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Marien-, Gottes- und Herrscherlob in der Missa Salve diva parens

Birgit Lodes

Überträgt man die in Berichterstattung, im Schrifttum und in Bildern dokumentierte Parallelisierung von Jesus und Maximilian in ihrer Rolle als Retter der Welt und Friedensbringer auch auf Obrechts Missa Salve diva parens, so wird diese Marienmesse, die die Menschwerdung „des Lenkers des Olymp“ thematisiert, gleichzeitig eine Messe für den neuen König Maximilian.

Der neuhumanistische Text Salve diva parens ist bemerkenswerterweise nur in einigen der zahlreichen Quellen den Noten unterlegt – und zwar ausschließlich in Handschriften, die direkt (wie A-Wn Mus-Hs. 15495) oder indirekt (wie der relevante Faszikel in » D-LEu Ms. 1494)[38] mit Maximilian in Verbindung stehen.[39] Zudem ist der Text in diesen Quellen nicht nur als Incipit überliefert – wie als Verweis auf einen Cantus firmus üblich –, sondern  Silbe für Silbe dem Notentext vollständig unterlegt (» Abb. Kyrie Salve diva parens). Dies weist darauf hin, dass er in der Aufführung in der jeweiligen Stimme gleichzeitig zum Messentext erklang – mithin offenbar im maximilianischen Umfeld sehr wohl von Bedeutung war. Dieser Text, der durch sein gesuchtes Versmaß und das Aufgreifen nichtchristlicher Bilder über übliche Marientexte eindeutig hinausgeht, lässt sich als Beispiel der für Maximilian I. so charakteristischen Überblendungstechnik (bei Jan-Dirk Müller: „mehrfacher Sinn“[40]) verstehen. Denn man kann ihn nicht nur auf die Heilige Muttergottes Maria und die Fleischwerdung des Erlösers Jesus Christus und seine Herrschaft beziehen, sondern ebenso auf die Installation des neuen Königs Maximilian I. und seine erhoffte Rolle als Friedensbringer in den burgundischen Niederlanden (vgl. Kap. „Mehrfacher Sinn“ von Text und Musik der Missa Salve diva parens und Kap. „Mehrfacher Sinn“: Maria als Mutter des zukünftigen Herrschers).

In der künstlerischen Gestaltung der für Maximilian hergestellten Prachthandschrift » A-Wn Mus.Hs. 15495 treten die beiden ineinandergreifenden Ebenen besonders deutlich zutage (» Abb. Kyrie Salve diva parens). Die erste Assoziation beim Anblick der Illuminationen der eröffnenden Doppelseite und zugleich des Beginns der Aufzeichnung der Missa Salve diva parens (A-Wn Mus.Hs. 15495, fol. 1v–2r) ist sicherlich Weihnachten. Im oben links beim Discantus stehenden Bild schenkt Maria dem neuen Herrscher, Jesus, das Leben – und im Bild oben rechts beim Contratenor verehrt Maximilian (im echten Portrait dargestellt) kniend die Mutter Gottes. Über dem betenden Maximilian, am oberen Seitenrand, stehen zudem die Worte „O mater dei memento mei“.[41] Diese Worte, die in der Messe selbst nicht vertont sind, dienen oft als Schlusswendung für Mariengebete. Durch die Platzierung auf der individuell illuminierten Eröffnungsseite ersuchte Maximilian die Gottesmutter Maria ganz persönlich um sein Heil. (Auch ikonographisch sind der kniende Kaiser und die kniende Maria einander spiegelbildlich zugeordnet.)

