Die Handschrift Cod. 5094 und ihre Geschichte
Herkunft und Bestimmung der Musiksammlung in Cod. 5094 erklären sich erst aus ihrem Verhältnis zum Hauptteil der Handschrift selbst. Dieser umfasst die Blätter 1-147 und ist scheinbar noch heterogener als der Musikanhang. Er ist ein zibaldone (Sammelband, commonplace book) und enthält Dokumente und Texte vor allem kirchenrechtlicher Natur.[13]
Mit der Signatur „Jur. can. 49“ soll er bereits im 16. Jahrhundert dem Humanisten Wolfgang Lazius (1514-1565) an der Universität Wien gehört haben. Im Jahr 1752 wurde er zusammen mit dem Musikanhang für die Wiener Hofbibliothek eingebunden; auf dem Ledereinband sind u. a. die Jahreszahl und die Initialen des damaligen Hofbibliothekars Gerard van Swieten aufgestempelt: „17G[erard]. L.B.V[an]. S[wieten]. B[aron]52“.
Der Inhalt umfasst mindestens 40 verschiedene Manuskripteinheiten und viele Papiertypen und Kopistenhände; die original eingetragenen Datierungen reichen von 1411 bis 1463. Zum Inhalt gehören Verfügungen des Konstanzer Konzils (fol. 1-57),[14] kanonistische Texte und Traktate (z. B. von Thomas von Aquin, fol. 63-73), Epigramme (von Prosper Aquitanus und Aurelius Prudentius, fol. 74-94), Predigten (fol. 112-120), ein Verzeichnis aller Bischofssitze (fol. 134-135), „Metra de S. Monica“ (fol. 140r) sowie Briefe, päpstliche Bullen und Erlasse, Urkundenkopien und andere Dokumente (gelegentlich in deutscher Sprache).
Viele Briefe und Urkunden betreffen den Augustiner-Eremitenorden (Ordo Eremitarum S. Augustini), vor allem den Münchner Konvent; Verbindungen zu anderen Konventen, auch zum Minoritenorden, sind ebenfalls belegt, z. B. nach Nürnberg, 1448 (fol. 126r). Die Originalbriefe sind daran zu erkennen, dass sie gefaltet waren (vgl. »Abb. Papiere und Beschriftungen in A-Wn, Cod. 5094) und auf der Außenseite die Adresse steht. Der Regensburger Frater Berthold Puchhauser schreibt aus Wien an Mitglieder des Münchner Konvents, 1411 (fol. 128r), und wiederum aus Regensburg, 1421 (fol. 141r-142r). Georg von Schöntal, Provinzial der Augustinereremiten in Bayern und Österreich, schreibt aus Wien, betreffend einen Ordensbeitritt (fol. 122r). An den Münchner Konvent schreiben der Reichsritter Berthold von Stain zu Uttenweiler, 1456 (fol. 143r)[15], und der Bischof von Bamberg, 1460 (fol. 147r-v). Es gibt Korrespondenz mit einem jungen Augustinerbruder, Maurus Venetus, der in Padua studiert (fol. 145r-v). Mehrfach wird das Thema der Hl. Sakramente behandelt; einer dieser Texte, zur Eucharistie, ist von einem „Nicolaus Mewerl” kopiert (fol. 138v).
Wegen der Beziehungen des Codex zu den Münchner Augustinern haben Forscher angenommen, dass auch der Musikanhang von dorther stamme. Jedoch gibt es im Musikanhang keine derartigen Hinweise, sondern das Material deutet auf einen österreichischen Kontext. Aber auch manche Dokumente des Hauptteils betreffen Wien und die Habsburger. Einer von mehreren Briefen von Papst Pius II. (Enea Silvio Piccolomini), ehemals Sekretär König Friedrichs III., informiert die Universität Wien von seiner Papstwahl, 1458 (fol. 124r). Fol. 139 (Fragment) ist Kopie einer Missive von König Albrecht II. (ca. 1438). Die Kopie einer notariell beglaubigten Urkunde (Transsumpt), datiert auf den 8. Februar 1443 (fol. 136v), betrifft einen Streit zwischen den vier Wiener Bettelorden und dem Chormeister von St. Stephan. Dieses Dokument führt zum ursprünglichen Besitzer der Handschrift Cod. 5094 und erlaubt einen Hinweis darauf, wieso diese Münchner kanonistische Sammelhandschrift einen Wiener musikalischen Anhang besitzt.
[13] Eine selektive Inhaltsübersicht mit einigen Texttranskriptionen aus dem Musikteil bei Zapke [2014].
[14] Der Rückentitel des Bandes von 1752 lautet Acta Concilii Constantiensis.
[15] Berthold gründete 1449 das Augustiner-Eremitenkloster Uttenweiler bei Biberach.
[2] Vgl. Ristory 1985.
[3] Identifiziert durch Rumbold-Wright 2009, 100-103; Wright 2010. Tom R. Ward hatte die Identität der Kopistenhand B mit dem jüngsten Teil des St.-Emmeram-Codex zuerst bemerkt.
[4] Strohm 1966.
[5] Crane 1965, Göllner 1967.
[6] Ristory 1985 interpretiert die Niederschriften des Ave maris stella als Notationsübung; Klaus Aringer (» C. Die Überlieferung der Musik für Tasteninstrumente (1400–1520)) und Bernhold Schmid (»C. Organisten und Kopisten) vertiefen den notationstechnischen Aspekt.
[7] Klugseder-Rausch 2012, 117-119.
[8] Fallows 1987, 62-63, 239.
[9] Shields 2011, 135. O pia Maria, eine Kontrafakur nach Ju ich jag, die auch in » D-Mbs Cgm 716, fol. 104r-106r erhalten ist, sei nicht verwechselt mit dem geistlichen Lied O Maria pya des Mönchs, das im “Barant-Ton” Peters von Sachs gedichtet ist (vgl. » Kap.Ton und Kontrafaktur: der Barantton).
[10] März 1999 (Lied Nr. W31); Strohm 2014, 17-19.
[11] Mündliche Information von Prof. Lorenz Welker.
[12] Zuletzt zu „Skak“, vgl. Fallows 1999, 345-346; Lewon 2018, 288.
[13] Eine selektive Inhaltsübersicht mit einigen Texttranskriptionen aus dem Musikteil bei Zapke [2014].
[14] Der Rückentitel des Bandes von 1752 lautet Acta Concilii Constantiensis.
[15] Berthold gründete 1449 das Augustiner-Eremitenkloster Uttenweiler bei Biberach.
[16] Die Biographie Gunthers wird berichtet in Anonym, Catalogus priorum provincialium Ord. Erem. S. Augustini per provinciam, München: Riedlin, 1729, 12.
[17] Zu Judocus von Windsheim als Besitzer des Lochamer-Liederbuchs vgl. Salmen-Petzsch 1972.
[18] * - * : unsichere Lesungen. fidus: über der Zeile nachgetragen, vielleicht *quisque* ersetzend.
Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Strohm: “A-Wn, Cod. 5094: Souvenirs aus einem Wiener „Organistenmilieu“”, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/a-wn-cod-5094-souvenirs-aus-einem-wiener-organistenmilieu> (2018).