Regionale Herkunft der Musik von Cod. 5094
Die Konkordanzen und liturgischen Bestimmungen deuten mehrheitlich auf eine Herkunft aus der Region Österreich. Die als ‚rundelus‘ bezeichnete textlose Motette Apollinis eclipsatur, von der hier nur zwei Stimmen intavoliert sind, steht auch in Cod. 922 der ÖNB (» A-Wn Cod. 922, fol. 2r), einem Fragment der Zeit um 1400.[7] Virginem mire pulchritudinis, ein Kontrafakt der Ballade En discort, war in der Region gut bekannt, u. a. bei Organisten und Musiktheoretikern; es wird erwähnt vom „Melker Anonymus” (» A-M Cod. 950, datiert 1462; » Kap. Mensuraltheorie – didaktische Aufbereitung).
Die jüngste datierbare Komposition ist Du Fays Seigneur Leon, entstanden wahrscheinlich 1442 in Ferrara.[8] Das Fragment …solem qui te rexit auf fol. 163r wurde von Michael Shields als Teil des Liedes O pia Maria des Mönchs von Salzburg identifiziert;[9] es ist ein Kontrafaktum seines Singradels Ju, ich jag (um 1400), das seinerseits eine Bearbeitung und Kontrafaktur der chace Umblement vos pris merchi war.[10] Oswald von Wolkensteins Froleich geschrai, kontrafiziert mit einem lateinischen Lobgesang Celsitonanti,[11] trägt die Textmarke Skack sive celsito[nanti] („Skack oder Celsitonanti“), was auf das Instrument „Schachtpret“ (exchiquier) verweist. Das Wort „Skak“ ziert u. a. die Initiale von Oswalds Froleich geschrai in seiner Liederhandschrift A (fol. 21v), die 1447 Herzog Albrecht VI. von Österreich gehörte.[12] Das Interesse der Kopisten A und G an dem dreistimmigen Hymnus Ave maris stella entspricht der mehrfachen Niederschrift dreistimmiger Fassungen desselben Hymnus im St.-Emmeram-Codex, wahrscheinlich im Kontext von Kompositionsstudien (» C. Kompositorische Lernprozesse).
Alle hier aufgezeichneten Choralgesänge sind in süddeutsch-österreichischen Diözesanriten vorhanden. Die Sequenz Psallat concors symphonia für St. Dorothea könnte speziell auf die Diözese Passau bzw. auf Wien deuten. Die Sequenz Gloriosa fulget dies hat hier eine Textfassung für St. Udalricus (Ulrich) von Augsburg: Doch Kopist A adaptierte den Text auch für Passau (patavia) und für die Hl. Wolfgang von Regensburg und Rupert von Salzburg sowie vielleicht Valentin von Passau: » Abb. Sequenz Gloriosa fulget dies a); Abb. Sequenz Gloriosa fulget dies b). Zur Passauer Diözese gehörte damals der Wallfahrtsort St. Wolfgang am Aberseee (= Wolfgangsee), wo Chranekker Organist war.
Chranekker schrieb im St.-Emmeram-Codex nur vokale Mensuralnotation, keine Tabulatur, und hier hat er Ce jour le doibt, obwohl vielleicht für die Orgel gedacht, ebenfalls mensural in Partitur geschrieben. In dieser Epoche waren Organisten oft akademisch gebildet und beherrschten verschiedene Musikarten, die sie auch unterrichten konnten (» C. Organisten und Kopisten). In Klöstern und kleineren Pfarreien etwa Wiens war der Organist oft der einzige bestallte Musiker, der somit auch Sänger auszubilden und mit ihnen zu musizieren hatte. Vor allem zum Singen von Privatmessen gruppierte man sich vorzugsweise um eine Kleinorgel. Organisten waren sozial geachtet. Als Magister Conrad Paumann aus München im Jahre 1452 Wien besuchte, wurde er vom Stadtrat entlohnt und in der Fronleichnamsprozession auf einer Sänfte mitgetragen (» E. Städtisches Musikleben). Kein Musikstück in Cod. 5094 fällt aus dem Rahmen, wenn man sich als Entstehungskontext dieser Sammlung ein Wiener Organistenmilieu vorstellt.
[7] Klugseder-Rausch 2012, 117-119.
[8] Fallows 1987, 62-63, 239.
[9] Shields 2011, 135. O pia Maria, eine Kontrafakur nach Ju ich jag, die auch in » D-Mbs Cgm 716, fol. 104r-106r erhalten ist, sei nicht verwechselt mit dem geistlichen Lied O Maria pya des Mönchs, das im „Barant-Ton“ Peters von Sachs gedichtet ist (vgl. » Kap.Ton und Kontrafaktur: der Barantton).
[10] März 1999 (Lied Nr. W31); Strohm 2014, 17-19.
[11] Mündliche Information von Prof. Lorenz Welker.
[12] Zuletzt zu „Skak“, vgl. Fallows 1999, 345-346; Lewon 2018, 288.
[2] Vgl. Ristory 1985.
[3] Identifiziert durch Rumbold-Wright 2009, 100-103; Wright 2010. Tom R. Ward hatte die Identität der Kopistenhand B mit dem jüngsten Teil des St.-Emmeram-Codex zuerst bemerkt.
[4] Strohm 1966.
[5] Crane 1965, Göllner 1967.
[6] Ristory 1985 interpretiert die Niederschriften des Ave maris stella als Notationsübung; Klaus Aringer (» C. Die Überlieferung der Musik für Tasteninstrumente (1400–1520)) und Bernhold Schmid (»C. Organisten und Kopisten) vertiefen den notationstechnischen Aspekt.
[7] Klugseder-Rausch 2012, 117-119.
[8] Fallows 1987, 62-63, 239.
[9] Shields 2011, 135. O pia Maria, eine Kontrafakur nach Ju ich jag, die auch in » D-Mbs Cgm 716, fol. 104r-106r erhalten ist, sei nicht verwechselt mit dem geistlichen Lied O Maria pya des Mönchs, das im “Barant-Ton” Peters von Sachs gedichtet ist (vgl. » Kap.Ton und Kontrafaktur: der Barantton).
[10] März 1999 (Lied Nr. W31); Strohm 2014, 17-19.
[11] Mündliche Information von Prof. Lorenz Welker.
[12] Zuletzt zu „Skak“, vgl. Fallows 1999, 345-346; Lewon 2018, 288.
[13] Eine selektive Inhaltsübersicht mit einigen Texttranskriptionen aus dem Musikteil bei Zapke [2014].
[14] Der Rückentitel des Bandes von 1752 lautet Acta Concilii Constantiensis.
[15] Berthold gründete 1449 das Augustiner-Eremitenkloster Uttenweiler bei Biberach.
[16] Die Biographie Gunthers wird berichtet in Anonym, Catalogus priorum provincialium Ord. Erem. S. Augustini per provinciam, München: Riedlin, 1729, 12.
[17] Zu Judocus von Windsheim als Besitzer des Lochamer-Liederbuchs vgl. Salmen-Petzsch 1972.
[18] * - * : unsichere Lesungen. fidus: über der Zeile nachgetragen, vielleicht *quisque* ersetzend.
Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Strohm: “A-Wn, Cod. 5094: Souvenirs aus einem Wiener „Organistenmilieu“”, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/a-wn-cod-5094-souvenirs-aus-einem-wiener-organistenmilieu> (2018).