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Pilgerreisen

Ute Monika Schwob

Es gibt keinen zwingenden Grund, die christliche Wallfahrt von der peregrinatio religiosa und der Pilgerfahrt zu unterscheiden; in der terminologischen Praxis hat es sich aber doch eingebürgert, Wallfahrt eher als regionales Phänomen zu sehen, während der peregrinatio oder Pilgerfahrt ein fernes Ziel zugeordnet wird. Das bedeutet, dass der mittelalterliche Pilger mehr Aufwand an Zeit und Geld, Anstrengung und Gefahr auf sich nehmen musste als der Wallfahrer. Eine Reise zu den großen europäischen Pilgerstätten und erst recht „übers Meer“ nach Palästina konnte nur antreten, wer von Haus aus mobil, gesund und wohlhabend genug dafür war. Dementsprechend begaben sich vornehmlich Fürsten und Adelige, Angehörige des höheren Klerus und der städtischen Oberschichten auf Pilgerreisen. Sie entschlossen sich meist individuell dazu, vereinigten sich aber doch zu kleineren Gruppen, schon der Sicherheit wegen. Die Eingebundenheit der Wallfahrt in liturgische Feiern zu Beginn, am Wallfahrtsziel und nach dem Abschluss kehrte in abgewandelter Form im förmlichen Ritual des Pilgersegens wieder: Der Pilger fand sich zur Erlangung der Erlaubnis und Segnung in seiner zuständigen Kirche ein und erhielt neben dem Reisesegen meistens auch Pilgerstab und -tasche – der Jerusalemfahrer „nahm das Kreuz“ wie ehemals die Kreuzfahrer – und nach seiner Rückkehr verrichtete er in seiner Heimatkirche ein Dankgebet. (Vgl. den Reisebericht des Dominikanerbruders Felix Faber in » J. SL Singen und Pilgern) Während der Reise begleiteten ihn weltliche wie kirchliche Schutzbestimmungen. Als Handzettel oder Broschüren verbreitete Pilgerführer empfahlen die besten Routen, etwa ein Liber Sancti Jacobi aus dem 12. Jahrhundert für die Reise nach Santiago de Compostela.[17]

Die Motive der Pilger entsprachen weitgehend denen der Wallfahrer, doch konnten Abenteuerlust, der Wunsch, ferne Länder zu sehen, und die Aussicht auf Prestigegewinn zusätzlich eine Rolle spielen. Nicht selten waren Pilgerreisen von Gerichten geforderte Bußfahrten, etwa für Totschlag. So wurde Michael, dem älteren Bruder Oswalds von Wolkenstein, 1430 von einem Sühnegericht eine Bußfahrt nach Rom auferlegt, weil er im Zweikampf einen adeligen Fehdegegner erschlagen hatte.[18] Im Übrigen lockte Rom mit den Gräbern der Apostel Petrus und Paulus und seit Beginn des 14. Jahrhunderts mit der Einführung von Jubelablässen und einer gut entwickelten Infrastruktur viele Besucher an, die nicht immer aus purer Frömmigkeit kamen. Oswald von Wolkenstein selbst hat Rom 1432 als Mitglied des Begleitschutzes für königliche Diplomaten kennengelernt, dabei aber nicht versäumt, Beicht- und Ablassbriefe zu erwerben.[19] Auch Köln mit seinen Reliquien der Heiligen Drei Könige und Aachen mit der Kultaktion des Schatzkammerschauens aus dem Reliquienfundus Karls d. Gr. hat der Wolkensteiner nicht direkt als Pilgerziele besucht, sondern im Rahmen seiner Reise zu den westfälischen Femgerichten sozusagen mitgenommen.[20] Ähnliches gilt für seinen Besuch beim Apostelgrab in Santiago de Compostela, den er seinen Liedangaben zufolge im Rahmen seiner großen Gesandtschaftsreise durch Westeuropa möglich machen konnte. War das Grab des Heiligen Jakobus am „Ende der Welt“ trotz der beachtlichen Infrastruktur entlang des Jakobsweges Inbegriff eines beschwerlich zu erreichenden Pilgerziels, so blieben Jerusalem und die heiligen Stätten in Palästina für spätmittelalterliche Pilger das Traumziel schlechthin. Nirgendwo sonst konnte nach verbreiteter Überzeugung die imitatio Christi intensiver gelebt werden. Dort dürfte Oswald von Wolkenstein bereits in den Jahren seiner militärischen Ausbildung oder der anschließenden Reisezeit gewesen sein. Jedenfalls präsentiert er sich sowohl in Liedern wie in einem Brief an den Kurfürsten Ludwig von der Pfalz aus dem Jahr 1426 als Kenner der logistischen Probleme und Sicherheitslücken, die sich während einer der im Frühjahr und Herbst von Venedig ausgehenden Jerusalemfahrten zu Schiff und auf dem Lande ergeben konnten.[21] Die Tatsache, dass der Wolkensteiner alle wichtigen Pilgerziele seiner Epoche gesehen haben will, mag verblüffen, ist aber für einen Adeligen des 15. Jahrhunderts nicht einmalig.

Adelige wurden auch mitgenommen, wenn Fürsten sich nach Palästina begaben: So wählte Herzog Friedrich V. von Österreich (1415–1493) für seine Heilig-Land-Reise 1436 rund 100 mögliche Begleiter aus, von denen etwa die Hälfte die päpstliche Erlaubnis erhielt. Unter ihnen befand sich Veit von Wolkenstein, ein Vetter Oswalds, der sich zeitlebens einer freundschaftlichen Beziehung zum späteren König (als solcher Friedrich III.) erfreuen konnte.[22] Auch Oswald selbst wurde wie erwähnt eingeladen, im Gefolge eines Fürsten, nämlich des Pfalzgrafen, eine Jerusalemfahrt über Venedig als Einschiffungshafen mitzumachen. Dabei spielten neben persönlicher Sympathie auch Oswalds Kenntnisse italienischer Dialekte und die Tatsache, dass er eigene Erfahrungen betreffend eine solche Reise einbringen konnte, sicher eine Rolle. Jedenfalls dienten Pilgerreisen auch dem Knüpfen und Wahren persönlicher Beziehungen.

[17] Ohler 1986, 282–298.

[18] Schwob 2007, 66–68.

[19] Schwob/Schwob 1999-2013, Nr. 233.

[20] Schwob 2009, 17–28.

[21] Schwob/Schwob 1999–2013, Nr. 163.

[22] Schwob/Schwob 1999–2013, Nr. 377.