Wandlungen der Sammlungskonzeption von Mus.ms. 3155
Wagenrieders Eingreifen in die Fortführung von Mus.ms. 3155 nach einer größeren zeitlichen Pause ging mit einigen konzeptionellen Änderungen einher, die nicht zuletzt neuere Tendenzen sichtbar machen. Erwähnt wurde, dass er sich auf Lieder Ludwig Senfls beschränkte; zur Norm wurde nun auch Autorzuschreibung in Form von Initialen oder auch mit voller Namensnennung bei jedem Lied, desgleichen die vollständige Textunterlegung der ersten Strophe in der Tenorstimme, beim Nonsense-Lied Ich hab mich redlich ghalten (S 154) sogar aller Stimmen. Dass alle Textteile in einer unprätentiösen, rein der Information dienenden Alltagsschrift eingetragen wurden, illustriert wiederum die neue Absicht: statt Herstellung einer Preziose die Sicherung von Noten- und Gedichttexten, die zusammen mit den früheren Einträgen als Referenz für die Nachnutzung dienen konnten: So stehen bei Nr. 3 und 5, Senfls Liedern Was all mein Tag (S 323) und Kein Ding auf Erd (S 192), die später hinzugefügten, mutmaßlich als Kopieranweisung zu verstehenden Hinweise „Dies lied“ und „Das l[—]e lied“. Für diese offensichtliche Depotfunktion wurde der verfügbare materielle Beschreibstoff eines Buches herangezogen, dessen Disposition eigentlich nicht mehr dem nunmehrigen Standard entsprach (siehe dazu unten zum Layout). Möglicherweise wurde das Ansinnen auch deswegen nach wenigen Einträgen verworfen.
Der Auflösungsprozess der ehrgeizig verfolgten ursprünglichen Liedsammlung macht sich spätestens ab dem 55. Lied (fol. 61r), Heinrich Isaacs erotischem Es wollt ein Meidlein waschen gan, bemerkbar, das keinen vollständigen Liedtext mehr bietet. Das war bereits beim obszönen Ein Meidlein an dem Laden stand (Nr. 46, hypothetisch Senfl zugeschrieben *S 73) der Fall, doch ab dem 55. Lied werden fehlende Texte, teils sogar fehlende Textmarken, zur Normalität: in 15 Fällen der 25 Lieder bis Nr. 79. Allerdings handelt es sich fast immer um frivole Inhalte oder gut bekannte volksläufige Lieder wie Es taget vor dem Walde (Nr. 56 und 78) oder Ich stund an einem Morgen (Nr. 63 und 64), deren Texterfassung nur noch oberflächlich verfolgt wurde. Die Anpassung an zeitgemäße kompositorische Entwicklungen hatte sich zuletzt auch in der Aufnahme von fünfstimmigen Sätzen niedergeschlagen (Nr. 66–68, 71, 77, 78; im Wagenrieder-Teil Nr. 80, 81 und 92), obwohl das eine Herausforderung für das Layout bedeutete, da nun fünf statt vier Stimmen auf einer Aufschlagsseite unterzubringen waren.
Neben der laxer gehandhabten Textbereitstellung zeigt sich auch eine gewisse inhaltliche Erosion der fortgeschrittenen Sammlung. Zwar wurde schon mit Nr. 27 (Senfls Zwen Gsellen gut, S 355) ein Schwank im schnellen Erzähl-Dreiermetrum[9] aufgenommen, doch bleibt dieses humorige Lied ein Einzelfall inmitten einer homogenen Zusammenstellung von Liedern mit ernsten Themen und vor allem Liebesliedern. Dass sich unter diesen die eine oder andere ironische bzw. zornige Auslassung eines frustrierten Liebenden findet, ändert nichts daran, dass die beherrschende Majorität der Texte die edle Liebe in der Tradition der höfischen Liebe thematisiert, sei es als Frauenpreis, als Werbung, als Liebesversicherung, als Treueversprechen, als Ausdruck von Abschiedsschmerz – ganz konform mit dem Themenspektrum der gedruckten Liederbücher der 1510er-Jahre.
