Traditionsbildung durch Anklang
Wenn Lieder des 13. Jahrhunderts noch nach 1400 überliefert wurden, blieb allzu oft die für unsere Zwecke nachteilige Eigenschaft der früheren Melodieaufzeichnungen erhalten, dass sie den Rhythmus fast nie und die genauen Tonhöhen selten fixierten. Wenn diese Aufzeichnungen Sinn gehabt haben sollen, dann müssten noch nach 1400 Sänger gelebt haben, die Tonhöhen und Rhythmus sehr alter Lieder beherrschten und mündlich überliefern konnten. Wir wissen aber nicht, wie genau die Sänger einen Sachverhalt der Überlieferung reproduzieren wollten, wenn er jahrhundertelang nicht schriftlich fixiert worden war, z. B. den Rhythmus. Neu entstandene Lieder konnten jedenfalls ältere aus dem Gedächtnis reflektieren, ohne dass eine bewusste Ableitung (wie z. B. Übersetzung oder Kontrafaktur) angestrebt worden wäre. Wir sollten dies einen „Anklang“ nennen.
Eine lateinische Pastourelle der Carmina Burana (CB Nr. 90), deren auffallend terzenfreudige Melodie in einer bayrischen Sammlung des 14. Jahrhunderts (» D-Mbs Clm 5539) in zweistimmiger Bearbeitung in Liniennotation überliefert ist,[24] könnte die Anregung zu einer Cantio auf St. Dorothea gegeben haben, die um 1380–1390 im Innsbrucker Codex » A-Iu Cod. 457 (fol. 84v) aufgezeichnet wurde (zu beiden Quellen vgl. » A. Klösterliche Mehrstimmigkeit. Arten und Kontexte). Das ältere, weltliche Lied Exiit diluculo ist ein Fragment (es hat nur drei Strophen): Wahrscheinlich endete die Geschichte von der jungen Hirtin, die ihre Schäflein am Morgen auf die Weide führt, mit Intimitäten.
In den folgenden Notenbeispielen wird die original unrhythmisierte Melodie des Liedes sowohl im geraden Takt (“4/4”) als auch im Dreiertakt (“6/8”) dargestellt.
Das neuere, geistliche Lied Par concentu rogito drückt die enthusiastische Verehrung einer klerikalen Gemeinschaft für eine jungfräuliche Heilige aus. Auch für dieses Lied wird neben der Abbildung der Originalhandschrift sowohl eine geradtaktige als auch eine dreiertaktige Transkription angeboten.
Der Zusammenhang zwischen diesen beiden Liedern besteht zunächst im Wortrhythmus (z. B. in den proparoxytonen Zeilenschlüssen: diluculo, baculo bzw. rogito, cogito) und erscheint eher „ohrenfällig“ als durch Schrift vermittelt. Für den geistlichen Text ist die Form und Reimanordnung des Vorbildes (Vagantenstrophen mit Zäsurreim) weiter ausgebaut worden. Doch wird auch in der Melodie die deklamierende Syllabik und der durtonale Klang (5.und 6. Modus) des weltlichen Liedchens festgehalten, wie sie für klösterliche Gesänge zur Heiligenverehrung untypisch waren. Freilich war in der zweistimmigen Aufzeichnung oder Bearbeitung des Vorlageliedes vor allem der Schluss wohl stark verändert worden. Der nicht überlieferte Rhythmus ist in unseren Übertragungen in geradtaktiger und ungeradtaktiger Fassung wiedergegeben. Es ist gut möglich, dass solche Melodien an verschiedenen Orten in verschiedener Rhythmisierung gesungen wurden. Wenn jedoch jemand das geistliche Lied vom weltlichen aus dem Gedächtnis durch Anklang abgeleitet hat, dürfte er den ihm vertrauten Rhythmus der Vorlage beibehalten haben.
[24] Göllner 1993, 127.
[1] Dante Alighieri betont in De vulgari eloquentia (ca. 1305), dass die Kanzone als Gedicht allein wertvoll sei, ob sie nun mit Melodie vorgetragen werde oder nicht. Er versichert, kein Instrumentalist könne seine Melodie eine Kanzone, d. h. ein Lied, nennen, außer wenn sie einem Gedicht „vermählt“ sei (nupta est). (Alighieri 1946, 94 f.) Vgl. auch Strohm 2011, 380.
