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Umzüge, Wallfahrten, Geißlerlieder

Reinhard Strohm

Eine musikalische Praxis, die naturgemäß Liedersingen und Bewegung verband, waren im 15. Jahrhundert die verschiedenen Formen des Ansingens und der später so genannten Kurrende, d. h. die Umzüge der Schüler zu Festzeiten mit dem Singen beliebter Lieder und „conducten“ (» D. Fürsten und Diplomaten auf Reisen, » E. Bozen, » H. “Kurrende”). Es wurde auswendig gesungen und das Einüben der Lieder erfolgte in der Schule oder Kantorei unter der Zuhilfenahme von Kantionalien. Mit Sicherheit gehörten zu den Repertoires dieser jugendlichen Sänger die beliebtesten Cantionen, Hymnen und Sequenzen – wie zu Weihnachten Dies est letitie, In dulci jubilo, Resonet in laudibus, Novus annus hodie, Puer natus in Bethlehem, zu Ostern Christus surrexit/ Christ ist erstanden und Salve festa dies, zum Fronleichnamsfest Lauda Sion salvatorem und Ave vivens hostia. Auffallend oft sind diese Lieder in mehrstimmigen Vertonungen aus der Region Österreich erhalten. Vgl. Hörbsp. Dies est letitie, Hörbsp.  Resonet in laudibus, Abb. Puer natus in Betlehem, Hörbsp. ♫ Novus annus hodie, Hörbsp. Christ ist erstanden, Hörbsp. Lauda Sion.

Wallfahrten nach entfernten Orten (» J. Formen der Laienfrömmigkeit) sollten von kirchlichen Veranstaltungen eigentlich scharf unterschieden werden, da sie aus persönlicher Initiative unternommen und nach individuellen Interessen gestaltet wurden.[43] Trotzdem liefen Wallfahrten oft sehr ähnlich ab, denn vor allem kürzere Wallfahrten nach populären Wallfahrtsorten wurden in Gruppen unternommen, oft in Begleitung von Priestern und Chorschülern. Ein typisches Wallfahrtslied bzw. Kreuzfahrerlied war die Leise In gottes namen faren wir (» Hörbsp. Gottes namen faren wir, Hofhaimer). Vielleicht wurde sie bisweilen während des gemeinsamen Wanderns gesungen. Die achtstimmige Motette Ave mundi spes maria/ Gottes namen faren wir in » I-TRbc 89 dürfte als musikalische Darstellung der Pilgerfahrt gedacht sein: Sie erweckt den Eindruck, die Pilger sängen ihre Leise alle gleichzeitig durcheinander (» J. SL In Gottes namen faren wir, » Hörbsp. ♫ Ave mundi spes Maria/Gottes namen faren wir). Es verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Lied und Praxis, dass Lieder manchmal für eine spezifische Wallfahrt bestimmt erscheinen: In gottes namen faren wir erwähnt das Heilige Grab von Jerusalem; das Pilgerlied Wer daz Ellend bauen will zur Wallfahrt nach Santiago de Compostela ist im „Jakobston“ verfasst.[44]

Die Geißler und italienischen Disciplinati, die im 14. Jahrhundert, besonders in den Pestjahren 1348–1349, Italien und Zentraleuropa einschließlich des österreichischen Raums mit ihren Bußprozessionen und Wallfahrten durchzogen, sprachen die Bevölkerung durch das Singen geistlicher Lieder an. Der Musiktheoretiker und Schulmeister Hugo Spechtshart von Reutlingen (1285–1360) zeichnete die Lieder auf und verfasste eine Beschreibung ihres Vortrags.[45] Mehrere Lieder sind nach strikt rituellen Ordnungen bestimmten Situationen zugewiesen, z. B. wurden sie beim Einziehen in einen bestimmten Ort und wieder bei dessen Verlassen vorgetragen. Es gab Lieder, die beim Niederknien und während der Selbstgeißelung gesungen werden mussten. Der von Spechtshart notierte „Einzugsleis“ Nu ist diu betfart so here, Crist reit selber gen Jerusalem begründet die Bußfahrt mit dem Hinweis auf das Geschehen des Palmsonntags und zitiert im Refrain die Zeile „Nu bitten wir den hailigen gaist“.[46] Maria muoter rainu mait ist eine Leise mit „Alleluia“-Rufen an den Strophenenden.[47] Nu tret herzuo wer buessen welle, mit seinem drastisch drohenden Text, fungierte vielerorts als Einladung des Volkes zur Teilnahme an den Selbstgeißelungen (» Notenbsp. Nu tret herzuo, » Hörbsp. ♫ Nu tret herzuo).[48] Spechtshart merkt an, er habe diese „cancio“ im August 1349 aufgeschrieben – was einer der frühesten Belege für den Gattungsnamen ist. 

Die Verbindungen der Geißlerlieder zum kirchlichen Ritus sind offenkundig, obwohl kaum eines von ihnen in die kirchlichen Bücher aufgenommen wurde. Maria stuont in großen nötten, do si ir libes kint sach tötten, das zum Niederknien gesungen wurde, beginnt wie eine Übersetzung der Sequenz Stabat mater dolorosa.[49] Eine andere Version davon, Maria stunt in swinden smerczen, war weiter verbreitet. Aspekte des Liedrepertoires und des Rituals der Geißler bezeugen den Einfluss der italienischen Disciplinati, von dem sie sich in Einzelheiten auch wieder entfernten. Es bleibt unsicher, inwiefern hier tatsächlich „geistliche Volkslieder“ vorliegen, wie Arthur Hübner 1931 vorschlug. [50]

[43] Janota 1968, 220–237; » J. Formen der Laienfrömmigkeit.

[44] Janota 1968, 237–244, mit Verweisen auf Hübner 1931.

[45] Runge 1900Hübner 1931; Kritische Edition der Lieder in Lütolf 2003–2010, Bd. 5.

[46] Hübner 1931, 174–186 (Lied II) und Faksimile.

[47] Hübner 1931, 187–193 (Lied III) und Faksimile (nur Anfang).

[48] Hübner 1931, 106–108 (Lied I) und Faksimile.

[49] Hübner 1931, 108–109.

[50] Hübner 1931, 80–82 und passim.