Inhalt und Genealogie der Herbstlieder
Die beiden dreistrophigen Lieder Iam en trena und Man siht läwber gehören auf dieselbe Weise zusammen wie die beiden Marienlieder Maria gnuchtig und O Maria pya: Das eine ist eine Kontrafaktur des anderen. Nur wissen wir im Fall der weltlichen Lieder bisher nicht, ob das lateinische Lied eine Kontrafaktur des deutschen ist oder umgekehrt. Gemeinsames Thema ist das Verhältnis zwischen Jahreszeit und Liebe, hier eröffnet durch einen „Herbsteingang“ bzw. „Wintereingang“, wie er im Minnesang gebräuchlich war (Neidharts Dichtungen sind in Sommer- und Winterlieder gruppiert). Das Eintreten der kalten Jahreszeit wird emphatisch beklagt; in Iam en trena bewirkt die anthropomorphe Darstellung der Erde (tellus) und ihrer Gefühle zusätzliche Emotionalität. In der zweiten und dritten Strophe wenden sich beide Gedichte der Liebe zu. In Man siht läwber wirbt der Sprecher um eine bestimmte Frau, die er ab der zweiten Strophe unmittelbar anspricht: „Roter mund, tu mir kund“ (usw.) – obwohl er trotz poetischer Bemühung vielleicht nicht erhört wird. Der abschließende envoi oder „Geleit“ wendet sich ein letztes Mal hoffnungsvoll an die Adressatin: „frow, von dir so sing ich disen reyen“, womit auch die Gattung des Gedichts als Tanzlied bestimmt ist. Das lateinische Lied erzählt eher von erfolgreichem Werben, preist die Vorzüge der Geliebten und das gemeinsame Feiern des neuen Jahrs. Der envoi lautet: „carmen hoc tibi hii qui sunt tui serui contenteris istis tonis“, etwa „Dir dieses Lied, diese deine Diener, sei zufriedengestellt mit diesen Tönen“.[46] Merkwürdigerweise geht dieser direkten Anrede keine frühere voraus, sondern die Frau erscheint vorher nur in der dritten Person, wie wenn der Sprecher das Erlebnis Dritten erzählte. Die Tatsache der Kontrafaktur ist trotz solcher feinen Unterschiede gesichert, d.h. dem Autor des einen Liedes war das andere wörtlich bekannt, er dichtete nicht nur über ein gemeinsames Thema.
Bei der Formel „Roter mund, tu mir kund“ dürften Kenner eher an Walther von der Vogelweide denken als ans 15. Jahrhundert. Die von Röll (1976) vorgeschlagene Genealogie dieser Lieder im Barantton, die die Herbstlieder zeitlich an die Marienlieder anschließt und im Umkreis des Salzburger Hofes situiert, ist nicht nur durch Kornrumpfs Entdeckung der viel älteren Mariencantio Digna laude ins Wanken geraten, sondern wirft überhaupt die Frage nach literarisch-musikalischer Traditionsbildung auf. Dass, wie hier gezeigt wurde, die Fassung der Herbstlieder in der Sterzinger Miszellaneenhandschrift bereits bearbeitet und z. T. fehlerhaft verändert ist, will nicht recht zu ihrer Entstehung in der unmittelbaren Nachfolge der „Salzburger“ Marienlieder passen. Der Abstand ist größer. Iam en trena, ohnehin schon eine literarische Kuriosität, wäre fast unmöglich als Ableitung vom demütigen O Maria pya des Mönchs. Und die klassische Bildung, mit der der anonyme Dichter durch Erwähnung der Napeen (Waldnymphen, daher napealis) und des griechischen Tempe glänzt, situiert seinen sozialen Ort eher im weltlichen als im klösterlichen Bereich. Schon Peter Dronke hat Iam en trena, dessen außerordentliche Artifizialität er betonte, mit den Carmina Burana zusammengebracht.[47] Für das reimhäufende Man siht läwber nannte Kornrumpf den Einfluss des schwäbischen Minnesängers Gottfried von Neifen (13. Jahrhundert):[48] Sie erklärte das Marienlieder-Paar als übertrumpfende Imitation des weltlichen Paars; die Hauptrichtung der Kontrafakturprozesse des 14. Jahrhunderts ging vom Weltlichen zum Geistlichen. Zugegeben, wenn Rivalität in der Traditionsbildung eine Rolle spielte, ließe sich auch das Gegenteil konstruieren: Komponierte jemand – in Südtirol? – die Herbstlieder in bewusst traditionellen Idiomen, um Peter von Sachs und den Mönch zu übertreffen? Es scheint jedoch viel einfacher, die Herbstlieder nicht als Imitationen, sondern als tatsächliche Überreste der Liedkunst des 13. Jahrhunderts zu betrachten, zumal sie als solche in der Sterzinger Sammlung neben Neidhart und dem Marner gut aufgehoben sind.
