsam angeschlagen wird.“[17] Während die Einbeziehung von Pausen in Gestalt von Punkten – auch in der Unterstimme – fortschrittlich anmutet, erscheint die Beschränkung auf nur zwei Notenwerte – Sembrevis und Minima (die Brevis ist als doppelte Semibrevis notiert) – eher archaisch.

Neben dem aufregenden Blick in die Werkstatt eines Organisten besteht der besondere Wert aller dieser Aufzeichnungen aus A-Wn Cod. 5094 darin, dass vier wesentliche Formen tasteninstrumentaler Tabulaturschrift, die man für gewöhnlich zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlichen Regionen in Verbindung bringt, hier an einem Ort in etwa zur selben Zeit zusammengefasst wurden: das der Komponiertafel nahestehende Großsystem, die ältere und jüngere deutsche Orgeltabulatur und das Doppelsystem der späteren Klaviernotierung.

[7] Göllner 1967, 171.

[8] Strohm 1984, 212.

[9] Ristory 1985, 53–73.

[10] Faksimile bei Göllner 1967, Abb. 2, und Besseler/Gülke 1973, 155, Abb. 91.

[11] Zur Identifizierung des Schreibers siehe Ward 1981, 342; Wright 2010, 302–316.

[12] Schmid 2012, 177 und 216.

[13] Göllner 1967, 177.

[14] Faksimile bei Göllner 1967, Abb. 1.

[15] Faksimile bei Göllner 1967, Abb. 3; Faksimile und Edition bei Crane 1965, 237–245.

[16] Strohm 1984, 212.

[17] Göllner 1967, 176.