Bei dieser Liedkultur, die im Umfeld Kaiser Maximilians eine besondere Pflege erfuhr, handelte es sich um einen entschieden höfischen Kontext, was zuweilen wortwörtlich in den Texten benannt wird (etwa in Nr. 51 Zart höchste mein zu Beginn der dritten Strophe: „Ich mag nit das ain annd pas zw hof soll sein“ – „Ich will nicht, dass ein anderer bei Hofe als besser gelten soll“). Insofern gehören gelegentliche Zeitklagen über das Hofleben zum integralen Konzept. Doch ab Nr. 49 (Senfls Poch[en] trutzen S 265) verdichten sich diese gesellschaftskritischen Inhalte und kulminieren in Nr. 53 (Senfls Wiewohl viel härter Orden sind, S 341), einer sich in elf Strophen entrollenden unerbittlichen Abrechnung mit hinterhältigen sozialen Praktiken unter solchen „personen […] die tag vnnd nacht der fürsten höf bewonen“ (Strophe 1) – wohlweislich aus der Perspektive derjenigen, die „von pluet edl geporn“ (Strophe 4) sind und als Adlige mit dem kontinuierlichen Aufstieg Bürgerlicher in hohe Hofämter zu kämpfen hatten. Der rabiate, „unedle“ Ton des Liedtextes findet sein Pendant in der musikalischen Wahl eines wiederum hastigen ternären Metrums, das von solchen Verhältnissen detailreich berichtet. Das Herzstück der politischen Lieder bildet das möglicherweise Senfl zuzuschreibende Allem Gwalt folgt füglich nach *S 18 (Nr. 54), eine sechsstrophige Mahnung an einen Herrscher vor Machtmissbrauch. Die eindringliche Aussage wird mit flankierenden lateinischen Zitaten antiker und pseudoklassischer Autoren im Sinne der zeitgenössischen Rhetoriklehre untermauert. (» Abb. Humanistische Sentenzen in D-Mbs Mus.ms. 3155.) Der Eintrag fällt mit seiner humanistisch inspirierten Ausstattung aus dem Rahmen und signalisiert eine thematische Botschaft der Sammlung, die nicht schlichtweg nur einer neutralen Werksammlung dienen sollte.
Der Wandel der Sujets hin zu vermehrt kritischen, trivialen, humorigen und dem Text wie der Hauptmelodie nach altbekannten Liedern, verbunden mit kompositorischen Nuancierungen wie der öfteren Aufnahme von tripeltaktigen und fünfstimmigen Sätzen zeigt einerseits eine konzeptionelle Absicht an und spiegelt andererseits allgemeine Tendenzen der fortschreitenden Liedgeschichte wider.
[9] Dabei hat das Metrum vor allem die Funktion, die beständige Abwechslung von langen/betonten und kurzen/unbetonten Textsilben abzubilden und so einen narrativen Duktus zu erzeugen (siehe Schwindt 2018 b, 54–57). Die Tradition geht auf den einstimmigen Solovortrag zurück, wobei die Tondauern im Vortrag flexibel und sprachnah modifiziert werden. Das Phänomen wurde von Marc Lewon beschrieben und mit dem Begriff „Referenzrhythmus“ erfasst (siehe u.a. Lewon 2016, 96–100).
[2] Für die Vermutung, die Handschrift sei in den Besitz des bayerischen Herzogs gekommen und habe dort vor der Makulierung bewahrt werden können (Hell 1987, 72f.), gibt es keine Belege.
[3] Hier und im Folgenden Nummerierung nach Gasch -Tröster - Lodes 2019; siehe auch www.senflonline.com. Nummern mit * sind „questionable“, d. h. sie sind Senfl von der Forschung teils mehr, teils weniger gut begründet zugeschrieben oder sind auch unter einem anderen Namen überliefert. Die den Ziffern vorgesetzten Buchstaben bezeichnen die Gattung (S = Song, P = Proper Setting).
[4] Argumente für Datierung und Anlass bei Lodes 2013, 192–196.
[5] Vgl. Schwindt 2018a, 11–14.
[6] Siehe Gasch 2012, Anhang 1, S. 429–439.
[7] Birkendorf 1994, Bd. 1, S. 46; Bd. 2, S. 116 (Abb. 78).
[8] Falls es sich bei Hand A im Augsburger Manuskript nicht ohnehin bereits um den jungen Wagenrieder handelt, zumal die Kennzeichen der Textschrift ebenfalls starke Ähnlichkeiten aufweisen (siehe D-As 2° Cod. 142a, fol. 8v, 9v, 15v, 17v, 23v, 29v, 30v, 35v und öfter).
[9] Dabei hat das Metrum vor allem die Funktion, die beständige Abwechslung von langen/betonten und kurzen/unbetonten Textsilben abzubilden und so einen narrativen Duktus zu erzeugen (siehe Schwindt 2018 b, 54–57). Die Tradition geht auf den einstimmigen Solovortrag zurück, wobei die Tondauern im Vortrag flexibel und sprachnah modifiziert werden. Das Phänomen wurde von Marc Lewon beschrieben und mit dem Begriff „Referenzrhythmus“ erfasst (siehe u.a. Lewon 2016, 96–100).
[10] Eine Ausnahme mit partieller Autornennung stellt das erste erhaltene Liederbuch Peter Schöffers d. J. aus dem Jahr 1513 dar (» [Lieder für 3-4 Stimmen], Mainz: Peter Schöffer d.J., 1513). Der Grund liegt in der offensichtlichen Intention des Drucks, die beiden Höfe Württemberg (Stuttgart) im ersten Teil und Kurpfalz (Heidelberg) im zweiten Teil mit der Nennung ihrer jeweiligen Liedverfasser musikalisch zu repräsentieren, was eine mediale Reaktion auf die Doppelhochzeit von Sibylle und Sabine von Bayern mit Kurfürst Ludwig bzw. Herzog Ulrich am 23. Februar und 2. März 1511 war (siehe Nicole Schwindt, „Die Macht der Gefühle zum Klingen gebracht – Frauenbilder und Liebeskonzepte im Liebeslied am Hof Herzog Ulrichs“, in: Frauen. Liebe Macht Kunst. Weibliche Lebensentwürfe an südwestdeutschen Höfen, hrsg. von den Staatlichen Schlössern und Gärten Baden-Württemberg, in Vorb. Nur in ganz vereinzelten Ausnahmefällen fügen Schweizer Liedquellen des frühen 16. Jahrhunderts Initialen als Autorzuschreibung bei.
