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Prozession

Reinhard Strohm

Zur gesungenen Praxis gehörten immer die Prozessionen und andere körperlich bewegte Aktionen, die es im religiösen Leben in vielen Formen gab. Prozessionen innerhalb der Kirche, die von Mitgliedern des Klerus und der Schola ausgeführt wurden, waren Teil des offiziellen Ritus. Wenn in diesen Kontext neue Lieder eingeführt wurden, so wurden sie als Tropierungen zusammen mit ihren Trägertexten vorgetragen, wie z. B. der Prozessionstropus Alle dei filius innerhalb der Antiphon Cum rex glorie (vgl. Kap. Akklamation). Zwar darf man aus der handschriftlichen Verbreitung schließen, dass das Lied Alle dei filius auch bei anderen Gelegenheiten gesungen wurde, womöglich mit Laienbeteiligung. Doch die Lieder drängten nicht nur aus der Liturgie hinaus, sondern fast ebenso oft in sie hinein. Denn es entstanden auch neue Lieder für strikt liturgische Prozessionen, oder sie wurden zumindest dafür bestimmt, wenn Mitglieder des Klerus sie nun einmal kannten und singen wollten. Im Processionale des Augustiner-Chorherrenstifts St. Hippolytus in St. Pölten (» A-SP Hs. 13, ca. 1486), das auch liturgische Spiele überliefert, sind auf fol. 5v–13v zwölf „conductus“ (d. h. Cantionen) für den Weihnachtsfestzyklus zusammengestellt, die entsprechend den Rubriken in den verschiedenen Prozessionen gesungen werden sollten.[34] Einige dieser Stücke sind in vielen Quellen verbreitet, andere sind selten oder nur hier vorhanden (Unikate): [35]
Ecce novus annus est; Dies ista colitur; Praesens festum laudat clerum (Unikat); Mater summi Domini; Patrem parit filia; Ecce venit de Syon; Tribus signis deo dignis; Nos respectu gratiae; Gaude Sion jubila (Unikat); Verbum Patris humanatur; Stella nova radiat; Missus est Emmanuel fuso caeli rore (Unikat).
Die Texte sind strophisch, mit Refrain („R.“= repetenda). Die beiden Cantionen für die erste und zweite Vesper an Epiphanias, Tribus signis bzw. Nos respectu, betreffen die Reise und Ankunft der drei Könige. Nos respectu, dessen Text den Königen selbst in den Mund gelegt wird, könnte in einem Dreikönigsspiel gesungen worden sein.

 

Abb. Zwei Conductus für Epiphanias

Die Conductus Tribus signis „nach der ersten Vesper am Vorabend von Epiphanias“ und Nos respectu „nach der zweiten Vesper an Epiphanias“ im Processionale des Diözesanarchivs St. Pölten (A-SP), Hs. 13, fol. 9v–10r (St. Pölten, ca. 1486). Mit freundlicher Genehmigung des Archivars.

Prozessionen von Priestern und Schola wurden manchmal von Liedern und Rufen des Kirchenvolks begleitet, z. B. in der Ostermesse. Zum Prozessionshymnus Salve festa dies gab es angeblich schon im 12. Jahrhundert die noch heute bekannte Übersetzung Also heilich ist der tag, deren Urform ein Ruf Heyl, heyl, osterdag gewesen sein soll.[36] Im Seckauer Liber ordinarius (» A-Gu Cod. 756, fol. 91r) lautet die Rubrik: „postea cantentur versus Salve festa dies populo respondente Also hailich ist dierre tach“ (danach sollen die Strophen Salve festa dies gesungen werden, wobei das Volk Also hailich… respondiert), und letzteres ist mit Neumen versehen. Die Handschrift » D-Mbs Cgm 715, fol. 3r, erklärt: „Zu Österlaicher czeit das frewden gesangk salve festa dies das wirt gesungen all suntag so man umb dy kirchen mit der prozes get“ (Zur Osterzeit der Freudengesang Salve festa dies, der jeden Sonntag gesungen wird, wenn man in Prozession um die Kirche geht) (» Abb. Register geistlicher Lieder). Also heilich ist der tag wurde schon früh mehrstimmig gesetzt und dabei öfters mit anderen Auferstehungsliedern verbunden, wie z. B. in der Motette Crucifixum in carne/ Cum rex glorie/ Also heylich, die in der Slowakei und im westdeutschen Raum aufgezeichnet wurde (ca. 1450),[37] oder in einer Motette des schlesischen Codex » PL-Wu Ms. 2016, fol. 35v–36v, wo es mit Christ ist erstanden kombiniert ist.[38]