[2] Eustache Deschamps (1392) bezeugt den mündlichen, aber textlosen Vortrag einer Melodie (Haug 2004, 63). Zu textloser Niederschrift vgl. auch » B. SL Kontrafaktur.
[3] Hier sei “Lied” im engeren Sinn verstanden, z. B. im 14. Jahrhundert als lyrischer Gesang mit Refrain, im Gegensatz zu refrainlosem und eher didaktischem „Spruchsang“ oder „Meistersang“ (vgl. Brunner/Hartmann 2010) und unstrophigen Formen wie Leich und Sequenz. Zu Rufen und Leisen vgl. » B. Geistliches Lied.
[4] Manche Gattungs- und Repertoiregrenzen sind freilich erst von der modernen Forschung gezogen worden, wie z. B. zwischen „Lied“ und „Chanson“: vgl. Kirnbauer 2011.
[5] Neue Ansätze bietet Lewon 2016.
[8] Zur eigenständigen Mehrstimmigkeit vgl. Welker 1984/1985, Welker 1990.
[9] Schwindt 2004 stellt die Abhängigkeit der deutschen Liederdichter von der westeuropäischen Kultur der formes fixes dar.
[10] Vgl. auch [Lewon, Marc:] Musikleben-Supplement: News and by-products from the research project “Musical Life of the late Middle Ages in the Austrian Region (1340–1520)”, URL: http://musikleben.wordpress.com/ [02.05.2016]. Der Nachweis, seit wann sich diese Niederschriften in Österreich befanden und ob sie hier musikalisch verwendet wurden, ist oft schwierig.
[13] Grundlegend Bärnthaler 1983, mit Tabelle der Übersetzungen auf S. 309–312. Ich ordne G 19, Maidleich pluem, eher den Kontrafakten zu.
[15] Wachinger 1989, Anhang III, 159–197, Lieder in Tönen des Mönchs von Salzburg. Zu Einzelheiten vgl. auch März 1999, Kommentare S. 367–505.
[16] Tabellen bei Bärnthaler 1983, 312 ff.
[17] Wachinger 1989, Anhang II, 145–158, behandelt zwei späte Übertragungen der Sequenz Ave praeclara im Kontext der Mönch-Rezeption.
[18] Bärnthaler 1983, 266–274. Zu diesen Übersetzungen und ihrer Quellenüberlieferung vgl. auch Straub 1996/1997.
[19] Bärnthaler 1983, 272. Gegensätzliche Auffassungen von der sprachlichen Rolle des Übersetzens aus dem Lateinischen im Wien des 15. Jahrhunderts beschreibt Bärnthaler auf S. 26 ff.
[20] Janota 1968, 84–90.
[21] Die Zuschreibung der zweiten Übersetzung an Oswald geht aus dem Inhaltsverzeichnis von D-Mbs Cgm 715, fol. 3r , hervor: “Ein ander mundi renovacio des Wolckenstainer“ (» Abb. Register geistlicher Lieder).
[22] Wachinger 1979, 358–361.
[23] Noten und Text für G 28 und Kl 129 nach D-Mbs Cgm 1115, fol. 31r–32v, sowie Waechter/Spechtler 2004, 137 f. (für Latein und G 28); Laufenbergs Text nach Wackernagel 1867, 437.
[24] Göllner 1993, 127.
[25] Röll 1976; Kornrumpf 1979. Röll 1976, 121–141, erläutert den Begriff „Barantton“ oder „parat-rey“ (d. h. „Parat“-Tanzweise) als einen Kunstausdruck des frühen Meistersangs, der wahrscheinlich mit den Begriffen „Kunststück“ und „Fertigkeit“ zusammenhängt.
[26] Vgl. die grundlegende Studie: Brunner 2013.
[27] Edition zusammen mit den anderen Vertretern dieses Tons in Brunner/Hartmann 2010, 307–311.
[28] Zitiert nach Wachinger 1989, 120.