Die zweite Interpretationsebene wird durch die Platzierung des kaiserlichen Wappens Maximilians I. als Tenor-Initiale transportiert: Hier wird Maximilian nicht als Person, sondern als Herrscher thematisiert. Und genau an dieser Stelle steht der Text „Salve diva parens“ (der vermeintlich mit einer cantus-firmus-Melodie verknüpft ist). Das heißt, Maximilian als (zur Entstehungszeit dieser Handschrift sogar kaiserlicher) Herrscher begrüßt die „Salve diva parens“, die göttliche Mutter, die ihm im übertragenen Sinne die Herrschaft geschenkt hat.[42]

Jede Aufführung dieser Messe fungierte sodann nicht nur als Lobpreis der Jungfrau Maria und ihres Sohnes Jesu als Herrscher des Erdkreises, sondern ebenso als Gebet für den neuen Herrscher Maximilian I. – als Person wie als König. Bezeichnenderweise wurde gerade im Spätmittelalter die mehrstimmige Musikpflege als repräsentatives, symbolisches Machtinstrument wahrgenommen – wovon der aufwendige Unterhalt von großen Kapellen und Skriptorien sowie erhaltene Medien wie die prachtvollen Alamire-Chorbücher ein eindrucksvolles Zeugnis ablegen.

Für seine lange Krönungsreise 1485/86 scheute Maximilian keine Kosten und Mühen (vgl. Kap. Jacob Obrechts Missa Salve diva parens und Erzherzog Maximilian). Angesichts der Tatsache, dass er die niederländischen Stände soeben erst auf seine Seite gebracht hatte, Krieg mit Frankreich herrschte, und in den Erblanden König Matthias Corvinus im Sommer 1485 sogar schon in die Wiener Hofburg eingezogen war, war die Pflege seines Ansehens und die Demonstration von Stärke und Macht besonders nötig. In diesen Kontext gehört die Wiedererrichtung der burgundischen Kapelle. Molinet berichtet sogar, dass die neu aufgerichtete Kapelle bei den deutschen Herrschern großen Eindruck machte.[43] In einer Situation, in der Maximilian als legitimer König und zukünftiger Kaiser repräsentativ inszeniert werden sollte, hatte die Kapelle also eine geradezu staatstragende Funktion.

Mit dem vorgeschlagenen Kontext der Krönungsfeierlichkeiten ist eine neuartige Deutungsperspektive für Obrechts Missa Salve diva parens eröffnet. Für welche Messfeier genau Obrecht die Messe komponiert hat, kann und muss dabei offen bleiben. Besonders naheliegend wären zwei Anlässe: Sie könnte für die Krönungsfeierlichkeiten im Mariendom zu Aachen gedacht gewesen sein, wo qua Ort die Symbolik der berühmten Marienkirche mit der der traditionellen Krönungskirche verschmolz. Obrecht selbst war aber höchstwahrscheinlich bei dieser Feierlichkeit nicht zugegen – es könnte allenfalls vorab bereits ein Auftrag an ihn ergangen sein. Ebenso plausibel wäre es, dass er die Messe während der sich unmittelbar an die Krönung anschließenden Niederlandreise von Maximilian I. und seinem Vater Friedrich III. komponierte, und zwar für deren Aufenthalt in der Stadt Brügge (vgl. Kap. Kaiser Friedrich III. und Erzherzog Maximilian 1485/86: Wiedersehen – Königswahl – Reise in die Niederlande), wo Obrecht seit 13. Oktober 1485 als Succentor an der Kirche St. Donatian tätig war.