[11] Hell 1987, 130f. hat die Initialen – in keiner Weise nachvollziehbar – als LSS gelesen und als Ludwig Senfl Schweizer aufgelöst.
[12] Ausführlich zu den Fassungen und der Chronologie der Liedfamilie.Schwindt 2010, 49–62, Partitur des Liedes auf S. 57.
[14] Im Schöffer-Liederbuch von 1517 (Detailangaben im Verzeichnis deutscher Musikfrühdrucke, siehe http://www.vdm16.sbg.ac.at, Nr. 16) gibt es neun Konkordanzen mit dem ersten Teil von Mus.ms. 3155: Nr. 8, 10, 11, 13, 22, 42, 45, 70 und 76.
[15] Moser 1929, 125. Das Lied wurde bereits in Öglins erstem Liederbuch von 1512 gedruckt (Nr. 12).
[16] Mit dieser Einschätzung des paläographischen Befunds, für die ich PD Dr. Andreas Zajic, Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien, zu Dank verpflichtet bin, erübrigen sich die verschiedenen im musikwissenschaftlichen Schrifttum unternommenen Versuche, die Textschrift mit Senfls Gebrauchsschrift zu identifizieren. Beispiele für die genannten Typen finden sich in: https://tinyurl.com/Schrifttypen.
[17] Nr. 48 Lieblich hab ich, fol. 51v, Alt, beim Übergang zur 2. Zeile irrtümlich C3- statt C2-Schlüssel, was dissonante Terzversetzungen produziert, auch der zur Kontrolle heranzuziehende Schlussklang wäre ein Terz- statt ein Quintklang. Nr. 9 Inbrünstiglich, fol. 12v–13r, endet mit einem unzeitgemäßen Dreiklang A-e-e‘, dessen Dezime c‘ im Alt in den Schlusston h geführt wird. Nr. 39 In rechter Lieb, fol. 42v, Diskant, 1. Zeile, neuntletzte Note fälschlicherweise punktierte Semibrevis (Punkt im Manuskript mit Bleistift eingekreist). Nr. 49, Ludwig Senfl, Poch[en] trutzen, fol. 52v, Bass, letzte Zeile, 18. Note von hinten irrtümlich Semibrevis G statt A vor der Pause, was in der Binnenkadenz eine None zum Tenor ergibt.
[18] Thermographie-Aufnahmen der Bayerischen Staatsbibliothek: https://www.wasserzeichen-online.de/wzis/struktur.php?ref=DE5580-Musms3155_76 und https://www.wasserzeichen-online.de/wzis/struktur.php?ref=DE5580-Musms3155_50. Ich danke Frau Dr. Veronika Giglberger sehr für ihr Entgegenkommen bei der Autopsie und ihre Hilfsbereitschaft bei der Bereitstellung von bibliotheksinternen Informationen.
[20] Siehe die Einbanddatenbank http://www.hist-einband.de/?ws=w002482; hier sind die Motive Flechtwerk und Wilder Mann erfasst. Die seit dem späten 15. Jahrhundert arbeitende Augsburger Werkstatt band vermutlich auch die Bücher des Orientalisten Johann Albrecht Widmannstetter, dessen Privatbibliothek 1558 vom bayerischen Herzog Albrecht V. erworben wurde. Im Zusammenhang mit dem Übergang von in Augsburg gebundenen Buchbeständen nach München steht vielleicht auch die Tatsache, dass sich in der Bayerischen Staatsbibliothek eine Musikalie befindet (4o Mus.pr. 182), die zwei Drucke des Jahres 1543 enthält und deren Einband das Motiv des Wilden Mannes aufweist. Hell 1987, 72, der auf diese Koinzidenz hinwies, vermerkt selbst, dass „Rollen in einer Buchbinderwerkstatt immer über einen längeren Zeitraum verwendet“ wurden.
[21] Siehe » D. Music for a Royal entry.
[22] Für eine Transkription und Prosaübersetzung sowie detaillierte Interpretation des Liedtextes siehe Schwindt 2018c, 239–243 und 548.
[23] von Moltke 1970, 39.
[24] Nr. 9, 15, 19, 21, 25, 43, 44, 48, 51, 52, 54, 56, 59, 62, 72, 79, 91, 96 und 97.
[25] Nr. 11, 13, 14, 45, 58, 74, 89 und 93.
Empfohlene Zitierweise:
Nicole Schwindt: „Senfls Vermächtnis: Das Liederbuch München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. 3155“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/senfls-vermaechtnis-das-liederbuch-muenc… (2021).