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Flagellanten oder Geißler

Ute Monika Schwob

Als Bruderschaften waren auch die Flagellanten organisiert, die seit etwa 1260 von Seuchen, ökonomischen Krisen und eschatologischen Ängsten getrieben, zunächst in Kommunen Mittel- und Oberitaliens, später auch in Mittel-, Ost- und Westeuropa rituelle Selbstgeißelungen in Kirchen und auf Prozessionen praktizierten. Von Geistlichen betreut, hatten sie Zulauf aus allen Bevölkerungsschichten. Mit ihrem jeweils dreiunddreißigeinhalb Tage dauernden blutigen Ritual sollte die Geißelung Christi vergegenwärtigt und damit ein Aufschub des nahenden Jüngsten Gerichts sowie die Abwendung drohender Gefahren, etwa von Hungersnöten oder Seuchen, erreicht werden. Ihre Umzüge waren von Gebeten und Gesang begleitet, zudem ließen sie einen vom Zorn Gottes berichtenden und zur Buße aufrufenden „Himmelsbrief“ verlesen. Die volkssprachigen Lieder der Geißler (Lauda, Leis, Rufzeile) sind zum Teil erhalten. Vgl. die Notenbeispiele Nu ist diu betfart und Nu tret herzuo:

 

Notenbsp. Nu ist diu betfart

Notenbsp. Nu ist diu betfart

Erstes Lied der Geißler in Hugo Spechtharts Bericht: „Wenn sie [die Geißler] an anderen Orten ankamen, sangen sie diese Gesänge“. Nach Runge 1900, S. 30.

Text: Diese Betfahrt ist so heilig, Christus selbst ritt nach Jerusalem. Er trug ein Kreuz in seiner Hand. Nun helfe uns der Heiland. Diese Betfahrt ist so gut; hilf uns, Herr, durch dein heiliges Blut, das du an dem Kreuz vergossen hast und uns vom Tod erlöset hast (und uns in der Fremde gelassen hast). [+weitere Strophen]

 

Notenbsp. Nu tret herzuo

Notenbsp. Nu tret herzuo

Viertes Lied (cancio) der Geißler in Hugo Spechtharts Bericht, verfasst im August 1349. Nach Runge 1900, S. 36.

Text: Nun trete herzu, wer büßen will, fliehen von der heißen Hölle. Luzifer ist ein böser Geselle. Wen er ergreift, den labt er mit Pech, so fliehen wir vor ihm, das ist unser Sinn.

(» Hörbsp. ♫ Nu tret herzuo)

 

Kritik am kirchlichen Monopol der Heilsvermittlung, etwa durch Ansprüche auf Laienpredigt und -beichte, nicht etwa ihre masochistisch anmutenden Praktiken, brachte sie in Häresieverdacht, was entsprechende Repressalien und Verbote zur Folge hatte. Die immer wieder aufflackernde Bewegung hatte auch in Tirol ihre Anhänger: Geißler sind in Bozen, Innichen und Sillian sowie in ladinisch bewohnten Gebieten, etwa Buchenstein und Cortina d’Ampezzo, als Bruderschaften bei Prozessionen nachweisbar.[26]

[26] Hochenegg 1984, 226–227.