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Das Lied im späten Mittelalter

Reinhard Strohm

In der schriftlichen Überlieferung des 13. bis 16. Jahrhunderts ist uns eine Fülle von Liedern zugänglich, die insgesamt erstaunlich viel über das Leben, Denken und Fühlen damaliger Menschen mitteilen. Diese Funktion der „Mitteilung des Lebens“ mag bedeuten, dass Lieder des Mittelalters ihrer Intention nach weitgehend das artikulierten, was uns heute an ihnen interessiert. In anderen damaligen musikalischen Repertoires, wie z. B. im traditionellen Kirchenchoral, ist es nicht so: Dass er uns etwas über das Leben seiner Autoren mitteilen sollte, war kein Hauptzweck seiner Entstehung. Eine zweite Funktion der Lieder, die sie nun allerdings mit dem Kirchenchoral gemeinsam hatten, war jedoch ihr „Kunstcharakter“: die Unterhaltungsfunktion geschliffener Form im weitesten Sinn, die nicht nur lyrische, sondern auch religiöse, didaktische, polemische und unanständige Aussagen angenehm zu transportieren half. Und diese „ästhetische“ Funktion, die durch das Mittel der Melodie und des Singens unterstützt wurde, ermöglichte besondere Bezugnahmen und „Traditionsbildungen“, die zwischen alten und neuen Liedern vermittelten.

Der Liedbegriff hat mehrere offene Ränder, so z. B. auf der Seite des kirchlichen Ritus, der mehr oder weniger liedförmige Gesangsarten kannte (z. B. Offiziumshymnen) oder auf der Seite der Literatur, in der viele poetische Texte melodielos vermittelt wurden, somit genau genommen nicht „Lieder“, sondern „Gedichte“ waren. Zwar galt im Mittelalter traditionsgemäß die Vorstellung, selbst schriftlich abgefasste Gedichte seien Lieder, die normalerweise durch Singen weitergetragen würden; doch in Wirklichkeit gab es längst die Praxis der reinen Leseliteratur, auch in poetischen Formen.[1] Wichtig ist, dass die Wahl der Ausführungsmöglichkeit des stummen Lesens, Murmelns, Sprechens, Rezitierens und Singens (solistisch wie chorisch) von Liedern weitgehend den Rezipienten überlassen blieb. Freilich kam es vor, dass ein Autor Worte und Töne von vornherein zu einer innigen, sozusagen lebenslangen Gemeinschaft zusammenschmiedete, so dass beim bloßen Sprechen oder stummen Lesen etwas verlorenging. Noten wurden jedoch seltener aufgeschrieben als Texte: Die Rezipienten konnten die Melodie von einem anderen Lied entlehnen oder ad hoc extemporieren. Andererseits hat man wohl seit dem 14. Jahrhundert Melodien auch textlos aufgezeichnet und mit beliebig gewählten Worten gesungen bzw. auf Instrumenten gespielt.[2] Und schließlich wurden viele Lieder vielleicht nie aufgeschrieben, weder als Worte noch als Melodie. Wir kennen somit das umfangreiche Liedmaterial der Epoche nicht nur als schriftlich festgelegte Wort-Ton-Kombinationen, sondern auch als bloße Wort- oder Musiktexte, und kein Zweifel besteht an der früheren Existenz von Liedern, deren Worte und Melodien beide verschollen sind.

Es gab verschiedene Formen von Traditionsbildung im Lied. Die Art und Weise, in der jüngere Lieder an ältere anknüpfen konnten, erscheint z. B. als „Übersetzung“, „Anklang“, „Ton“ oder „Kontrafaktur“. Zwischen diesen Formen waren die Übergänge oft fließend. Obwohl solche Traditionsbildungen in vielen Kulturen bekannt sind, waren die bestimmten Ausprägungen, die sie in unserem Bereich annahmen, weder allgemeingültig noch selbstverständlich.

[1] Dante Alighieri betont in De vulgari eloquentia (ca. 1305), dass die Kanzone als Gedicht allein wertvoll sei, ob sie nun mit Melodie vorgetragen werde oder nicht. Er versichert, kein Instrumentalist könne seine Melodie eine Kanzone, d. h. ein Lied, nennen, außer wenn sie einem Gedicht „vermählt“ sei (nupta est). (Alighieri 1946, 94 f.) Vgl. auch Strohm 2011, 380.

[2] Eustache Deschamps (1392) bezeugt den mündlichen, aber textlosen Vortrag einer Melodie (Haug 2004, 63). Zu textloser Niederschrift vgl. auch » B. SL Kontrafaktur.