Musik im Gottesdienst fungierte im Spätmittelalter häufig nicht allein als Gottes-, sondern gleichzeitig auch als Herrscherlob. Beide Funktionen regten die Komponisten der Zeit gleichermaßen zur Schaffung herausragender Kunstwerke an. Insofern ist kein stilistischer Unterschied zwischen Musik zum Gotteslob und Musik zum Herrscherlob zu erwarten – und ein solcher findet sich in den zeitgenössischen Kompositionen auch nicht. Dies ist besonders deutlich, wenn im vertonten Text beide Sphären explizit benannt werden, wie etwa in Heinrich Isaacs Motette Virgo prudentissima (» D. Isaac und Maximilians Zeremonien, Kap. Komponiertes Herrscherlob: Isaacs Motette Optime divino … pastor) oder in Benedictus de Opitiis’ Motette Summe laudis o Maria (» D. Musikalische Huldigungsgeschenke, Kap. Gedrucktes mehrstimmiges Herrscher- und Marienlob). Ein weiteres Beispiel dafür stellt Obrechts weniger bekannte Komposition Omnis spiritus laudet dar,[44] die eine Reihe von Akklamationen und Gebetssätzen zwei- bis vierstimmig in Musik fasst und in der Art der Vertonung unverändert bleibt, egal ob von Gott Vater und Sohn, dem weltlichen König oder Maria die Rede ist.[45] Eine Verbindung mit Maximilians Krönungsreise in die Niederlande im Sommer 1486 vermute ich im Übrigen auch bei dieser Komposition.

Wichtiger als die Suche nach konkreten Entstehungsanlässen scheint es, bei diesem Repertoire danach zu fragen, in welchen Kontexten, mit welchen Zielen und welchen Hörerwartungen das jeweilige Repertoire entstand. Der Versuch, auch als heutiger Hörer weltliche und geistliche Sphären wie im Mittelalter üblich zusammenzudenken, kann dabei ganz neue Wahrnehmungsdimensionen eröffnen.

[38] Im sogenannten Apel-Codex (» D-LEu Ms. 1494) scheint – vermittelt über das Hofrepertoire Friedrichs des Weisen, der spätestens ab 1490 in engstem Kontakt zu Maximilian stand – immer wieder Repertoire vom Hof Maximilians aufgenommen worden zu sein; dazu Lodes 2002, 256–258.

[39] Der Text könnte auch in der Handschrift » A-LIb Hs. 529 („Linzer Fragmente“) mit angegeben gewesen sein, nur ist hier zu wenig Musik erhalten.

[40] Zum „mehrfachen Sinn“ in spätmittelalterlicher Dichtung vgl. Wehrli 1984, bes. 236–270; Müller 1982, 146–148, auch 124–129.

[41] Die einzig weitere mir bekannte zeitgenössische Musikhandschrift, an deren Spitze die Worte „[O Mater dei] memento mei“ stehen, ist die ebenfalls in Petrus Alamires Werkstatt gefertigte Prachthandschrift B-Br 228. Dort sind die Worte der betenden Erzherzogin Margarethe, Maximilians Tochter, in den Mund gelegt; vgl. die Abbildung bei Blackburn 1997, 596 f., und Blackburn 1999, 188.

[42] Dazu u. a. Borghetti 2015Borghetti 2008, bes. 208–214.

[43] „[…] lesquelz, ensamble unis, estoffoyent une très bonne chapelle dont il fut grandement honouré et prisiet des princes d’Alemaigne.“ (Molinet 1935–1937,  Bd. 1,  470).

[44] Edition in Maas 1996, 43–47.

[45] In den Textabschnitten wird zunächst der Herr um Vergebung gebeten und dem allmächtigen König gedankt. Sodann wird für „unseren (weltlichen) König“ („Pro rege nostro“) gebetet, dass der Herr ihn erhalte und er nicht in die Hände der Feinde gerate, und dass die Seelen der Gläubigen in Frieden ruhen mögen. Nach einem gesprochenen „Vater unser“ wird abschließend musikalisch zur Jungfrau Maria gebetet, die den Sohn des ewigen Vaters ausgetragen hat. Die vertonten Bitten an Gott, für den König und für Maria werden jeweils mit einem vierstimmig gesetzten „Amen“ abgeschlossen. Die Musik folgt in ihrer rhythmischen Gestaltung (in den zwei- wie in den vierstimmigen Abschnitten) genau der Textdeklamation (dazu Edwards 2011, 62 f.), die weitgehend homorhythmische, schlichte Satzweise ändert sich das gesamte Stück hindurch nicht, bleibt also für die drei Inhaltsbereiche gleich.