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Bücherschenkungen zu St. Stephan: Fallbeispiele

Susana Zapke

Johannes von Gmunden

Johannes von Gmunden, Kanonikus von St. Stephan, erließ am 21. September 1433 – zwei Jahre nach seinem Rücktritt als Pfarrer in Laa an der Thaya – eine Ordinacio de libris et instrumentis. Der „canonicus ecclesie sancti Stephani Wienne et plebanus in Laa“ verfügte zugunsten der Artistenfakultät „quod libri mei infra scripti et similiter instrumenta astronomica post obitum meum maneant apud facultatem arcium“ (dass nach meinem Ableben meine unten aufgeführten Bücher und ebenso meine astronomischen Instrumente bei der Artistenfakultät verbleiben sollen). Nach einer umfassenden Bücherauflistung ist von einem „liber in pergameno continens musicam Boethii“ die Rede:[30] Ein erster Beleg dafür, dass der seltene Eintrag „Musica Boethii“ in den Bücherverteilungslisten der Acta Facultatis Artium einer tatsächlichen Verwendung jener musikalischen Lehrschrift im Rahmen der Artistenfakultät entspricht. Johannes von Gmunden wirkte als Dekan der Artistenfakultät in den Jahren 1413 und 1423, sowie als Vizekanzler im Jahre 1426.


Jorg Slaher

Die Existenz einer Bibliothek in St. Stephan – in den Urkunden u. a. als „liberei“, „librey“, „liberaria capituli und liberaria canonicorum“ vermerkt  deren genaue Platzierung zwar nicht festgestellt werden konnte, scheint jedoch gesichert zu sein.[31] Ihre Konstitution führt zunächst auf die herzogliche Schenkung Rudolfs IV. und auf die späteren Legate der Domherren zurück.[32] Diese beschränkten sich hauptsächlich auf Bücher primär theologischen Inhalts sowie auf vereinzelte liturgische Bücher. Beispielsweise vermachte der Chormeister Jorg Slaher am 12. April 1429 „den Leviten zu sand Stephan drei pücher textus ewangeliorum, ain halbs passional, sermones de tempore, item ain puch in geistlichen rechten des Gwerleich notarii“.[33] Ob der Chormeister weitere Bestände überließ, ist nicht bekannt; das Fehlen musikalischer Quellen in seinem Legat mag befremden, ist aber dadurch zu erklären, dass der magister chori eine hohe Verwaltungsfunktion hatte, während die praktische Musik dem cantor unterstand.


Andreas von St. Stephan

In einer heute verschollenen Handschrift aus dem Stift Admont befand sich eine Notiz über das Legat des Andreas von St. Stephan: „Hic annotantur libri Andreae choralis ecclesiae s. Stephani in Wienna“ (Hier sind die Bücher des Andreas, Chormitglied von St. Stephan, verzeichnet).[34] Das Datum wird vor 1471 festgelegt. Andreas von St. Stephan besaß um die 10 Exemplare, die er an unterschiedliche Adressaten vererbte. Möglicherweise bezeichnend ist hier wieder das Fehlen musikalischer Exemplare bei einem Chormitglied (d. h. Choralschüler, nicht Chorherr) von St. Stephan.


Schenkungen an die Kollegiatsbibliothek

Das Bücherverzeichnis des Kollegiatskapitels zu St. Stephan, das in einem Kopialbuch von 1395 überliefert ist, belegt ein „graduale musicale parvum“ (kleines musikalisches Graduale), das Messgesänge enthalten haben muss. Alle weiteren Exemplare sind heterogener Natur und umfassen sowohl medizinische Traktate als auch theologische Schriften, Psalterien, Matutinalien, eine Bibel, einen Kalender, ein Passionale und mehrere Dekretalien. Eine weitere Bücherliste von Anfang des 15. Jahrhunderts gibt den Bestand der libraria canonicorum von St. Stephan wieder, bestehend aus neuen Schenkungen und aus dem alten corpus. Der Rubrik „Nota libros librarie ecclesie vel capituli ecclesie omnium sanctorum Wienne“ (vermerkt die Bücher der Kirchenbibliothek, d. h. des Allerheiligenkapitels in Wien, [die Bibliothek der Kanoniker]) folgt eine Reihe theologischer und medizinischer Traktate aus dem Umfeld der Wiener Universität. Die Namen der Magister, die der Bibliothek der Kanoniker von St. Stephan Bücher schenkten, sind bei jedem Eintrag vermerkt.[35] Es konnten keine musikalischen Lehrbücher oder musikalischen Repertoirequellen hierbei verzeichnet werden.[36]


