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Melker Fragmente

Klaus Aringer

Bei den Melker Orgeltabulaturen (A-M Cod. 689), die auf den Deckelinnenseiten eines Codex als Buchbindermaterial Verwendung fanden und so erhalten blieben, könnte es sich um Dokumente des Orgelspiels im Stift Melk aus der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts handeln. Beide Seiten sind in mehrfacher Hinsicht Fragmente. Das Blatt auf dem vorderen Einbanddeckel[18] ist mit sieben Systemen zu sechs Linien rastriert und durch c- (3. Linie) und g-Schlüssel (5. Linie) für die Oberstimme des Orgelsatzes eingerichtet. Die bislang nicht identifizierten Melodien des Pedals sind in Buchstaben unter der tiefsten Linie notiert, dabei zeigt ein hochgestellter zweiter Buchstabe wie in anderen Quellen der Zeit üblich die eingestrichene Oktavlage an (Umfang: c-d1). Offenkundig endet im 3. System ein Musikstück mit Finalis d, wie der durch Blattverlust verbliebene Rest eines Textincipits anzuzeigen scheint. Während von diesem ersten Satz der Beginn verloren ist, fehlt vom am Anfang des 4. Systems beginnenden zweiten, nunmehr auf c angesiedelten Orgelstück der Schluss. Beide Sätze sind, wie vor 1550 üblich, zweistimmig mit bewegter, mensural aufgezeichneter Oberstimme und unrhythmisiert plan fortschreitender Unterstimme angelegt; als tasteninstrumentale Gliederungseinheit liegt ihnen die Maßeinheit von vier Semibreven zugrunde. Aus dem Rahmen des in dieser Zeit Geläufigen fällt der kurzzeitige Wechsel in das Dreiermetrum kurz vor Schluss des 1. Stückes.[19] Er steht in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zum strikten Festhalten an der ungeteilten viertönigen Brevisgruppe unmittelbar zuvor. An anderen Stellen lockern Minimen den Verlauf der Oberstimme etwas auf, Semiminimen finden sich in den typischen zweitönigen Initiumswendungen[20] am Beginn von Binnenabschnitten, aber auch an anderen Stellen, wie von Conrad Paumann bevorzugt realisiert.[21] An Abschnittsenden begegnen nicht nur die aus anderen Quellen bekannten Pausa-Umspielungen der Oberstimme, sondern auch ungeteilte Breven.[22] Mit Ausnahme der Semiminimen im Satzinneren und der Breven an den Abschnittsschlüssen entsprechen die Stücke des vorderen Melker Einbandblattes im Grundkonzept dem Summum Sanctus aus » D-B Ms. theol. lat. quart 290.[23]

Leicht veränderte Züge zeigen die Aufzeichnungen auf dem rückwärtigen Einbandblatt.[24] Die Seite ist ebenfalls mit sieben Systemen zu sechs Linien rastriert, von denen aber nur die obersten drei mit Tabulaturschrift versehen sind. Die Buchstabenschrift der gleichfalls nicht identifizierten Unterstimme bricht mit der Mitte des 2. Systems ab, die Oberstimme endet am Beginn des 3. Systems, dessen Rest einen Textvermerk trägt. Anders als auf dem vorderen Einbandblatt finden wir hier drei Schlüssel – f (1. Linie)[25], c (3. Linie)[26] und g (6. Linie) –, pro Tactus-Einheit bilden hier drei bzw. sechs Semibreven das Maß und die durch einen abwärts gerichteten Hals angezeigte Alterierung trägt hier noch einen kleinen Querstrich.[27] Die bereits in der Niederschrift fragmentarische Gestalt der Tabulatur weist an ihrem Ende deutliche experimentelle Züge auf, wenn etwa analog zu » A-Wn Cod. 5094, fol. 155v, im 2. System Semibreven-Ketten erscheinen. Damit steht das zweite Melker Fragment wohl auf einer anderen Ebene innerhalb einer „Organistenwerkstatt“ der Zeit als das erste, das sich gut in die Überlieferung der deutschen tasteninstrumentalen Quellen einfügt.

[18] Faksimile bei Angerer 1973, Abb. 5.

[19] Übertragung der betreffenden Passage bei Flotzinger/Gruber 1995, 204.

[20] Vgl. Apel 1962,11–18, 25 ff. und 41.

[21] Göllner 1961, 92 f.

[22] Vgl. Göllner 1961, 68.

[23] Apel 1962, 16 f.

[24] Angerer 1973, Abb. 6.

[25] Fehlt im 3. System.

[26] Im 2. System nur dieser Schlüssel.

[27] Apel 1962, 49.