Eine kontrastreiche Musiksammlung
Der musikalische Anhang von » Codex 5094 der Österreichischen Nationalbibliothek (» Kap. Zeugnisse einer Wiener „Organistenwerkstatt“?) ist aus Beiträgen verschiedener Art und Herkunft zusammengestellt. 12 oder 13 beteiligte Kopisten notierten einstimmige und mehrstimmige Gesänge, dazu Musik für Instrumente in Partitur, Buchstabennotation und Orgeltabulatur. Liturgische Choralmelodien sind rhythmisiert aufgezeichnet. >Strichnotation< und >Notenwertpunkte< ermöglichen „absolute Lesbarkeit“ der Notation für Musiker, die mit den Regeln der westeuropäischen Mensuralnotation unvertraut sind (» C. Organisten und Kopisten). Der Inhalt dieser Blätter ist kirchlich und weltlich, vokal und instrumental gemischt. Er verteilt sich auf die Kopisten wie folgt:
(Abkürzungen: C = Cantus, T = Tenor, Ct = Contratenor; MN = Mensuralnotation (voll oder hohl), CN = Choralnotation, SN = Strichnotation (voll oder hohl), OT = (ältere deutsche) Orgeltabulatur, BN = Buchstabennotation; frg. = Fragment(e); Schlüssel: c1, c3, f3, f4, usw.)
Die moderne Foliierung der Musikblätter geht von fol. 148 bis fol. 164; es gibt ein zusätzliches fol. 148a. Von diesen 18 Blättern gehört fol. 156 jedoch nicht zum Musikanhang, sondern zum Hauptteil des Codex selbst (gleiche Kopistenhand wie fol. 1-3). Soweit die steife Bindung erkennen lässt, gibt es zwei Doppelblätter (fol. 145-155, fol. 160-161), ansonsten nur Einzelblätter. Zwölf Papiertypen kommen vor (sichtbare Wasserzeichen sind Amboss, Waage, Hirsch, Dreiberg, Ochsenkopf), die auf die 1440er Jahre datierbar scheinen. Die Blätter messen maximal 31x22 cm, was dem Hauptteil von Cod. 5094 entspricht, sind aber manchmal stärker beschnitten und gefaltet, oft auch falsch eingebunden: Sie wurden nicht ursprünglich für diesen Codex hergestellt. Die variable Liniierung, Beschriftung und Faltung deutet auf verschiedene Zweckbestimmung der betreffenden Blätter (»Abb. Papiere und Beschriftungen in A-Wn, Cod. 5094). Einige Stücke sind unvollständig, weil Blätter verlorengegangen sind (vielleicht erst beim Binden); nichts scheint jedoch gewaltsam entfernt oder beschädigt worden zu sein.
Es gibt interne Zusammenhänge in dieser kontrastreichen Sammlung. Kopist A, der anscheinend Verantwortung für mehrere Teile der Sammlung trägt, schreibt volle Mensuralnotation (fol. 148v, »Abb. Ave maris stella) und – in kleinerer Schrift – einstimmigen Choral (fol. 149v-152v, » Abb. Choralnotation für die Orgel in Cod. 5094). Kopist G wiederholt das dreistimmige Ave maris stella von Kopist A auf fol. 155v in hohler Strichnotation. Kopist A wiederum setzt darunter z.T. unvollständige oder experimentelle Transkriptionen desselben Ave maris stella in Strich- und Buchstabennotation (» Abb. Ave maris stella I, anders notiert).[2]
Auch andere Schreiber scheinen zu experimentieren. Dem in voller Strichnotation aufgezeichneten Salve regina auf fol. 150v geht auf fol. 150r ein zweistimmiger Kompositionsentwurf ohne Tenor voraus (Kopist C); die voll ausgeführte Fassung des Stücks auf fol. 150v besteht nur aus Cantus und Contratenor – die Folgeseite mit dem Tenor fehlt. Kopist M lässt der Komposition auf fol. 164r zwei andere Entwürfe auf fol. 164v folgen.