Bücher für Kapellen und Altäre

Obwohl die genaue Verortung der Bibliothek im Stephansdom nicht bekannt ist, bieten die Stiftungsurkunden und Legate genaue Angaben zur Identifizierung weiterer Aufbewahrungsorte der Bücher in den Stiftungskapellen und Altären des Domes. Das Schatzverzeichnis der Tirnakapelle, auch Kreuz- und St. Morandus- Kapelle genannt, datiert vom 5. September 1426 und enthält den bemerkenswerten Eintrag „item ain cancional in pergameno“.[37] Ob es sich bei diesem in Pergament gebundenen Codex um ein Cantionale im Sinne einer liturgischen und paraliturgischen Liederkompilation wie etwa beim Seckauer Cantionarius handelt, oder gar um eine Sammlung mehrstimmiger Musik wie in späteren Verwendungen des Begriffs Cantionale, bleibt hingegen ungeklärt.[38] Jedenfalls beinhaltet das Inventar insgesamt zehn Bucheinträge ausschließlich musik-liturgischer Natur:

„zwe Messpuecher, ain mettenpuech in tzwain panten [in zwei Bänden], ein gradual, tzwen antiphner in pergamen, ainer in papier, aun ein antipfner, ain swartz püchel in pergamen, vers [weiters?] ein Salve und passiones, ein vesperal in pergameno, ain cancional in pergameno, Iacobellus, versus super Salve regina in pergameno, breviarius in pergameno“.

Der Bücherbestand der Tirnakapelle ist auf die zahlreichen Stiftungen seitens der landesfürstlichen Familie und der Wiener Bürger zurückzuführen. Erbaut wurde die Kapelle zwar vom Habsburger Herzog Rudolph IV. um 1358/62, bestiftet, weiter ausgestattet und als Familiengrablege konzipiert wurde sie jedoch später von der Familie Tirna.[39]

Neben dem Schatzverzeichnis der Tirnakapelle ist für den Bücherbestand an St. Stephan folgende Schenkungsnotiz aus dem Calendarium necrologicum des Wiener Domstifts (um 1402) von Interesse: „Primo ordino pro decanatu missale novum. Item vesperale et officiale de sancta Katherina, de sancta Barbara, de sancta Dorothea et de sancto Iohanne ante portam Latinam, totum in pergameno” (Erstens bestelle ich dem Dekanat ein neues Missale. Ferner ein Vesperale und Offiziale von St. Katharina, St. Barbara, St. Dorothea und St. Johannes ante portam latinam, alles in Pergament). Da in St. Stephan eine St. Katharina- und eine St. Barbarakapelle jeweils 1395 und 1474 geweiht wurden und ein Dorothea-Altar bis 1404 am Lettner stand, gibt diese Notiz Anlass zur Verortung der für den alltäglichen Gebrauch vorgesehenen Handschriften – vesperale et officiale – in den jeweiligen Kapellen bzw. am Ort, wo sich die Kantorei befand. Eine Schriftquelle von 1404 erwähnt „die Cantorey“ am Lettner gemeinsam mit dem Dorotheaaltar.[40] (Zu schriftlichen Zeugnissen des Dorothea-Kults in Wien vgl. » A. SL St. Dorothea.)

