Eine „Dankmotette“ für Erasmus
Es gibt einen noch deutlicheren Beleg dafür, dass Erasmus Gunther und die Musik einst zusammengehörten. Auf dem letzten Blatt des Musikanhangs, fol. 164r, steht eine zweistimmige Gesangskomposition (Cantus und Tenor) oder Motette in hohler Mensuralnotation der 1440er-Jahre mit später (in brauner Tinte) gestrichenem Text, der den „berühmten Richter Erasmus“ feiert (» Abb. Vivat nobilis prosapie).
Zweistimmige Komposition zu Ehren von Richter Erasmus (Gunther), Wien um 1443-1445. Nach A-Wn, Cod. 5094, fol. 164r. © Österreichische Nationalbibliothek.
Textrekonstruktion:
- Vivat nobilis prosapie inclitus iudex Erasmus,
- francisci familie *quia quisque* fidus meritus,
- Totum quod est si *cernas ponit* ut *alter munificus*
- Primogenitoribus mercantibus exivit.
- Quemque francisce optime tuo munimine
- fac tue gracie pariterque participem glorie.[18]
Interpretation:
Der berühmte Richter Erasmus, von edler Abstammung, wird gerühmt für sein Verdienst (fidus meritus) um die Familie des Hl. Franciscus, der [Zeile 3 unklar] seine Eltern, Kaufleute, verließ (nämlich um Klosterbruder zu werden). Franciscus wird angerufen, dass er ihn mit seinem Schutz versehe und seiner Gnade und Glorie teilhaftig mache.
Nach A-Wn, Cod. 5094, fol. 164r. Der kanzellierte Text ist in der dritten Zeile noch nicht zufriedenstellend rekonstruiert (» Abb. Vivat nobilis prosapie). Transkription R. Strohm.
Die Wiener Minoriten (Franziskaner) hatten ebenso wie die anderen Bettelmönche der Stadt Grund, Erasmus Gunther aus München für seine kirchenrechtliche Intervention im Jahre 1443 zu danken. Aus ihren Kreisen scheint die „Dankmotette” zu stammen, die somit auf die Jahre um 1443-1445 datierbar wäre. Dass das Musikstück in derselben Sammlung erhalten ist, die vermutlich Erasmus selbst gehörte, würde den Souvenircharakter der ganzen Sammlung noch einmal betonen. Dass der Text offenbar später unkenntlich gemacht wurde, mag eher auf die persönliche Bescheidenheit des Besitzers oder seiner Erben zurückzuführen sein, wenn nicht gar auf deren Eifersucht. Die Vertonung ist dem Stil der jüngsten Kompositionen im St.-Emmeram-Codex, etwa von Hermann Edlerawer, eng verwandt (»Notenbsp. Vivat nobilis prosapie). Ein Contratenor fehlt. Da derselbe Musikkopist auf der Rückseite des Einzelblattes (fol. 164v) zwei kurze Kompositionsentwürfe aufzeichnete, von denen einer Fragment geblieben ist und der andere nur zwei gleichrangige Stimmen hat, ist vielleicht auch Vivat nobilis unvollendet geblieben, und der fehlende Contratenor wurde nie geschaffen. Als Beleg für die Vielseitigkeit der Wiener Musikszene, besonders des Organistenmilieus, konnte das Stück seinem Widmungsträger gleichwohl dienen – solange er sich eben dafür interessierte.
[18] * - * : unsichere Lesungen. fidus: über der Zeile nachgetragen, vielleicht *quisque* ersetzend.
[2] Vgl. Ristory 1985.
[3] Identifiziert durch Rumbold-Wright 2009, 100-103; Wright 2010. Tom R. Ward hatte die Identität der Kopistenhand B mit dem jüngsten Teil des St.-Emmeram-Codex zuerst bemerkt.
[4] Strohm 1966.
[5] Crane 1965, Göllner 1967.
[6] Ristory 1985 interpretiert die Niederschriften des Ave maris stella als Notationsübung; Klaus Aringer (» C. Die Überlieferung der Musik für Tasteninstrumente (1400–1520)) und Bernhold Schmid (»C. Organisten und Kopisten) vertiefen den notationstechnischen Aspekt.
[7] Klugseder-Rausch 2012, 117-119.
[8] Fallows 1987, 62-63, 239.
[9] Shields 2011, 135. O pia Maria, eine Kontrafakur nach Ju ich jag, die auch in » D-Mbs Cgm 716, fol. 104r-106r erhalten ist, sei nicht verwechselt mit dem geistlichen Lied O Maria pya des Mönchs, das im “Barant-Ton” Peters von Sachs gedichtet ist (vgl. » Kap.Ton und Kontrafaktur: der Barantton).
[10] März 1999 (Lied Nr. W31); Strohm 2014, 17-19.
[11] Mündliche Information von Prof. Lorenz Welker.
[12] Zuletzt zu „Skak“, vgl. Fallows 1999, 345-346; Lewon 2018, 288.
[13] Eine selektive Inhaltsübersicht mit einigen Texttranskriptionen aus dem Musikteil bei Zapke [2014].
[14] Der Rückentitel des Bandes von 1752 lautet Acta Concilii Constantiensis.
[15] Berthold gründete 1449 das Augustiner-Eremitenkloster Uttenweiler bei Biberach.
[16] Die Biographie Gunthers wird berichtet in Anonym, Catalogus priorum provincialium Ord. Erem. S. Augustini per provinciam, München: Riedlin, 1729, 12.
[17] Zu Judocus von Windsheim als Besitzer des Lochamer-Liederbuchs vgl. Salmen-Petzsch 1972.
[18] * - * : unsichere Lesungen. fidus: über der Zeile nachgetragen, vielleicht *quisque* ersetzend.
Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Strohm: “A-Wn, Cod. 5094: Souvenirs aus einem Wiener „Organistenmilieu“”, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/a-wn-cod-5094-souvenirs-aus-einem-wiener-organistenmilieu> (2018).