In jedem Fall: Nicht nur überbietet ein Liedpaar das andere, dasselbe Verhältnis besteht auch zwischen den einzelnen Liedern jedes Paares. Dronke sah Iam en trena als das Original und Man siht läwber als die Imitation an.[49] Doch gerade die von ihm zitierten Carmina Burana bezeugen eher das Gegenteil: Es gibt hier lateinische Gedichte „auf die Melodie von“ bekannten deutschen Minneliedern. Denn im zweiten Teil jener Sammlung reproduzieren mehrere lateinische Gedichte Versmaß und Strophenform der ihnen beigesellten und mit Notation versehenen deutschen Liedstrophen deshalb, weil man sie zu derselben, bereits ohrenfällig bekannten, Melodie singen wollte.[50] So übernahm wohl Iam en trena Ton und Melodie von Man siht läwber in derselben Art von Traditionsbildung, wie später der Mönch auf die Herausforderung Peters von Sachs reagiert hat.
[46] Emendation tonis statt donis nach Röll 1976, 72; dort ist andererseits s[er]ui nicht erkannt.
[47] Dronke 1968, 416.
[48] Kornrumpf 1989, Sp. 453.
[49] Dronke 1968, 415; dass der deutsche Text nicht als Lied alleinstehen könne, leuchtet mir nicht ein.
[50] Bernt 1983, 840 f.; vgl. auch » B. SL Kontrafaktur.
[1] Dante Alighieri betont in De vulgari eloquentia (ca. 1305), dass die Kanzone als Gedicht allein wertvoll sei, ob sie nun mit Melodie vorgetragen werde oder nicht. Er versichert, kein Instrumentalist könne seine Melodie eine Kanzone, d. h. ein Lied, nennen, außer wenn sie einem Gedicht „vermählt“ sei (nupta est). (Alighieri 1946, 94 f.) Vgl. auch Strohm 2011, 380.
[2] Eustache Deschamps (1392) bezeugt den mündlichen, aber textlosen Vortrag einer Melodie (Haug 2004, 63). Zu textloser Niederschrift vgl. auch » B. SL Kontrafaktur.
[3] Hier sei “Lied” im engeren Sinn verstanden, z. B. im 14. Jahrhundert als lyrischer Gesang mit Refrain, im Gegensatz zu refrainlosem und eher didaktischem „Spruchsang“ oder „Meistersang“ (vgl. Brunner/Hartmann 2010) und unstrophigen Formen wie Leich und Sequenz. Zu Rufen und Leisen vgl. » B. Geistliches Lied.
[4] Manche Gattungs- und Repertoiregrenzen sind freilich erst von der modernen Forschung gezogen worden, wie z. B. zwischen „Lied“ und „Chanson“: vgl. Kirnbauer 2011.
[5] Neue Ansätze bietet Lewon 2016.
[8] Zur eigenständigen Mehrstimmigkeit vgl. Welker 1984/1985, Welker 1990.
[9] Schwindt 2004 stellt die Abhängigkeit der deutschen Liederdichter von der westeuropäischen Kultur der formes fixes dar.
[10] Vgl. auch [Lewon, Marc:] Musikleben-Supplement: News and by-products from the research project “Musical Life of the late Middle Ages in the Austrian Region (1340–1520)”, URL: http://musikleben.wordpress.com/ [02.05.2016]. Der Nachweis, seit wann sich diese Niederschriften in Österreich befanden und ob sie hier musikalisch verwendet wurden, ist oft schwierig.
[13] Grundlegend Bärnthaler 1983, mit Tabelle der Übersetzungen auf S. 309–312. Ich ordne G 19, Maidleich pluem, eher den Kontrafakten zu.
[15] Wachinger 1989, Anhang III, 159–197, Lieder in Tönen des Mönchs von Salzburg. Zu Einzelheiten vgl. auch März 1999, Kommentare S. 367–505.
[16] Tabellen bei Bärnthaler 1983, 312 ff.
[17] Wachinger 1989, Anhang II, 145–158, behandelt zwei späte Übertragungen der Sequenz Ave praeclara im Kontext der Mönch-Rezeption.
[18] Bärnthaler 1983, 266–274. Zu diesen Übersetzungen und ihrer Quellenüberlieferung vgl. auch Straub 1996/1997.
[19] Bärnthaler 1983, 272. Gegensätzliche Auffassungen von der sprachlichen Rolle des Übersetzens aus dem Lateinischen im Wien des 15. Jahrhunderts beschreibt Bärnthaler auf S. 26 ff.
[20] Janota 1968, 84–90.
[21] Die Zuschreibung der zweiten Übersetzung an Oswald geht aus dem Inhaltsverzeichnis von D-Mbs Cgm 715, fol. 3r , hervor: “Ein ander mundi renovacio des Wolckenstainer“ (» Abb. Register geistlicher Lieder).
[22] Wachinger 1979, 358–361.
