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Geistliche und weltliche Lieder im Barantton

Reinhard Strohm

Das von zwei namentlich benannten Dichtern geschaffene Paar von Marienliedern (Maria gnuchtig und O Maria pya), das um 1380–1400 datierbar sein dürfte, war weder das erste noch das letzte Vorkommen des Baranttons. Bald nach der Entstehung von O Maria pya (vielleicht gegen 1408) verfasste Oswald von Wolkenstein sein Frühlingslied Vil liber grüsse, süsse (Kl 42) mit einer neuen Melodie, aber auf dasselbe Reimschema.[33] Oswalds einstimmige Lieder bieten manche Beispiele für das Dichten in Tönen mit neuerfundenen Melodien, während seine mehrstimmigen Lieder öfter Kontrafakte sind (» B. Oswalds Lieder). Unabhängig davon wurde der Barantton von den Meistersingern bis ins 17. Jahrhundert für geistliche Dichtungen verwendet.[34] Gisela Kornrumpf stellte andererseits fest, dass der Ton schon um 1340 in der lateinischen Cantio Digna laude, gaude einer mitteldeutschen Sammlung vorhanden war.[35] Von dieser Cantio, ebenfalls einem Marienlob, wurden seit dem 15. Jahrhundert andere geistliche Lieder abgeleitet, immer auf denselben Ton.[36]

Bereits 1976 hat Walter Röll ein zusätzliches Liedpaar im Barantton beschrieben, das weltlich ist, jedoch ebenso wie die Marienlieder aus einem lateinischen und einem deutschen Lied besteht: Iam en trena und Man siht läwber. Röll vermutete, dass diese beiden Herbstlieder von O maria pya abgeleitet seien.[37] Ihre Überlieferung setzt erst kurz nach 1400 mit der Sterzinger Miszellaneenhandschrift (» I-VIP o. Sign., fol. 35v–36r) ein, wo die Melodie mit dem lateinischen Text Iam en trena unterlegt ist. Der Melodieniederschrift, die über zwei Seiten ausgebreitet ist, folgen dann der deutsche Text Man siht läwber und die restlichen lateinischen Strophen (» Abb. Iam en trena / Man siht läwber).

 

Sowohl der lateinische als auch der deutsche Text mit der Melodie wurden auch von dem Dichter Heinrich Laufenberg aufgezeichnet. Seine Straßburger Handschrift (um 1430) verbrannte 1870, doch gibt es zwei zuvor gemachte Abschriften; außerdem existiert eine Prager Textquelle des 15. Jahrhunderts.[38]

[33] Vorhanden in der Oswald-Handschrift A (ca. 1425); in Handschrift B (ca. 1432) in Melodie und Rhythmus umgearbeitet. Edition beider Fassungen in Schönmetzler 1979, 115 f., 309 f., 357. Beschreibung in Röll 1976, 87–101.

[34] Röll 1976, 103–119.

[35] Kornrumpf 1979, 16 ff. Textedition von Digna laude, gaude in Dreves 1886, 59 f. (Nr. 18). Es stellt sich die Frage, warum nicht auch das Marienlied O Maria pya des Mönchs als „Cantio“ bezeichnet werden sollte, wenn nach Kornrumpf Digna laude, gaude so zu bezeichnen ist (» A. Weihnachtsgesänge zu frühesten Anwendungen des Gattungsnamens).

[36] Edition mehrerer Varianten in Brunner/Hartmann 2010, 307–311.

[37] Röll 1976, 63–85, mit wertvollen Analysen. Die Verallgemeinerung, dass „deutsche Nachbildungen lateinischer Lieder wohl die Regel sind und das Umgekehrte die Ausnahme darstellt“ (S. 64), ist freilich überzogen.

[38] Röll 1976, 63–69, wo die Sterzinger Handschrift noch als verschollen gilt. Zu den bei Laufenberg überlieferten Texten siehe Wackernagel 1867, 566 f.