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Traditionsbildung durch Übersetzung

Reinhard Strohm

Übersetzungen erleichterten die Verbreitung und Anpassung fremder Liedrepertoires. Deutsche Übersetzungen geistlicher lateinischer Lieder gab es seit dem 9. Jahrhundert; seit 1400 wurden sie besonders zahlreich. Bald erschienen in Zentraleuropa auch Übersetzungen lateinischer Cantionen, Hymnen, Sequenzen u. a. ins Niederländische, Tschechische, Ungarische und Polnische. Die Abwandlungen der Texte im Übersetzungsprozess – die für uns gleichsam der Hauptgegenstand der kulturellen Mitteilung sind – bestanden nicht nur in formaler, sondern auch in textlich-inhaltlicher Anpassung (z. B. an theologisch bevorzugte Aussagen). Wenn bei Textänderungen die Melodie beibehalten werden sollte – was bedeutete, dass man auch die neue Fassung singen wollte –, musste meist durch Anpassungen auch der Melodie eine neue Balance zwischen Text und Musik gefunden werden.

Die Übersetzungen geistlicher lateinischer Lieder des Mönchs von Salzburg (» B. Geistliche Lieder des Mönchs von Salzburg) fanden fast ebenso weite Verbreitung wie seine originalen deutschen Lieddichtungen. Sie dürften auch dem Autor wichtig gewesen sein. Unter seinen 49 überlieferten geistlichen Liedern sind nicht weniger als 25 Übersetzungen aus dem Lateinischen.[13] Diese Übersetzungen gehen manchmal in freiere Paraphrase über, je nach den Ansprüchen der Vorlage und der Bestimmung für Sänger, Hörer und Leser. Es fällt auf, dass unter den 57 weltlichen Liedern des Mönchs kein einziges bisher als Übersetzung identifiziert wurde. Es ist lediglich Ju ich jag (W 31) die Kontrafaktur einer französischen Komposition, wie erst neuerdings bekannt wurde.[14] Wenige Lieder des Mönchs scheinen auf „Töne“ (vgl. Kap. Ton und Kontrafaktur: der Barantton) bestimmter Vorgänger gedichtet; doch sind seine eigenen Lieder in den Quellen mehrmals als „Ton“ bezeichnet und diese Töne wurden später Grundlage anderer Dichtungen.[15]

Liedübersetzer waren – neben zahlreichen Anonymi – auch die unmittelbaren Nachfolger des Mönchs, Oswald von Wolkenstein (mit drei geistlichen Liedern) und Heinrich Laufenberg (mit 18 geistlichen Liedern).[16] Laufenberg wählte sechsmal dieselbe lateinische Vorlage wie der Mönch, Oswald zweimal. Dieser Zusammenhang kann verschieden interpretiert werden: Kannten Laufenberg bzw. Oswald einige Übersetzungen des Mönchs und versuchten diese zu imitieren oder zu übertreffen, oder kannten sie sie nicht, wählten aber zufällig dieselben, weil damals beliebtesten Texte aus? Ersteres ist in mehreren Fällen wahrscheinlich, u. a. weil die Quellen die verschiedenen Übersetzungen manchmal nebeneinander überliefern – doch ist damit durchaus vereinbar, dass die Gegenstände solcher Imitationen eben die beliebtesten Gesänge waren. In der Tat wählten auch die zahlreichen anonymen Übersetzungen immer wieder dieselben Originaltexte aus.[17] Zwei Sequenzen, Mittit ad virginem (für Weihnachten) und Mundi renovatio (für Ostern) wurden von allen drei Dichtern übersetzt; Günther Bärnthaler bietet einen „exemplarischen Vergleich“ der drei Texte sowie eine Betrachtung der Funktionszusammenhänge im Musikleben.[18] Hier erscheinen der Mönch und Oswald als Künstler innerhalb einer „Adelsgesellschaft“, die anspruchsvolle, getreue Nachbildungen der lateinischen Originale als Herausforderung für ihre Bildung akzeptierte. Laufenberg dagegen, als Weltpriester im Dom von Freiburg (Breisgau), habe aus seelsorgerlichen Gründen keine „sprachlichen Rezeptionsbarrieren“ aufbauen wollen und deshalb die Texte einfacher gestaltet. Hier stehe „zweifellos der Inhalt eines Textes über dessen formaler Gestaltung“.[19]

Diese Beobachtungen zum sozialen Ort der Liedpflege könnten durch die Interpretation der Melodien erweitert werden. Es sei an die von Johannes Janota behandelte Frage der liturgischen Verwendung erinnert: In fast keinem Fall können diese Übersetzungen für Aufführungen innerhalb des gottesdienstlichen Ritus bestimmt gewesen sein; auch die Art der Quellenüberlieferung spricht dagegen.[20] Sammlungen wie die Corpushandschriften des Mönchs, die die Melodien aufzeichnen (» B. Geistliche Lieder des Mönchs von Salzburg), waren für gebildete Leser und für allenfalls häusliches Singen gedacht.