[23] Noten und Text für G 28 und Kl 129 nach D-Mbs Cgm 1115, fol. 31r–32v, sowie Waechter/Spechtler 2004, 137 f. (für Latein und G 28); Laufenbergs Text nach Wackernagel 1867, 437.
[24] Göllner 1993, 127.
[25] Röll 1976; Kornrumpf 1979. Röll 1976, 121–141, erläutert den Begriff „Barantton“ oder „parat-rey“ (d. h. „Parat“-Tanzweise) als einen Kunstausdruck des frühen Meistersangs, der wahrscheinlich mit den Begriffen „Kunststück“ und „Fertigkeit“ zusammenhängt.
[26] Vgl. die grundlegende Studie: Brunner 2013.
[27] Edition zusammen mit den anderen Vertretern dieses Tons in Brunner/Hartmann 2010, 307–311.
[28] Zitiert nach Wachinger 1989, 120.
[29] Spechtler 1972, Lied G 9. Edition beider Gedichte mit derselben Melodie: Waechter/Spechtler 2004, 75–78. Das Lied ist nicht in den sogenannten Corpushandschriften des Mönchs von Salzburg erhalten; zu diesen vgl. Wachinger 1989, 77–117.
[30] Wachinger 1989, 128, ordnet in der Tat O Maria pya den “Meisterliedern” des Mönchs zu.
[31] Röll 1976; Kornrumpf 1979, 19.
[32] Jedes der beiden Lieder hat drei Strophen, von denen hier nur die erste mitgeteilt ist. Edition der vollständigen Texte bei Röll 1976, 30–35 bzw. 55 f.
[33] Vorhanden in der Oswald-Handschrift A (ca. 1425); in Handschrift B (ca. 1432) in Melodie und Rhythmus umgearbeitet. Edition beider Fassungen in Schönmetzler 1979, 115 f., 309 f., 357. Beschreibung in Röll 1976, 87–101.
[35] Kornrumpf 1979, 16 ff. Textedition von Digna laude, gaude in Dreves 1886, 59 f. (Nr. 18). Es stellt sich die Frage, warum nicht auch das Marienlied O Maria pya des Mönchs als „Cantio“ bezeichnet werden sollte, wenn nach Kornrumpf Digna laude, gaude so zu bezeichnen ist (» A. Weihnachtsgesänge zu frühesten Anwendungen des Gattungsnamens).
[36] Edition mehrerer Varianten in Brunner/Hartmann 2010, 307–311.
[37] Röll 1976, 63–85, mit wertvollen Analysen. Die Verallgemeinerung, dass „deutsche Nachbildungen lateinischer Lieder wohl die Regel sind und das Umgekehrte die Ausnahme darstellt“ (S. 64), ist freilich überzogen.
[38] Röll 1976, 63–69, wo die Sterzinger Handschrift noch als verschollen gilt. Zu den bei Laufenberg überlieferten Texten siehe Wackernagel 1867, 566 f.
[39] Brunner/Hartmann 2010, 307–311.
[40] Die hier angebotenen Übersetzungsversuche respektieren den genauen Wortlaut der Sterzinger Handschrift; emendiert wurde nur morem redit, cedit ros zu morem cedit, redit ros. Andere Übersetzungsversuche beruhen auf emendierten Textfassungen unter Heranziehung mehrerer Quellen.
[41] Der Terzschritt g–h–g darf schon wegen seiner Entsprechung zu c–e-–c nicht zur kleinen Terz g–b–g vermindert werden; freilich ist an wenigen anderen Stellen fa (b) denkbar.
[42] Die Sonderstellung der Sterzinger Melodiefassung wurde in der früheren Literatur kaum beachtet, da keine zuverlässigen Transkriptionen zur Verfügung standen.
[43] Eine moderne Übertragung mit längeren und kürzeren Notenwerten, allerdings z. T. an den falschen Stellen und melodisch unrichtig, versuchen Moser/Müller-Blattau 1968, 276 f.
[44] In der Handschrift kommen die hohlen Formen insgesamt nur in vier Liedern vor. Zur Erklärung vgl. auch Röll 1976, 166 mit Anm., doch sollte zwischen der allgemeinen „weißen Notation“, die sich in der Region erst gegen 1435 durchsetzte und hier noch nicht wirklich vorliegt, und der zu Mensurzwecken ausgehöhlten Notenform deutlicher unterschieden werden.
[45] Die von böhmischer Notation beeinflussten Sterzinger Schreiber verwenden Longa-Hälse insgesamt sehr selten, wohl aus entsprechenden Gründen. Ausnahmsweise kommen nach unten gezogene Longa-Hälse für verlängerte Schlussnoten vor.
[47] Dronke 1968, 416.
[48] Kornrumpf 1989, Sp. 453.
[49] Dronke 1968, 415; dass der deutsche Text nicht als Lied alleinstehen könne, leuchtet mir nicht ein.
[50] Bernt 1983, 840 f.; vgl. auch » B. SL Kontrafaktur.