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Betrachtung und Gebet

Reinhard Strohm

Die Mehrzahl der überlieferten geistlichen Lieder der Epoche wurde ursprünglich nicht für den kirchlichen Ritus geschaffen, sondern diente Individuen und Gemeinschaften zu Zwecken der Andacht. Solche Lieder sind häufig ohne Melodien überliefert. Das kann bedeuten, dass sie zum individuellen Lesen bestimmt waren wie andere Literatur. Es kann aber auch bedeuten, dass sie vorgelesen werden sollten, etwa in einer privaten Andacht oder öffentlichen frommen Übung. Und zwischen dem Vorlesen (oder lauten Alleinlesen) und dem Singen gab es keine scharfe Grenze.

Geistliche Texte für den Privatgebrauch sind oft mit Autorzuschreibung überliefert (zu Liederdichtern vgl. » B. Traditionsbildungen des Liedes, » B. Minnesang und alte Meister, » B. Geistliche Lieder des Mönchs von Salzburg, » B. Oswalds Lieder). Einem häuslichen Zweck diente z. B. der „Tischsegen“ des Mönchs von Salzburg, auch genannt „das Benedicite“: Allmächt‘ger Gott, Herr Jhesus Krist. Dieses Tischgebet kann gesprochen oder gesungen werden; seine Melodie ist häufig mitüberliefert (» Hörbsp. ♫ Allmächt‘ger Gott).[60]

Der Wiener Augustinerchorherr Stephan von Landskron beschreibt in seiner Hymel strass (1465), wie der Hausvater an Sonntagen nach dem Essen mit seiner Hausfrau, seinen Kindern und seinem Hausgesinde zu einer Predigt ging und sie danach zu Hause abfragte, was sie von der Predigt gelernt hätten; dazu ließ er sich „ein trünckle bringen und ein guottes liedlin von gott, oder von unser lieben frawen, oder etwas von den lieben heiligen singen“.[61] Was hier so freundlich beschrieben wird, ist nichts anderes als die Auswanderung des Kirchenliedes in die private Devotion, die sich schon seit den Cantionen des vorigen Jahrhunderts angekündigt hatte. Zumindest in privilegierten Schichten kann damit auch eine „Auswanderung des Kirchenvolkes“ selbst stattgefunden haben, nämlich das Transferieren religiöser Praxis in die Wohnsphäre.

Das anonyme Lied Gegruesset seistu Maria in Egkenvelders Liedersammlung (A-Wn Cod. 3344; » B. Das Phänomen „Neidhart“, » Hörbsp. ♫ Gegruesset seistu Maria) ist eine der zahlreichen Paraphrasen des Ave Maria, wie sie aus Gebetsammlungen der Zeit bekannt sind. Typisch ist für diese Texte, dass sie sich entlang eines Schemas (z. B. anknüpfend an die Anfangsworte jedes einzelnen Verses des Ave Maria) strophisch entwickeln. Solche „Reimgebete“ (Dreves) konnten von Solisten vorgetragen und an ein Publikum gerichtet werden. Sie konnten aber auch wie die Texte des priesterlichen Breviers zum individuellen Gebrauch dienen, etwa zum Beten der einzelnen Tagzeiten. In einer von Walther Lipphardt beschriebenen Handschrift des Klosters Michaelbeuern (» A-MB Man. cart. 1, aus St. Peter in Salzburg, um 1500) finden sich „Andachtslieder“, die von den sieben Schmerzen Mariens, dem Leiden Mariens bei der Kreuzigung (Compassio Mariae, Marienklage), den sieben Freuden Mariens, den Tagzeiten der Passion Christi und den zehn Geboten handeln.[62] Auch sind mehrere kleine Zettel eingelegt, auf denen geistliche Lieder eingetragen sind, z. T. in Mensuralnotation. Da es sich um Andachts- und Gebetstexte handelt, könnten die eingelegten Zettel mit einer Praxis zusammenhängen, die im musikalischen Kontext erstmals von Ulrike Hascher-Burger beschrieben worden ist: Klosterinsassen hatten kleine Heftchen oder Zettel (Rapiarium) mit Gebetstexten bei sich, die sie zur individuellen Meditation verwendeten.[63]

Marienlieder und -gedichte waren unendlich beliebt. Das entsprach der kirchlich-institutionellen Pflege des Marienkults; doch hatte das Schaffen neuer Marienlieder auch außerkirchliche Motive, wie den ritterlichen Minnedienst oder die Aufwertung von Ehe und Familie bei der Stadtbevölkerung. Neue Marienlieder waren häufig Kontrafakte und Übersetzungen traditioneller Choralgesänge. Von bekannten Stücken wie der Antiphon Salve regina, dem „englischen Gruß“ (Ave Maria) und dem Hymnus Ave maris stella wurden in ganz Europa Übersetzungen und Paraphrasen abgeleitet.[64] Diese sind typischerweise Akklamationen und Gebete. Eine in der Region Österreich verbreitete Salve regina-Paraphrase, die mit der Melker Klosterreform (» A. Melker Reform) zusammenhängt, ist Frau, von Herzen wir dich grüßen (auch bekannt als O Maria, wir dich grüßen).[65] Das Lied, das die Melodie der Antiphon adaptiert, steht in der erwähnten Michaelbeurer Handschrift am Anfang der deutschen Lieder und Cantionen (fol. 70v). Ein ähnlicher Liedtext, abgeleitet von dem Hymnus Salve, regina gloriae, ist Begruesset seyst du, künigin in der Melker Musiksammlung » A-M Cod. 950, fol. 209v–210v.[66]

Eine besondere Geschichte hat das Lied Maria zart, von edler Art (um 1500): Es ist nicht von einem Choralgesang abgeleitet, sondern von weltlichen Vorbildern. Es ist ein strophisches, kunstvoll gereimtes Lied in der Manier der weltlichen „Hofweise“. Mit Sicherheit hatte es einen Textautor, der leider unbekannt ist, und auch einen Komponisten. Die früheste von mehreren Vertonungsfassungen ist einem Augsburger Musiker „Pfabenschwantz“ zugeschrieben (» Hörbsp. ♫ Maria zart). Zum ersten Mal scheint hier ein geistliches Lied erfunden worden zu sein, das von vornherein nicht als einstimmige Melodie, sondern als mehrstimmiger Satz existierte. Es hatte eine echte Doppelverwendung als Gebetstext und als kunstvolles musikalisches Vortragsstück. Die rasche Verbreitung des Liedes im süddeutsch-österreichischen Gebiet und den Niederlanden sowie sein Erfolg als Ablassgebet hat Birgit Lodes erforscht.[67] (Vgl. auch » J. Körper und Seele)

[60] Lütolf 2003–2010, Bd. 1, Nr. 17; Wachinger 1979.

[61] Janota 1968, 83–84, mit weiteren Details zum “Predigtlied”.

[62] Lipphardt 1984, 41 und Anm. 17. Zur Handschrift, einem Processionale aus Salzburg, St. Peter, mit überwiegend lateinischen Choralgesängen, vgl. auch Engels 2007, 259–268.

[63] Vgl. Hascher-Burger 2002, 111–124.

[64] Zu Salve regina-Stiftungen und -Vertonungen siehe » D. Kirche, Hof, Ritual und » E. Musik im Gottesdienst.

[65] Vgl. Angerer 1979Lipphardt 1984 (mit mehreren Versionen). Dies ist nicht das aus dem 13. Jahrhundert stammende „Melker Marienlied“.

[66] Vgl. Angerer 1979, 151–157; Lütolf 2003–2010, Bd. 1, Nr. 47.

[67] Vgl. Lodes 2001.