Im Falle der Sequenz Mundi renovatio sind die Übersetzungen des Mönchs (G 28) und Oswalds (Kl 129) beide mit ihrer Melodie überliefert und bisweilen (z. B. in » D-Mbs Cgm 1115, fol. 31r–32v) sogar nacheinander aufgezeichnet.[21] Ob Laufenbergs Text mit Melodie versehen war, ist nicht bekannt.[22] Hier sei als knapp bemessenes Beispiel die Eingangsstrophe der Sequenz zum Vergleich wiedergegeben:[23]

 

Die Synopse der Liedtexte legt nahe, dass Laufenberg sehr wahrscheinlich, Oswald vielleicht die Fassung des Mönchs kannte (zu der es in den Quellen verschiedene Varianten gibt). Die überraschenden inhaltlichen Abweichungen vom Lateinischen im Text des Mönchs (Versikel 5–7) werden jedoch von den anderen beiden Dichtern nicht mitvollzogen. Oswald bleibt inhaltlich am nächsten an der Vorlage. Er behält auch das Reimschema bei (um den Preis eines zweimaligen „creatur“, was allerdings ein Überlieferungsfehler sein kann). Jedoch ist seine Haltung gegenüber der Melodie eine andere: Während das strikt abtaktige rhythmische Schema der Vorlage mithilfe weniger zusätzlicher Senkungssilben beim Mönch und bei Laufenberg bestehen bleibt, setzt Oswald in den meisten Versikeln Auftakte hinzu, die die rhythmische Skandierung grundlegend verändern. Nur ein einziger Versikel (6) hat noch sieben Silben. Dass diese Fassung in Versikel 4 als Schlusston c beibehält, während der Mönch auf d schließt, kann Zufall sein. Für Sänger, die an das lateinische Original gewöhnt waren, kann es schwierig gewesen sein, die relative Irregularität der Oswaldschen Fassung zu kontrollieren. Hingegen konnten sie Laufenbergs Text zur auswendig erinnerten Melodie von Mundi renovatio gut singen. Es scheint daher, dass Oswald nicht für Kirchensänger gedichtet hat.

[13] Grundlegend Bärnthaler 1983, mit Tabelle der Übersetzungen auf S. 309–312. Ich ordne G 19, Maidleich pluem, eher den Kontrafakten zu.

[14] März 1999.

[15] Wachinger 1989, Anhang III, 159–197, Lieder in Tönen des Mönchs von Salzburg. Zu Einzelheiten vgl. auch März 1999, Kommentare S. 367–505.

[16] Tabellen bei Bärnthaler 1983, 312 ff.

[17] Wachinger 1989, Anhang II, 145–158, behandelt zwei späte Übertragungen der Sequenz Ave praeclara im Kontext der Mönch-Rezeption.

[18] Bärnthaler 1983, 266–274. Zu diesen Übersetzungen und ihrer Quellenüberlieferung vgl. auch Straub 1996/1997.

[19] Bärnthaler 1983, 272. Gegensätzliche Auffassungen von der sprachlichen Rolle des Übersetzens aus dem Lateinischen im Wien des 15. Jahrhunderts beschreibt Bärnthaler auf S. 26 ff.

[20] Janota 1968, 84–90.

[21] Die Zuschreibung der zweiten Übersetzung an Oswald geht aus dem Inhaltsverzeichnis von D-Mbs Cgm 715, fol. 3r , hervor: “Ein ander mundi renovacio des Wolckenstainer“ (» Abb. Register geistlicher Lieder).

[22] Wachinger 1979, 358–361.

[23] Noten und Text für G 28 und Kl 129 nach D-Mbs Cgm 1115, fol. 31r–32v, sowie Waechter/Spechtler 2004, 137 f. (für Latein und G 28); Laufenbergs Text nach Wackernagel 1867, 437.