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Fragmente aus St. Peter (Salzburg)

Klaus Aringer

Mit dem Fragment » A-Ssp Inkunabel 319 aus dem Bestand der Salzburger Erzabtei St. Peter ist uns eine anonyme tasteninstrumentale Quelle benediktinisch-österreichischer Provenienz aus dem 15. Jahrhundert erhalten.[28] Das doppelseitig beschriftete Papierblatt wurde im Kloster selbst in ein Inkunabelkonvolut eingebunden. Ursprünglich dürften auf dem Blatt fünf Systeme zu je sieben Linien gestanden haben, von denen die obersten zwei inklusive der obersten Linie des ersten erhaltenen Systems infolge der Beschneidung durch den Buchbinder verloren gegangen sind. Die nur auf der recto-Seite erhalten gebliebene Schlüsselung mit f (2. Linie), c1 (4. Linie) und g1 (6. Linie) entspricht exakt dem der Münchner Orgelspiellehre » D-Mbs Clm 7755 beigefügten praktischen Orgelstück.[29] Auch die doppelte Schreibung des Tenortones an Abschnittsschlüssen sowie den hochgestellten zweiten Buchstaben für c1 teilt die Quelle mit anderen dieser Zeit. Zumindest in den ersten fünf Mensuren aber besteht aufgrund der in den Orgelspiellehren tradierten Regeln Zweifel an der korrekten (mutmaßlich eine Oktave zu hohen) Notierung, die sich vielleicht mit einer Scheu vor dem tiefen A im Pedal, das nicht auf allen Orgeln der Zeit vorhanden war, erklären lässt. Die modellhafte Führung des Tenors könnte auf einen konstruierten Übungstenor deuten, sie schließt aber auch eine (bislang nicht ermittelte) präexistente Vorlagenmelodie nicht aus. Die beiden Teile des Fragments umfassen 19 (recto) bzw. elf (verso) Mensuren von je sechs Semibreven Länge. Zwischen den Polen des reinen Semibrevis-Tactus und der nur mit Mimima-Spielformeln realisierten Einheit spielt die Oberstimme alle Abstufungen in Kombination beider Werte durch. Dabei dominieren die viertönigen Spielformeln, die bisweilen zu fünf- oder sechstönigen ergänzt sind. Die Sonderform einer nach oben und unten gefahnten Cauda[30] nimmt stets den Wert eine Semibrevis ein.

Aufmerksamkeit verdient das Salzburger Fragment vor allem, weil es mit dem punktierten Rhythmus, der in der organistischen Handwerkslehre vor Paumann offenkundig keinen festen Platz einnahm und manchmal in verschleierter Notierung erscheint,[31] relativ früh ein spezifisches Merkmal vokaler Notenschrift in der Aneignung durch die Tastenmusik thematisiert. Diese Aneignung verlief, wie die Quelle zeigt, nicht ohne Schwierigkeiten. Neben notationstechnisch korrekten Umsetzungen der Punktierungen folgt bisweilen auf eine Minima mit Punkt anstelle der regulären Semiminima eine zweite punktierte Minima oder normale Minima. Die abschnittsweise „irreguläre“, weil Längen und Kürzen in nicht vorausberechenbarer Weise reihende punktierte Rhythmik hebt sich in charakteristischer Weise effektvoll vom sonst vorherrschenden Regelmaß ab. Ob das notierte Resultat nun aber dem bloßen Experimentieren oder einem bewussten Kalkül entsprungen ist, lässt sich kaum mehr entscheiden.

[28] Faksimile, Edition und Besprechung der Quelle bei Aringer 2006, 357–363.

[29] Vgl. Göllner 1961, 180 f.

[30] Apel 1962, 45.

[31] Aringer 2006, 360.