[29] Spechtler 1972, Lied G 9. Edition beider Gedichte mit derselben Melodie: Waechter/Spechtler 2004, 75–78. Das Lied ist nicht in den sogenannten Corpushandschriften des Mönchs von Salzburg erhalten; zu diesen vgl. Wachinger 1989, 77–117.
[30] Wachinger 1989, 128, ordnet in der Tat O Maria pya den “Meisterliedern” des Mönchs zu.
[31] Röll 1976; Kornrumpf 1979, 19.
[32] Jedes der beiden Lieder hat drei Strophen, von denen hier nur die erste mitgeteilt ist. Edition der vollständigen Texte bei Röll 1976, 30–35 bzw. 55 f.
[33] Vorhanden in der Oswald-Handschrift A (ca. 1425); in Handschrift B (ca. 1432) in Melodie und Rhythmus umgearbeitet. Edition beider Fassungen in Schönmetzler 1979, 115 f., 309 f., 357. Beschreibung in Röll 1976, 87–101.
[35] Kornrumpf 1979, 16 ff. Textedition von Digna laude, gaude in Dreves 1886, 59 f. (Nr. 18). Es stellt sich die Frage, warum nicht auch das Marienlied O Maria pya des Mönchs als „Cantio“ bezeichnet werden sollte, wenn nach Kornrumpf Digna laude, gaude so zu bezeichnen ist (» A. Weihnachtsgesänge zu frühesten Anwendungen des Gattungsnamens).
[36] Edition mehrerer Varianten in Brunner/Hartmann 2010, 307–311.
[37] Röll 1976, 63–85, mit wertvollen Analysen. Die Verallgemeinerung, dass „deutsche Nachbildungen lateinischer Lieder wohl die Regel sind und das Umgekehrte die Ausnahme darstellt“ (S. 64), ist freilich überzogen.
[38] Röll 1976, 63–69, wo die Sterzinger Handschrift noch als verschollen gilt. Zu den bei Laufenberg überlieferten Texten siehe Wackernagel 1867, 566 f.
[39] Brunner/Hartmann 2010, 307–311.
[40] Die hier angebotenen Übersetzungsversuche respektieren den genauen Wortlaut der Sterzinger Handschrift; emendiert wurde nur morem redit, cedit ros zu morem cedit, redit ros. Andere Übersetzungsversuche beruhen auf emendierten Textfassungen unter Heranziehung mehrerer Quellen.
[41] Der Terzschritt g–h–g darf schon wegen seiner Entsprechung zu c–e-–c nicht zur kleinen Terz g–b–g vermindert werden; freilich ist an wenigen anderen Stellen fa (b) denkbar.
[42] Die Sonderstellung der Sterzinger Melodiefassung wurde in der früheren Literatur kaum beachtet, da keine zuverlässigen Transkriptionen zur Verfügung standen.
[43] Eine moderne Übertragung mit längeren und kürzeren Notenwerten, allerdings z. T. an den falschen Stellen und melodisch unrichtig, versuchen Moser/Müller-Blattau 1968, 276 f.
[44] In der Handschrift kommen die hohlen Formen insgesamt nur in vier Liedern vor. Zur Erklärung vgl. auch Röll 1976, 166 mit Anm., doch sollte zwischen der allgemeinen „weißen Notation“, die sich in der Region erst gegen 1435 durchsetzte und hier noch nicht wirklich vorliegt, und der zu Mensurzwecken ausgehöhlten Notenform deutlicher unterschieden werden.
[45] Die von böhmischer Notation beeinflussten Sterzinger Schreiber verwenden Longa-Hälse insgesamt sehr selten, wohl aus entsprechenden Gründen. Ausnahmsweise kommen nach unten gezogene Longa-Hälse für verlängerte Schlussnoten vor.
[47] Dronke 1968, 416.
[48] Kornrumpf 1989, Sp. 453.
[49] Dronke 1968, 415; dass der deutsche Text nicht als Lied alleinstehen könne, leuchtet mir nicht ein.
[50] Bernt 1983, 840 f.; vgl. auch » B. SL Kontrafaktur.