 

Prozessionen, an denen auch das Kirchenvolk beteiligt war (» Abb. Kirchweihprozession), waren die allgemeine Palmsonntagsprozession, die Prozessionen am Festtag von St. Markus (25. 4.), an den Rogationstagen in der Woche vor Himmelfahrt und besonders das in der gesamten Region beliebteste zeremonielle Ereignis: die Fronleichnamsprozession. Auch bei solchen allgemeinen Umzügen unter freiem Himmel waren die Priester und kirchlichen Würdenträger führend; die organisierten Zünfte und weltlichen Amtsinhaber bildeten den hinteren Teil des Zuges (» E. SL Fronleichnamsprozession). „Das Volk“ zog offenbar in den Straßen mit. Gesungen wurde hauptsächlich an Stationen vor oder in bestimmten Kirchen und Kapellen auf dem Wege.

Bei der Palmsonntagsprozession war es üblich, dass die Chorschüler (pueri) das Kyrieleyson bzw. den Hymnus Gloria, laus et honor anstimmten, worauf die Laien einstimmten, auch mit deutschsprachigen Liedern oder Rufen.[39] Stadtspielleute könnten bisweilen mitgespielt haben (» Hörbsp. ♫ Gloria, laus et honor). Die Bittprozessionen an den Rogationstagen waren Gemeinschaftsaktionen des Klerus und der – strikt ständisch geordneten – Laienschaft.[40] Zu diesen und anderen „ad hoc“ veranstalteten Bitt- oder Bußprozessionen wurden von der Allgemeinheit Litaneien und davon abgeleitete Litaneilieder gesungen (angefangen von einfachen Wiederholungen des Kyrieleyson) oder aus anderen Zusammenhängen stammende Leisen, wie das in der Osterzeit immer beliebte Christ ist erstanden. Häufig belegte Litaneilieder sind das Pilgerlied In gottes namen faren wir, das Bittlied Gott der Vater wohn uns bei bzw. Sancta Maria steh uns bei[41] und das Responsorium Media vita in morte sumus (Enmitten in des lebens zeyt). Das Singen des Media vita war besonders bei Bußfahrten, bei der Markusprozession (litania maior) und in der Karwoche üblich. Die deutschen Übersetzungen Mittel unsres lebens zeit und Sancta Maria ste uns bey sind für die Diözese Salzburg in der Crailsheimer Schulordnung von 1480 belegt.[42]

[34] Vgl. Huglo 1999, 30–31 (Nr. A-38). Die betreffenden Folios waren früher als fol. 7v–15v nummeriert.

[35] Editionen in Dreves/Blume 1886–1922, Bd. 1 und 20.

[36] Janota 1968, 187–191.

[37] Strohm 1993, 337–338, mit Notenbeispiel.

[38] Janota 1968, 191–192, Anm. 894. Vgl. auch Lütolf 2003–2010, Nr. 217.

[39] Janota 1968, 152–153, mit Belegen u. a. aus dem Seckauer Liber ordinarius. Zur Wiener Palmsonntagsprozession siehe » E. Musik im Gottesdienst.

[40] Janota 1968, 220–237, umfasst alle Prozessionen und ihre Lieder, allerdings mit besonderem Gewicht auf den deutschsprachigen.

[41] Zur noch wenig erforschten Herkunft dieses Liedes vgl. Strohm 2012. Eine vierstimmige Motette Omnium rerum conditor/ Sancta Maria steh uns bei edierte Feldmann 1938, Anh., 21–27, nach PL-Wu Ms. 2016, fol. 153v–154r (um 1500).

[42] Zur Crailsheimer Schulordnung und ihrem (vermutlich Salzburger) Autor vgl. Janota 1968 und 1980. Zum Media vita vgl. u. a. Lipphardt 1973.