Kopist B ist Wolfgang Chranekker, belegt als Organist in St. Wolfgang am Abersee (Wolfgangsee) im Jahre 1441.[3] Da er um 1441 für Hermann Pötzlinger den jüngsten Teil des St.-Emmeram-Codex notiert hat, dürfte er damals auch in Wien tätig gewesen sein (» C. Organisten und Kopisten). Auf fol. 148av schreibt er Guillaume Du Fays Ballade Ce jour le doibt in Partitur auf zwei Systemen wie für ein Tasteninstrument – ähnlich der sogenannten „älteren italienischen Orgeltabulatur“ –, jedoch unbearbeitet (» Abb. Ce jour le doibt). Die Unterscheidung der auf demselben System eingezeichneten Stimmen Tenor und Contratenor durch hohle bzw. volle Noten ist aus der liturgischen Mehrstimmigkeit bekannt.[4] Insgesamt ein Drittel der Sammlung ist speziellen Notationsarten und offenbar instrumentaler Musik gewidmet, sei es für die Orgel oder andere Tasteninstrumente. Die Mehrzahl der Musikstücke gehört jedoch zur Gattung des liturgischen Chorals.
[2] Vgl. Ristory 1985.
[3] Identifiziert durch Rumbold-Wright 2009, 100-103; Wright 2010. Tom R. Ward hatte die Identität der Kopistenhand B mit dem jüngsten Teil des St.-Emmeram-Codex zuerst bemerkt.
[4] Strohm 1966.
[2] Vgl. Ristory 1985.
[3] Identifiziert durch Rumbold-Wright 2009, 100-103; Wright 2010. Tom R. Ward hatte die Identität der Kopistenhand B mit dem jüngsten Teil des St.-Emmeram-Codex zuerst bemerkt.
[4] Strohm 1966.
[5] Crane 1965, Göllner 1967.
[6] Ristory 1985 interpretiert die Niederschriften des Ave maris stella als Notationsübung; Klaus Aringer (» C. Die Überlieferung der Musik für Tasteninstrumente (1400–1520)) und Bernhold Schmid (»C. Organisten und Kopisten) vertiefen den notationstechnischen Aspekt.
[7] Klugseder-Rausch 2012, 117-119.
[8] Fallows 1987, 62-63, 239.
[9] Shields 2011, 135. O pia Maria, eine Kontrafakur nach Ju ich jag, die auch in » D-Mbs Cgm 716, fol. 104r-106r erhalten ist, sei nicht verwechselt mit dem geistlichen Lied O Maria pya des Mönchs, das im “Barant-Ton” Peters von Sachs gedichtet ist (vgl. » Kap.Ton und Kontrafaktur: der Barantton).
[10] März 1999 (Lied Nr. W31); Strohm 2014, 17-19.
[11] Mündliche Information von Prof. Lorenz Welker.
[12] Zuletzt zu „Skak“, vgl. Fallows 1999, 345-346; Lewon 2018, 288.
[13] Eine selektive Inhaltsübersicht mit einigen Texttranskriptionen aus dem Musikteil bei Zapke [2014].
[14] Der Rückentitel des Bandes von 1752 lautet Acta Concilii Constantiensis.
[15] Berthold gründete 1449 das Augustiner-Eremitenkloster Uttenweiler bei Biberach.
[16] Die Biographie Gunthers wird berichtet in Anonym, Catalogus priorum provincialium Ord. Erem. S. Augustini per provinciam, München: Riedlin, 1729, 12.
[17] Zu Judocus von Windsheim als Besitzer des Lochamer-Liederbuchs vgl. Salmen-Petzsch 1972.
[18] * - * : unsichere Lesungen. fidus: über der Zeile nachgetragen, vielleicht *quisque* ersetzend.
Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Strohm: “A-Wn, Cod. 5094: Souvenirs aus einem Wiener „Organistenmilieu“”, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/a-wn-cod-5094-souvenirs-aus-einem-wiener-organistenmilieu> (2018).