Das Fest der Schutzheiligen Katharina ist in den Statuten der Artistenfakultät von 1389 prominent vermerkt, wobei Gesang sowohl zur Tagesmesse als auch zur ersten Vesper am Vorabend vorgeschrieben wurde: „Die sancto festi ipsius beate virginis Katharine missarum solemnia et in die precedente vespere decantentur, nisi aliquid obstiterit magni“ (Am Festttag der Hl. Jungfrau Katharina sollen ein festliches Hochamt und am Vorabend die Vesper gesungen werden, falls nicht eine größere Verhinderung eintritt).[41]

Aus dem calendarium necrologicum des Stephansdoms sind ebenso Bücherschenkungen, unter anderem von Wiener Universitätsgelehrten, an die verschiedenen Kapellen in St. Stephan zu entnehmen. Aus einem Besitzvermerk des 15. Jahrhunderts in » A-Wn Cod. 4134 (fol. 252v) ist der Kaplan der Katharinenkapelle, Dominus Eckhardus, als Bücherbesitzer bekannt. Ihm gehörte ein Codex mit Predigten, die an die Universitätsangehörigen gehalten wurden („Sermones ad academicos Viennenses habiti“). Auch Universitätsgelehrte vermachten der Katharinenkapelle Bücher im Rahmen von Stiftungen. Hermann von Treysa, Doktor der Medizin und der freien Künste, stiftete eine tägliche Messe in der dem Dechanat gehörigen St. Katharinenkapelle und dazu ein Messbuch. Einen weiteren Teil seiner Bücher – mit Ausnahme jener dem Collegium ducale und dem Kapitel von St. Stephan überlassenen – vermachte er seinen Verwandten mit dem expliziten Verbot, sie zu teilen.[42]

Kurios, weil es sich hier erstmals um eine Wiener Bürgerin handelt, ist eine vom 21. Juli 1414 datierte Stiftungsurkunde. Darin bestätigen Simon von Ruckersburg, früherer Kaplan der Luzia der Nähzeugerin, sowie Thomas von Weitra (vgl. Kap. Bücher in geistlichem Privatbesitz), dass von den Wiener Räten Hans Mosprunner und Hans von Friesach für die von Frau Luzia auf den St. Martinsaltar zu St. Stephan gestiftete Seelenmesse verschiedene Gegenstände übergeben wurden, darunter „ein messpuch in einer grunen hawt, in dem ersten hauppuchstab ist ain sitzunder Jesus gemalet in einem roten mandel und das puch hat sechs rotseyden snuer oben mit ainer perlein chlaidung geczieret“.[43] Ein Martinsaltar ist am Stephansdom seit 1367 bekundet.

Aus diesen Beispielen geht hervor, dass musik-liturgische Handschriften als Teil einer Stiftungshandlung und in der Funktion einer Gebrauchshandschrift vor Ort, und zwar in den jeweiligen Kultorten, Altären oder Kapellen, aufbewahrt wurden. Diese Tatsache erklärt teilweise die statistisch betrachtet geringfügige Präsenz musik-liturgischer Quellen in den institutionellen Bibliotheksverzeichnissen.

[30] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 476.

[31] Zur Frage der Buchbestände im Collegium civium vgl. auch Zapke 2014, 252, Anm. 9.

[32] Siehe die Dombibliothek zu St. Stephan in Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 270–282.

[33] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 273.

[34] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 266 f.

[35] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 277.

[36] Büchersammlungen der Wiener Bischöfe sind erst im 16. Jahrhundert attestiert. Erste Ansätze zur Errichtung einer erzbischöflichen Bibliothek gab es unter Bischof Slatkonia (1515–1522), cf. Lackner 2000, 37 f.

[37] Gottlieb 1915/1974, 283 f.

[38] Zum Seckauer Cantionarius von 1345 vgl. » A. Weihnachtsgesänge; zu den Cantionalien Johannes Lupis » G. Johannes Lupi; zu jenen des Stephansdomes Strohm 2014 und » E. Musik im Gottesdienst: Wien

[39] Das Wappen der Tirna befindet sich an der Außenseite und die Grabplatte aus rotem Marmor am Eingang der Kapelle. Vgl. Schedl 2009, 48; Kohn, Inschriften.

[40] Freundliche Auskunft von Univ.-Doz. Dr. Barbara Schedl, Projektleiterin des FWF Forschungsprojekts St. Stephan in Wien. Architektur der Schriftquellen.

[41] Acta Facultatis Artium, vgl. Uiblein 1968.

[42] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 272.

[43] Lackner 2000, Bd. 1, 517 f. Die Urkunde ist ediert in Uhlirz 1895CXXI, Nr. 13299.