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Identifizierung musikalischer Bücherbestände

Susana Zapke

Die Identifizierung der Musikbestände des mittelalterlichen Wien erfordert aus zwei Gründen eine differenzierte Vorgehensweise. Erstens stützt sich eine solche Untersuchung vorwiegend auf indirekte Überlieferungen, zweitens ist die in den überlieferten Belegen verwendete Nomenklatur nicht immer eindeutig interpretierbar. Aus den erhaltenen Quellen wie etwa Bücherverteilungslisten der Artistenfakultät, Testamentsauszügen, Schenkungsurkunden und Bücherverzeichnissen sowie aus vereinzelten Notizen in Handschriften lassen sich die Büchertitel lediglich fragmentarisch rekonstruieren. Was den musikalischen Bestand speziell betrifft, so bilden die teilweise kryptisch bis ambivalent notierten Einträge zusätzliche Hindernisse bei einer getreuen Wiedergabe der Originale.

Ein Beispiel damaliger Bücherlisten ist das 1330 verfasste Verzeichnis der Bibliothek von Klosterneuburg. Eine der vier darin beteiligten Hände notierte die vom Bibliothekar selbst („a magistro Martino“) hinterlassenen Bücher.[9] Die Überschrift „libri musicales“ lässt zwar eine prominente Sammlung an musikalischen Lehr- und Repertoirehandschriften in jener Bibliothek erahnen, allerdings folgt hinter jener Rubrik mehrmals die generalisierende Angabe „Item libellus musicalis“, was die Identifikation sehr erschwert. Nur der Eintrag auf fol. 10v „Libri musicales. Primo liber musicalis qui incipit: Domino deoque dilecto arcipresuli Pilgrimo“ (Musikbücher. Erstens ein Musikbuch beginnend „Dem gottgefälligen Herrn Erzbischof Pilgrim“) bezieht sich eindeutig auf Berno Augiensis (Bern v. d. Reichenau) Musica seu Prologus in Tonarium, das der Verfasser dem Erzbischof Pilgrim von Köln widmete. Andere Einträge wie ein „antifonarium musicale“ und ein „ympni per musicam“ verweisen auf weitere Musicalia im Bestand der Klosterbibliothek.

Eine ähnliche Erfahrung gewährt das umfassende Melker Register, bei dem Einträge wie „musice artis tractaculi“ (Traktate der musikalischen Kunst) oder „item canciones plures“ (weiters verschiedene Gesänge) eine notorische Interpretationsbreite eröffnen. Wiederkehrende Formulierungen wie „Messpücher“, „Sankpücher“, „tractatuli duo de cantu mensurali metrice“ (zwei Verstraktate vom mensurierten Gesang) und „tractatulus metricus de musica“ (Verstraktat von der Musik) sind ebenso zum Inventar der ambivalenten Bezeichnungen zu rechnen – obwohl den beiden letzteren eine noch identifizierbare Handschrift entspricht (» A-M Cod. 950, vgl. Kap. Melker Musikhandschriften).[10]

Wiederholte Einträge in den Wiener Acta Facultatis Artium bzw. in den Bücherverteilungslisten vom 1. September des jeweiligen akademischen Jahres erwähnen „musica“ oder spezifischer „musica Muris“ und „musica Boethius“ (mit Hinweis auf die kanonischen Autoren Johannes de Muris und Severinus Boethius). Die Abwesenheit mensuraler Trakate ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, wenn man sowohl an musikpraktische Interessen der Studentenschaft als auch an andere mit der Universität interagierende Zentren denkt, wie etwa das Benediktinerkloster Melk, wo zahlreiche Mensuraltraktate belegt sind.[11]

[9] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 104–118: „Anno ab incarnacione domino MCCCXXX festo nativitatis virginis gloriose registrati sunt libri bibliotece ecclesie Newurgensis a magistro Martino…“. Ab fol. 10r finden sich alle üblichen Lehrbuchtypen eines Schulbetriebes: „libri artis arismetrice, libri musicales, libri Tullii, auctores gramaticales …“. Die Verbindung von Klosterneuburg zur Wiener Universität ist ausreichend dokumentiert.

[10] Katalog von 1483, A-M Cod. 948. Cf. Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 236; siehe auch Glaßner 2000. Zum Inhalt von A-M Cod. 950 vgl. » C. Mensuraltheorie - Didaktische Aufbereitung.

[11] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 142.